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Hoffnung ist.

Krisen, Kriege, Krankheiten, Katastrophen – es gibt so viele Gründe dafür, dass einem die Hoffnung abhanden kommen kann. Manchmal fühlt sich „hoffen“ wie ein Luxus an, den sich nur andere leisten können – oder wie eine naive Dummheit, die man selbst nicht begehen mag, weil man sich irgendwann mal schwören musste: „Nie wieder passiert mir dieser Fehler, etwas Gutes zu ersehen oder in Erwägung zu ziehen“.

Zu oft hat man erlebt, wie Hoffnung zerschlagen oder bestraft wurde; zu oft hat man den Schmerz des Verlustes und Alleingelassenseins gespürt, der umso heftiger zu werden scheint, je mehr man sich an das „vielleicht“ herangewagt hat.

Dennoch: Da ist eine Quelle im Innern, eine Strömung, ein Puls. Etwas, das niemals naiv, dumm oder fehlerhaft sein kann- weil es einfach nur „ist“.

Die Sehnsucht nach Liebe, Verbindung, Entfaltung, Lebendigkeit; das Streben nach Licht, Luft, Wärme, Nahrung – all das gehört zum Lebe-Wesen.

Wenn es keine Hoffnung mehr gibt, gibt es auch kein Leben – und andersherum.

Insofern ist Hoffnung eine lebenserhaltende Maßnahme und nie, niemals eine Dummheit. Manche Menschen behaupten etwas anderes und arbeiten an einer vollständigen Zerstörung – in sich selbst und/oder anderen.

Ich erlaube mir, zu entscheiden, mit wem ich mich verbinde – und wohin ich meinen Fokus richte.

Alles wieder gut?

©PaulaRabe

Wer erwartet eigentlich, dass nach schweren Tagen alles wieder “normal“ läuft?

Wer entscheidet über Schonung und Erholung oder Training und Funktionalität?

Wer hat wofür Verständnis – und wie viel Bedeutung hat das eigentlich?

Nichts “muss jetzt aber mal (wieder) gut sein“.

Es darf dauern.

Die Dinge aus dem Nichts

Donnerstag:

Ich entscheide, Mo* doch wieder das eine abgesetzte Medikament zu verabreichen, als ich sehe, dass sich ihr Auge von gestern auf heute leicht verfärbt hat. Unsere Katze hat schon länger ein Glaukom und ist erblindet. Die letzten Wochen ging es ihr gut und wir lassen seit ein paar Tagen ein Medikament weg, weil die Tierärztin bei der Kontrolle vor kurzem sagte, man könne das probieren, wenn Mo* längere Zeit stabil ist.

Ich streichle Mo* über den Kopf, als sie die Emulsion in Futter verpackt gefressen hat und hoffe, dass die Verfärbung bald wieder weg ist.

Freitag:

Als ich am Morgen ins Wohnzimmer komme, liegt Mo* mit zusammengekniffenen Augen in ihrer Kratzbaumhöhle. Sie will kein Frühstück, kein Kuscheln, keine Berührung oder Bewegung und macht Fauchgeräusche. Noch bevor ich sie genauer betrachte weiß ich, dass sie wieder einen „Glaukom-Anfall“ hat und unter heftigen Schmerzen leidet. Trotz konstanter und umfangreicher Medikation kann so etwas passieren, aus dem Nichts heraus. Ich weiß das- und fühle mich schuldig. Ich weiß, dass es nicht wirklich meine/unsere Schuld ist- und fühle mich weiter schuldig.

Ich beiße die Zähne zusammen. Wenn ich jetzt nicht aufpasse, verliere ich meine emotionale Kontrolle und das hilft weder Mo*, noch uns.

Den ganzen Tag lang bleibt Mo* in ihrer Höhle und ich weiß nicht, wohin ich meine Tränen noch wegschlucken soll. Ich merke, dass im Innern das Gift der „grundsätzlichen Schuldigkeit“ wirkt und lähmt und Einzelne bereits in ihren persönlichen Traumaschleifen stecken. Warum passiert so etwas ausgerechnet jetzt? Zu einer Zeit, die eh schon schwierig nicht ganz unkompliziert ist? Und warum nehme ich mir das Recht heraus, so egoistisch an mich/uns zu denken? Wer leidet denn hier, die Katze oder ich? Und warum leidet die Katze? Weil du ich das eine Medikament nicht weiter gegeben habe, obwohl ich es hätte besser wissen müssen…

Das war ein Fehler. Den du niemals, niemals machen darfst, weil es immer, immer dramatische Konsequenzen haben wird!

Samstag:

Mo* kommt aus ihrer Höhle heraus und frisst und trinkt (auch alle Medikamente, die sie braucht). Ihr Auge sieht so schlimm aus, wie wir es schon von „Anfällen“ aus der Vergangenheit kennen- aber ihre Schmerzen scheinen nachzulassen, weil die Chemie endlich wirkt.

Wir selbst fühlen jedoch keine Erleichterung: In der vergangenen, für uns fast schlaflosen Nacht liefen diverse innere Filme/Spuren ab, die zur Situation aus früherer und heutiger Sicht passen. Wir sind ziemlich gerädert und traumagetriggert bis in die Haarspitzen.

Aus dem Nichts hat es uns in Bereiche katapultiert, die wir schon lange nicht mehr so deutlich wahrnehmen konnten. Bereiche, in denen sich die Schuld austobt und unsere Existenz als verboten, unerwünscht, falsch und eliminierbar brandmarkt.

Es ist so viel Spannung in unserem Körper. Alles fühlt sich hart und krampfig an. Wir machen uns auf zum Laufen.

Draußen ist es surreal schön. Die Sonne scheint. Der Himmel ist krass blau und die Blätter sind unverschämt bunt. Auf dem Fluss tummeln sich diverse gut gelaunte Wildgänse und Schwäne und ich mache ein Foto zum Beweis, dass das Leben tatsächlich auch so stattfindet. Ich werde wütend über all das.

Durch die Kopfhörer schallt uns eine „Folky-Dance-Party“ ins Gehirn und als ich mir einen relativ leichtfüßigen Hüpfer über eine Pfütze erlaube, kracht hinter uns ein Baum um. Ein kompletter, großer, ausgewachsener Baum stürzt einfach so zwischen Gebüsch und anderen Bäumen auf den Weg und macht dabei ein Geräusch, das mich an ein Erdbeben erinnert. Ich bleibe stehen und mein Herz schlägt mir vor Schreck so heftig gegen den Hals, dass ich husten und hecheln muss.

Und dann… Dann taucht dieser eine Gedanke im Innern auf: „Wenn wir auch nur ein bisschen langsamer gelaufen wären, hätte uns dieser Baum vielleicht erschlagen.“

Aus dem Nichts meldet sich die Todesangst und legt sich über den inneren Bereich, der seit Tagen mit „Existenzschuld“ beschäftigt war.

Wir wollen und müssen nicht sterben. Ein eskaliertes Glaukom, eine alljährliche Krisenzeit, ein Leben neben dem Leid und Tod Anderer- all das gehört zum „Dasein“, genauso wie die strahlende Herbstsonne, die vergnügten Wildgänse und dieser kleine Pfützenhüpfer. Wenn wir nicht (mehr) sind, endet für uns alles das Leben- und geht doch noch weiter.

Der gefallene Baum liegt hinter uns wie ein Mahnmal. Der Schreck steckt uns bis zum Abend noch in den Gliedern. Beinahe… Es kann alles so schnell vorbei sein- und man kann nichts dagegen tun. Oder doch?

Sonntag:

Mo* kommt von oben die Treppe herunter und trägt im Maul ihr Spielzeugkuscheltier. Als sie es uns wie so oft vor die Füße spuckt und dafür gelobt werden will, schießen mir fast alle weggeschluckten Tränen der letzten Tage aus den Augen. Ach, Mo*, weißt du, wie schlimm es ist, Todesangst zu haben? Um andere, wie dich zum Beispiel. Und auch um sich selbst. Du stehst hier und schaust uns mit großen, blinden Augen an, siehst aus, als würdest du sagen wollen: „Was ist los? Warum heulst du? Ich bin doch noch da!“- und wir können es wieder mal nicht fassen, wie absolut gegensätzlich sich Leben manchmal anfühlen kann: Total schrecklich, schuldbeladen, ohnmächtig, zerstört, gefährlich und total wichtig, liebenswert, zauberhaft, schützenswert. Manchmal ist auch alles gleichzeitig da.

Am Abend basteln Innenkinder lächelnde Papier-Gespenster und ein Mobilee mit zwei Katzen, einer kleinen Hexe und einem Raben und hängen alles ans Wohnzimmerfenster. Die Nachbarskinder, die jedes Jahr am 31.10. ihre Süßigkeiten bei uns abholen, sollen sich freuen, wenn es an diesem Fenster schön aussieht. Freude kann ansteckend sein. Ein Gegenpol zur Hölle, die es eben auch gibt. Ein bisschen absurd fühlt sich das an. Aber es darf da sein. So wie wir.

Montag:

Es ist grau und ungemütlich draußen. Trotzdem laufen wir wieder in der Natur. Vorsichtshalber eine andere Strecke als am Sonntag, falls sich der Nachbarbaum des umgekippten Baumes entschließen sollte, ihm folgen zu wollen. „So viel Glück kann doch kein Mensch haben, direkt zwei Mal beinaheerschlagen zu werden“, sagt jemand innen. „Oder so viel Pech.“, entgegnet ein anderer. Wir gehen in jedem Fall woanders lang- auch wenn dort ebenfalls Bäume stehen.

An einem Feld geht plötzlich die Sonne auf. Und zwar in Form eines besonderen Kürbis. Man fühlt sich wie ein_e Schatzfinder*in und schleppt die Kürbissonne 5 Kilometer nach Hause. Dort wird sie gesäubert und schließlich draußen drapiert, neben dem Gefäß mit der Lichterkette.

Dienstag:

Es regnet und regnet. Mo* schläft ihren Erholungsschlaf in ihrer Höhle und in der Küche backt unsere Lebensgefährtin unseren Geburtstagskuchen. Neben der Haustür steht eine Schüssel mit Süßigkeiten für die Nachbarskinder bereit. Wir haben noch weitere Lichterketten aufgehängt und unsere Regenbogenwollsocken angezogen. Unsere „good mood“-Playlist läuft:

„Das Etwas, das ist und war und wird
Das unsterbliche Etwas, das jeden Tag stirbt
Das Etwas, das wächst und lernt und reift
Das Etwas, das etwas über etwas begreift
Jeden Tag unmerklich und leise
Begreift es seine eigene Reise“

(„Parantatatam“, Shaban & Käptn Peng)

Ich tippe diesen Text, weil ich glaube, dass er unterstützend für Andere sein kann, gerade weil er sehr persönlich ist.

Aus dem Nichts ist wieder etwas geworden.

Über (Lebens-) Tage und sinnlose Schuldspiralen

Es macht keinen Sinn, sich stellvertretend für die Täter*innen selbst fertig zu machen. Sich selbst „lebenslänglich schuldig“ zu sprechen. Im Leid gefangen zu bleiben, weil andere leiden. Die „Opferschaft“ weiter zu (er)tragen und sich ein anderes, freieres, selbstbestimmteres Leben zu verbieten. Wem dient das? Was ändert das an dem, was war oder (noch) ist?

Es ist täterfreundlich und täterunterstützend, weil man so selbst das Gift, welches Täter*innen (früher) injiziert haben, immer weiter in sich verteilt und dafür sorgt, dass es wirkt. Die Gewalt geht weiter, wenn man sie weiter aufrecht erhält- auch wenn die Täter*innen im Außen schon längst „woanders unterwegs sind“.

Es macht keinen Sinn, ein eigenes Leben zu vermeiden oder es sich zu verbieten, weil andere Menschen im „Hier und Heute“ immer noch von Tätern*innen gequält werden. Das Leid reduziert sich so nicht, sondern es vermehrt sich.

Sich zu verstecken, zu kasteien, zu blockieren, zu beschränken, zu verurteilen, hilft anderen aktuellen Opfern nicht. Es beendet die Gewalt im Außen nicht, sondern verfestigt sie im Innern- und belebt sie immer und immer wieder.

Wenn man zur Mittäter*innenschaft erzogen/trainiert wurde; wenn sich aktive Gewaltausübung aus langjähriger, passiver Gewalterduldung entwickelt hat, sind das „besondere Umstände“. Sie brauchen eine sachliche Reflektion, ein neues, erwachsenes Verstehen und gute, konstruktive Konsequenzen- wenn es darum gehen soll, Eigenverantwortung zu übernehmen. Sich als erwachsene*r Überlebende*r jeden Tag neu dafür zu entscheiden, eine Täter*innenschaft nicht fortzusetzen und sich auch innerlich von eingetrichterten, gewaltlegitimierenden Wertvorstellungen, Glaubenssätzen, Haltungen etc. zu distanzieren- das ist das, was man tun kann und tun sollte.

Welchem Opfer hilft es bei der Bewältigung der eigenen Gewalterfahrungen, wenn der/die Täter*in sich einfach nur im Selbstmitleid häuslich eingerichtet hat? Welchem Opfer nützt es, wenn der/die Täter*in sich selbst tötet? Was macht wirklich Sinn im Umgang mit einer langjährigen Gewaltgeschichte?

Wenn es darum geht, aus einem Schuldempfinden heraus etwas „(wieder) gut machen zu wollen“, etwas loslassen zu wollen, kann es hilfreich sein, die „besonderen Umstände“ zu hinterfragen und zu verstehen.

Es macht Sinn, zu reflektieren, welche inneren Täter*innenhaltungen man weiterhin verteidigt. Und es macht Sinn, sich ehrlich mit eigenen Gewaltimpulsen zu beschäftigen: Woher kommen sie, wann werden sie fühlbar, was liegt dahinter und wie kann man die Umsetzung verhindern? Sich an der lähmenden Schuld festzuklammern, lässt Scheuklappen entstehen und verunmöglicht einen weiten, freien Blick und Veränderung. Die Verursacher*innen der ganzen Problematik reiben sich diesbezüglich freudig die Hände. Sie müssen gar nichts mehr aktiv dafür tun, die Wirkung ihres Giftes zu gewährleisten. Das tut der/die Betroffene nämlich schon brav selbst.

Dass „rituelle Feiertage“ auch nach dem (äußeren) Ausstieg noch schlimm oder sogar lebensbedrohlich für Überlebende sein können, dass es zu Flashbacks, quälenden Gefühlszuständen, heftigen Krisen u.a. kommen kann, dass es Jahre dauert, sich daraus zu lösen-

das ist verständlich und „logisch“. Und gleichzeitig ist es nicht „zwangsläufig“- und muss auch nicht lebenslang so bleiben!

Täter*innen in organisierten, kriminellen Gruppierungen (mit und ohne rituellen Hintergrund) suggerieren Ausweglosigkeit: „Flucht ist nicht möglich /lebensgefährlich; Wir werden dich immer beobachten; Du kannst nicht ohne uns leben; Dein Gehirn gehört uns; Deine Schuld endet nie; Es wird niemals Sicherheit für dich geben; usw.“.

Für uns war und ist es ganz existenziell wichtig, herauszufinden, wann und wie wir diese suggerierte Ausweglosigkeit für uns selbst „reanimieren“ und verteidigen. Ein Aspekt darin war und ist die „Emanzipation“ in Sachen „Datumsverseuchung“:

Unser Leben gehört uns und somit auch jeder einzelne Tag darin. Wir entscheiden selbst, wie wir was gestalten oder ignorieren, welches Fest wir wann und wie feiern. Belastende Gefühle und Erinnerungen können kommen UND WIEDER GEHEN. Wir müssen nichts festhalten, nur weil wir die Angst vor Neuem (noch) nicht (er)tragen können. Schuldgefühle und -gedanken sind ein unfassbar starkes Bindemittel an eine Umgebung, die Zerstörung zelebriert und feiert. Wenn wir diese Bindung erhalten, kann nichts wachsen und (ver-)heilen. Wenn wir innerlich dort bleiben, sind wir noch Teil dieses Systems.

Derzeit gibt es Tage, die wir (und andere Betroffene) in unserer Biographie gewaltvoll erlebt haben, weil Täter*innen sie für sich und „special effects“ nutzten. Die meiste Zeit unseres bisherigen Lebens waren wir panisch, wenn es auf das sogenannte „Halloween“ und „Allerheiligen“ zuging. Weniger, weil die Daten kultisch, spirituell, esoterisch oder sonst wie durch bestimmte Personen unserer Täter*innengruppierung geprägt waren („ritualisiert veranstaltet“), sondern viel mehr, weil wir zu diesem Zeitpunkt geboren wurden-und im Laufe der Jahre an diesen Daten sehr schlimme Gewalt an uns und anderen Menschen (mit-)erleben und „unterstützen“ mussten. Verinnerlicht wurde in uns: „Weil es uns gibt, weil wir geboren wurden, gibt es diese Gewalt. Wären wir nicht, gäbe es sie nicht.“ Was für ein schrecklicher Trugschluss und was für eine unbeschreibliche Last für dieses Kind, das wir mal waren.

Und heute? Heute haben wir verstanden, dass nicht bestimmte Daten das Grauen sind, sondern die Täter*innen. Sie vereinnahmen Tage für ihre Zwecke, legitimieren ihr Tun, schaffen sich Ausreden, Begründungen, Sicherheiten, Ent-Schuldigungen- und zurück bleiben die Überlebenden mit ihrer (Über)Lebens(langen)Schuld, die sie sich nicht vergeben oder verzeihen können oder dürfen, weil. Punkt.

Heute darf es Freude, Erleichterung und Dankbarkeit geben, am Leben zu sein. Heute dürfen Geburtstagskuchen und Herzlichkeit sein, neben und zwischen den Tränen um Verlorene_s und Vermisste_s. Heute darf gefühlt werden, statt abgehärtet zu bleiben. Und ja: Das IST schlimm! Das ist manchmal unaushaltbar; manchmal ist all dieses Spüren viel schrecklicher und schwerer, als sich im Strudel der ewigen Schuldthematik permanent selbst niederzuknüppeln- aber/und. Es ist Leben. Es ist Bewegung. Das Andere ist Starre. Im Sterben verharren, wie im Spagat. Für wen/was ist das gut? Welchen Sinn hat das?

Wir denken an jene Kinder und Erwachsene, die immer wieder von organisierten Gruppierungen gequält werden. Wir denken an jene, die sterben werden und gestorben sind. Wir fühlen die schlimme Machtlosigkeit, Täter*innen nicht davon abhalten zu können. Wir sehen die vielen gesellschaftlichen und politischen Baustellen zu den Themen „(Opfer-)Schutz und -Versorgung“, „(juristische) Gerechtigkeit“ und „Prävention“. Dann werden wir traurig und wütend- und mit der Wut bleiben wir nicht allein und das ist gut!

Denn:

Wir schauen uns um. Auf unserem Weg. In unserem Umfeld. Wir sehen Bewegungen, gute Energien, Kraft und offene Herzen. Wir erkennen Fortschritt, Gemeinschaft, Solidarität, Entwicklungen- und der lähmende Einfluss der täter*innensuggerierten Ausweglosigkeit zerbröckelt immer weiter.

Ihr alle, die Ihr ums Weiterleben oder Überleben kämpft; die Ihr Euch derzeit am eigenen Schopf aus dem Abgrund ziehen müsst, weil´s sonst kein*e Andere*r für Euch tun kann oder will:

Haltet Euch (fest) zusammen.

Ihr seid wichtig in der Welt.

Ihr macht Sinn!

Leid(en) zulassen, ohne sich darin zu verlieren

Viele Gewaltüberlebende kennen die Angst, sich selbst und den Kontakt zum Hier und Jetzt zu verlieren, wenn sie erst mal in Kontakt mit Emotionen kommen. Und in der Tat ist es ein Risiko, das mitschwingt, sobald man sich tiefergehend mit dem inneren Erleben beschäftigt. Nähert man sich alten, traumatischen Minenfeldern, oder arbeitet man an der Auflösung dissoziativer Barrieren, ist das eine Gratwanderung: Es kann ein heilsames Loslassen in Gang kommen, man kann sich handlungsfähig erleben und feststellen, dass man aktiv etwas am/im eigenen Fühlen, Denken und Handeln „tun“ kann. Man kann aber auch in ein Trauma-(Wieder-)Erleben rutschen, sich vollkommen überflutet und ohnmächtig fühlen oder auch „alleingelassen von der ganzen Welt“.

Die Grenze zwischen diesen beiden Wahrnehmungsbereichen ist oftmals hauchdünn- und der Übergang zwischen „okay, Tränen steigen auf, damit komme ich klar“ und „ich bin so verzweifelt, dass ich sterben möchte“ kann innerhalb kürzester Zeit stattfinden. Ebenso das innere „Wegpacken“ der Verzweiflung, zurück zu „War was? Mir geht’s gut!“. Die Geschwindigkeit, mit der Gefühlszustände wechseln und sich „ein-„, bzw. „ausschalten“, kann sehr hoch sein.

Verschiedene Innenpersonen oder -anteile können mit verschiedenen Emotionen eng verknüpft sein. Damit meine ich nicht die schubladenhafte Einsortierung in „Alex ist der Ängstliche, Wanja ist die Wütende, Frieda ist die Fröhliche, etc.“ (denn zumindest bei Menschen mit Dissoziativer Identitätsstruktur sind die Persönlichkeiten nicht so eindimensional zu sehen, sondern vielschichtiger).

Ich meine damit die Nähe der Innenleute zu bestimmten Gefühlszuständen: Manche können „leichter“ Wut empfinden und schwieriger Trauer, oder andersherum. Manche schaffen es besser als andere, einzelne Aspekte eines Gefühls wegzupacken, fernzuhalten, zu „entdramatisieren“:

Zum Beispiel, indem sie beim Entstehen einer sehr niedergeschlagenen Stimmung im Innern (evtl. unklar, zu wem sie gehört und weshalb sie da ist) eine Distanz einnehmen oder die körperlichen Begleitsymptome „ertragen“ oder Suizidimpulse „kompensieren“.

Wanja wäre also in dem Blickwinkel nicht „die Wütende“, sondern eher „diejenige, für die der Umgang mit Wut typisch ist“.

Personenbezogene Verknüpfungen mit Emotionen können Flexibilität und Schwingungsfähigkeit im Gesamtsystem erschweren und so immer wieder alte, vermeidende, dekompensierende Mechanismen auslösen, bzw. verhärten.

Wenn wir uns damit beschäftigen, näher in Kontakt mit Emotionen zu kommen und sie auszudrücken, mit dem Vorhaben, Belastendes loszulassen und uns im Idealfall insgesamt „erleichtert(er)“ zu fühlen, dann sind uns folgende Aspekte dabei wichtig:

– klären, um wen und was es geht:

Wer will was? Fühlt sich ein*e Einzelne*r so oder geht es um mehrere? Fühlt jemand Bestimmtes „nichts“ und sucht Kontakt zu seinen eigenen Gefühlen, oder ist dieser „Leere-Zustand“ übergreifender? Gibt es überhaupt jetzt in diesem Moment ein Bewusstsein dafür, wer wer ist, wer „ich bin“? Ist das jetzt gerade egal oder muss das genauer (wofür?) geklärt werden? Ist schon so viel Chaos innen, dass es gerade nur ums „Aushalten“ geht?

– vorher ein bisschen „üben“:

Wenn wir schon in einen Hochstresszustand kommen, sobald die Tränen beim Anschauen eines berührenden Films laufen, dann scheint uns möglicherweise das Weinen bereits zu triggern. Wie können wir uns dem vorsichtiger nähern? In welchem Kontext fühlen sich Tränen ungefährlich und „normal“ an? Wo geht „ein bisschen traurig oder bewegt sein“, inklusive eines selbstfürsorglichen, sich selbst tröstenden Umgangs? Wer im Innen reagiert wie auf weinen? Ist es für alle erlaubt? Gibt es Grund (immer noch) zu glauben, es sei verboten? Ist es in irgendeiner Form „logisch“ und schlau, sich an so ein Verbot zu halten? Wie sieht es mit anderen Gefühlen in „handelsüblichen Dosierungen“ aus? Ist Wut im Alltag händelbar? Können Aggressionen und Grenzen verbalisiert werden?

– probieren, was hilft:

„Ein bisschen traurig oder wütend, ein kleiner Schmerz“- und dann? Was tun wir im Alltag, wenn jemand von uns betrübt ist? Wer tröstet wen wie? Wie beruhigen wir uns? Was erdet wen? Wann gehen wir in Bewegung mit Wut um, wann brauchen wir eher Rückzug, liegen, schlafen, sprechen? Wann gab es mal einen etwas größeren Schmerz, einen Verlust o.a., den wir rückblickend betrachtet „gut verarbeitet“ haben und an den wir heute zurückdenken können, ohne „abzurutschen“? Wie haben wir das gemacht?

Wenn wir uns im Kleinen recht klar, handlungsfähig und selbst-sicher fühlen, trauen wir uns evtl. auch härtere Kaliber zu.

– Spannungsregulation:

Ist die Amygdala in Fahrt, kann man nicht von sich erwarten, vernünftig, durchdacht und konstruktiv handeln zu können. Dann geht es um Kampf, Flucht oder Erstarrung. Das ist kein persönliches Versagen, sondern einfach vollkommen normale „Traumagehirnfunktionalität“.

Auch die Wahrnehmung von Gefühlen kann triggern und einen bewussten Umgang damit verunmöglichen. Insofern nützt es uns, wenn es Innenleute gibt, denen es leicht fällt, eine Meta-Ebene einzunehmen und zu halten, während andere sich mit Belastendem befassen. Beobachter*innen sind wertvoll, die es schaffen, die Spannung im Blick zu behalten und frühzeitig Mechanismen zur Regulation zu initiieren: In Bewegung kommen, Atmung beruhigen, Reorientierung, frische Luft schnappen, etwas trinken, Pause machen, individuelle Skills anwenden.

– Automatismen/Konditionierungen identifizieren:

Gefühlszustände/Emotionen können bei Menschen mit mind control-Erfahrung an Programmierungen gebunden sein: „Immer wenn du dich so und so fühlst / immer wenn du bei Innenperson XY dies und jenes wahrnimmst, reagierst du *täterdefiniert*“ Hier ist also besondere Vorsicht geboten. Und auch bei Menschen ohne Erfahrungen mit Bewusstseinskontrolle können verschiedene Anteile ihres Selbst zumindest „alarmiert“ auf Emotionen reagieren. Selbstverletzung kann eine Folge sein. Deshalb ist es gut, so viel Selbstwahrnehmung wie möglich zu etablieren.

– Langsamkeit zulassen und aushalten:

Das Motto „Augen zu und durch“ bewährt sich nicht immer. „Einmal voll rein in den Schmerz, die Verzweiflung, die Angst- und dann ist es gut!“- das ist ein Trugschluss. Gefühle verändern sich- man kann sich nicht ein für alle Mal durcharbeiten. Am Beispiel der Trauer erleben wir, dass sie eher wellenförmig ist, nicht linear. Mal schwappt sie in Form eines Tränenschwalls plötzlich hoch, will durchgeweint werden bis keine Flüssigkeit mehr kommt und ist dann ruhiger und friedlicher. Mal umgreift sie uns und hält uns ein paar Tage fest, in denen wir uns einigeln wollen, nicht viel sprechen mögen, Kopfschmerzen haben und ständig frieren. Und mal kriecht sie uns (oder jemandem) in die Kehle und will in einem Schrei nach draußen.

Wenn wir verstehen, dass Langsamkeit einen heilsamen Prozess „haltbarer“ macht, gelingt es uns besser, geduldig zu sein. Wenn etwas „schon so lange weh tut“, oder „der Körper einfach nicht wieder fit wird“, oder „man schon seit Wochen oder Monaten nicht aus dem Quark kommt“, oder „ständig wütend ist“, dann ist es ganz schön schwer, sich selbst zu sagen: „Es dauert so lange, wie es eben dauert.“ Ja, es ist schwer. Punkt.

– Traumaverabeitung braucht Gefühlswahrnehmung:

Sich erinnern heißt nicht (gleichzeitig) loslassen. Wenn wir wollen, dass Traumata uns nicht mehr (so sehr) in unserem heutigen Leben behindern, belasten, blockieren, dann ist es unserer Erfahrung nach nicht unbedingt nötig, diverse Gewaltdetails hochzuholen und immer wieder durchzukauen, sondern vor allem auf die emotionalen Aspekte dabei zu schauen. Fallen diese hinten weg oder werden sie immer wieder vermieden, verhindert das ein (befreiendes) Loslassen. Wofür ist das gut/sinnvoll?

Gestatten wir uns, dass das Alleingelassenfühlen wieder hochkommt? Die Erniedrigung? Die Verzweiflung? Das Entsetzen? Der Hass? Die Sehnsucht nach Hilfe? Und wenn davon etwas wieder ins Wahrnehmbare gelangt: Schaffen wir es, dabei präsent zu bleiben, oder ist uns der gewohnte Mechanismus der Dissoziation (noch) näher? Wollen wir wirklich, dass etwas Altes, Quälendes gehen kann, oder suchen wir noch etwas darin? Haben wir die Idee, dass es eine „Heilung“ geben kann oder muss, oder erkennen wir an, dass manches „zerstört“ bleibt und sich immer wieder schlimm anfühlen wird- weil es eben damals schlimm war und nicht „verheilen“ kann (und muss)?

Erlauben wir uns Erholung, Pause, Ruhe, schwächeln? Wie viel Zeit nehmen wir uns, emotionale Prozesse zu durchlaufen, in denen vielleicht Berufstätigkeit; Alltagsfunktionalität, Kommunikationsfähigkeit, Sozialleben, u.a. schwieriger oder unmöglich werden?

– den Körper nicht vergessen:

Manchmal ist der Körper der Erste oder auch der Einzige, der eine Verbindung zu Gefühlen herstellt und sie ausdrückt. Er ist also ein wichtiger Freund und (Früh-) Anzeiger. Zum Teil finden Emotionen ihren Weg ins Sicht- und Fühlbare nur über den Körper. Dann ist es zum Beispiel der ständige Schwindel, über den sich eine weit innen versteckte Angst zeigt, die anders aber gar nicht fühlbar ist. Diese körperliche Sprache konsequent wertzuschätzen, ist eine große Herausforderung mit großen Chancen.

Frühkindliche Traumata verankern sich auf der Körperebene, sie hinterlassen da ihren (emotionalen) Fingerabdruck- und können am ehesten auch über den Körper integriert werden, nicht (ausschließlich) über die bewusste Wortsprache. Es kann also sehr heilsam sein, sich mehr mit der Wahrnehmung des Körper zu beschäftigen und immer mal wieder für ein paar Minuten (oder länger) eine Reise durch ihn hindurch zu machen: Wie fühle ich mich jetzt? Wie fühle ich mich, wenn ich mich zur Seite drehe/aufstehe/mich hinsetze, o.a.? Tut etwas weh? Gibt es einen anderen Bewegungsimpuls? Wie verändert sich meine Spannung? Will ich damit aufhören?

Als wir so etwas zum ersten Mal ausprobierten, wechselte es zwischen schamhaftem Lachen, Ermüdung, Langeweile, Unruhe und Wut („Was für ein Scheiß!“) hin und her. Es braucht vielleicht ein bisschen Übung, bis man sich wirklich auf so eine Selbstwahrnehmung einlassen kann- und bis man es im Griff hat, davon auch wirklich zu profitieren und sich nicht immer wieder in die Dissoziation zu katapultieren („Das hier ist so dämlich/peinlich/überflüssig/nichtsnutzig, da erstarre ich lieber!“ 😉 ).

– die positiven Aspekte erleben:

Sich mit dem bewusst auseinanderzusetzen, was an Schmerz und Verletzung u.a. innen ist und lange weggedrückt war, hilft dabei, traumatische Prägungen neu zu überschreiben. Es trägt auch dazu bei, positive Empfindungen zu vertiefen und „im Gedächtnis zu halten“. Nicht nur Horror und Schrecken können durch das Innensystem fluten, auch Glück, Entspannung, Geborgenheit, Faszination u.a. können Raum greifen. In jede Richtung kann das etabliert werden: Je mehr Innenpersonen an so einer inneren Auseinandersetzung teilhaben, je „gemeinsamer“ etwas Schweres getragen, betrauert, be-wütet wird, desto tiefer setzen sich die neuen, verbindenden Trampelpfade im Gehirn.

Leid(en) zulassen

Ich glaube, der Moment, in dem man das Leid(en) zulässt, statt es verhindern, verstecken oder vermeiden zu wollen, ist bahnbrechend.

Immer wieder höre, lese, erfahre ich den äußeren und inneren Fokus auf „Genesung“ (unterschiedlich definiert): Traumafolgen mögen idealerweise aufgelöst (oder abgemildert) werden, der Mensch möge die erlebte Gewalt als Teil seiner Biographie anerkannt und integriert (verabschiedet?) haben. Überleben, weiterleben, trotzdem und mit allem leben. Hauptsache, es tut nicht mehr (so) weh.

Wir wissen und beschäftigen uns schon seit fast 25 Jahren von/mit unserem Vielesein und den zugrundeliegenden Traumata. Was uns immer wieder bei beruflich und privat Unterstützenden / Begleitenden und auch bei uns selbst begegnet (ist), ist die Scheu vor dem Leid. Die Angst vor dem „Unaushaltbaren“ oder vor heftigen Gefühlen.

Manchmal wirkt(e) es so, als würde die Abwesenheit von Schmerz, Trauer, Wut, Rachegelüsten, Entsetzen, Ekel, körperlichen Beschwerden usw. als Zeichen des Fortschritts, einer Heilung oder einer besonderen Stärke angesehen werden.

„Es hat mir damals nichts ausgemacht“ klingt vielleicht typisch dissoziativ und ungesund (denn die Gewalt/der Kontext war doch schlimm!). „Es macht mir heute nichts mehr aus“ soll hingegen quasi ein Schlachtruf der/des konstruktiven, wehrhaften und starken Überlebenden sein?? Daran stimmt etwas nicht!

Damit das Leiden nachlässt, muss es erst mal gespürt werden dürfen und seinen Ausdruck finden. Zurückgehaltenes, unterdrücktes, bekämpftes Leid macht nicht gesünder, sondern schwächt, zermürbt, zerfrisst.

Gewalt trifft und schädigt den Körper und die Psyche. Um sie ggf. jahrelang überleben zu können, dissoziiert der Mensch. Je länger, desto automatischer und tiefgreifender. Die Gewalt wird letztlich nicht ausgehalten, sondern vielmehr vom Bewusstsein weg-gehalten. Die Belastungen (zum Beispiel in Form von körperlichem und seelischem Schmerz, Verletzungen, Wunden, Isolation, Hilflosigkeit und Ohnmacht) sind vorhanden, finden aber als bewusst er- und gelebtes Leid keinen Raum. Es geht in erster Linie um „Anpassung an die Umstände“, um Kompensation, Unauffälligkeit.

Erwachsen zu werden in einem gewaltvollen Umfeld bedeutet, an verschiedenen inneren und äußeren Stellen verhärten zu müssen und Schutzschichten zu entwickeln. Die (emotionalen) Wunden werden quasi zugespachtelt, das brüchige Fundament und die „Identitätssäulen“ (notdürftig) fixiert. Irgendwie muss, soll, will und kann der Mensch „halten“.

Jene Orte am/im „Ich“, auf die die Gewalt getroffen ist, bleiben aber auch im Erwachsenenalter noch besonders sensible Bruchstellen. Ich denke nicht, dass es wertschätzend ist, Tapferkeitsorden zu verteilen, wenn sie vorbildlich unsichtbar oder unkompliziert sind.

Ein Trauma hinterlässt Eindrücke, und zwar auf überwältigende und massive Weise. Es ist logisch, dass an dieser Stelle ein Leid ensteht und bleibt (auch wenn man es nicht sieht). Wo soll es denn sonst hin? Und es ist unlogisch zu glauben, es würde sich über die Jahre von selbst in Luft auflösen („Zeit heilt alle Wunden“). Noch unlogischer ist es, davon auszugehen, dass vielzählige Traumata den Menschen besonders widerstandsfähig werden lassen- nach dem Motto: „Je öfter, desto dissoziativer, desto abgehärteter.“ (oder auch: “Die Gewalt hat mich stark gemacht.“)

Am Leben geblieben zu sein, ist kein Beweis für lebendig sein!

„Es“ darf weh tun. Es darf sein, dass du dich nicht mehr wieder einkriegst. Du darfst etwas „nicht können“. Du musst nicht mithalten, gleichziehen oder „immer besser werden“. Du darfst untröstlich sein. Dein Körper darf „schwächeln“ und zeigen, wo und wie die Gewalt ihm begegnet ist. Das Leid ist und war real und existent und bedeutsam!

Wenn dich jemand zu beruhigen, zu trösten, zu ermutigen versucht und du merkst, dass es dich nicht berührt, dir nicht hilft, dir unangenehm oder lästig ist, dann darfst du dich abwenden. Du hast das Recht, dich nicht unterstützen zu lassen und nicht die Pflicht, „dankbar für alles zu sein“. Du hast das Recht, deine Meinung und Haltung immer wieder zu verändern, Dich zu verändern.

Die Definition von „Heilung“ oder „Genesung“ gehört allein dir. Was andere Menschen unter einer „Verarbeitung“ verstehen, oder wie für sie eine „Überwindung des Erlebten“ aussieht, ist kein Maßstab, nach dem du dich richten musst.

Das Leben nach langjähriger Gewalt und mit deren Folgen ist nicht einfach in ein „Davor“ und „Danach“ einsortierbar. Ich glaube nicht, dass wir irgendwann „fertig“ sind und ich erlebe unseren Weg nicht als „geradeaus“. Unser Damals und unser Heute begegnen sich in/an Schlenkern, Umwegen, Kreuzungen, Haltepunkten.

Ich erwarte nicht, dass unsere gewaltgeprägten Lebensjahre irgendwann „keine Rolle mehr spielen“. Ich hoffe, wir erhalten uns unsere Berührbarkeit und Verletzlichkeit, unsere Tränen inklusive Rotz, unseren Zorn und unsere ureigene „Hässlichkeit“- denn all das hat gute Gründe, Berechtigung und Geschichte!

Wir haben den Kontakt mit diesen Bruchstellen über viele Jahre wachsen lassen und sie gehören genauso zu uns, wie unser Durchhaltevermögen, unsere Lebensverbundenheit, unser „Ganzgebliebenes“. Ohne die Bereitschaft, Leid wahrzunehmen und es zuzulassen, dass uns immer wieder „das Herz bricht“, wären wir zwar weiterhin am Leben, aber eben nicht lebendig.

Trauma und Erinnerungen

Im Umgang mit traumatischen Erinnerungen kann es unterschiedliche Impulse im Innern geben: Zum Beispiel die des Vermeidens und die des Erinnern-Wollens.

Einzelne Persönlichkeiten können auf ihre Weise zu beiden Impulsen beitragen. Vielleicht geht es um Schutz vor Überflutung, um Angst vor dem Schmerz, um Aufrechterhaltung einer Stabilität, um Festklammern am Abgrund.

Und vielleicht ist da gleichzeitig der Wunsch, etwas verstehen und begreifen zu wollen, etwas zu sortieren und zu klären, die gemeinsame Biographie genauer zu beleuchten.

Wie lassen sich die beiden Impulse unter einen Hut bringen? Gar nicht? Geht es eventuell nur darum, beide als existent anzuerkennen und nebeneinander stehenzulassen? Wie kann es weitergehen, wenn es im Innern so sehr schwankt zwischen Weg- und Hinschauen, Verschleiern und Auflösen? Sind diese Ambivalenzen vielleicht sogar sehr hilfreich, weil sie ein Pendeln ermöglichen zwischen Konfrontation und Beruhigung/Erholung?

Die Erinnerungen an Traumata können lange phobisch besetzt sein. Zerstückelte Fragmente, zerrissene Wahrnehmungen; nichts, was irgendwie in einen verstehbaren Kontext gebracht werden kann. Es erwischt dich von jetzt auf gleich, reißt dich mit, frisst dich und kotzt dich dann wieder aus. Ziemlich logisch, dass man solche Erinnerungsmomente vermeiden will.

Erinnerungen an Traumata können aber auch sehr wertvoll und heilsam sein. Dann, wenn sich die quälende Amnesie auflöst und sich im Innern verteilte Stückchen zusammensetzen. Wenn sich ein Rahmen um das Ganze bildet, die Vergangenheit zu einem Teil des „Ich´s“ wird und somit keine „Nebelzeit“ mehr bleiben muss.

Die Gefühle können oftmals der Knackpunkt sein. Da entscheidet sich häufig, ob etwas oder jemand wieder innerlich wegbricht, oder ob der Prozess weitergehen kann.

Darf der Schmerz von damals heute (noch mal oder erstmals) kommen und wahrgenommen werden? Dürfen Unterschiede erkannt werden zwischen gestern und heute? Dürfen die alten Gefühle sich jetzt verändern?

War früher eigentlich überhaupt jemals Schmerz da? Oder gab es nur den Moment des traumatischen Entsetzens und gleich darauf die rettende Dissoziation? Was wird heute gefühlt, wenn man sich an früher erinnert? Ist es okay, auf emotionale Spurensuche zu gehen und behutsam hinzufühlen, was sich im Innern regt?

Werden Gefühle innerlich bewertet? Ist etwas erlaubt oder verboten, falsch oder richtig, angemessen oder unangemessen, lächerlich, überflüssig, sinnlos, kindisch, übertrieben, o.a.? Wer äußert sich wie dazu? Tragen einzelne Persönlichkeiten „die volle Ladung“? Dürfen sie sich erleichtern (lassen)? Was ist, wenn Emotionen eine „gemeinsame Angelegenheit“ werden?

Wie geht man mit neu erinnerten Aspekten um? Was ist, wenn sich ein Rätsel lösen lässt? Gibt es Fragen, die besser (noch) nicht beantwortet werden sollten? Wer beeinflusst auf welche Weise das Timing?

Wie viel Erinnerungsnachweh darf im Alltag Platz haben? Ist Erschöpfung gestattet? Bekommt auch der Körper Unterstützung, wenn er sich auf seine Art erinnert?

Wie können Gefühle einen Weg nach außen finden? Sind Tränen okay? Wohin mit der Wut? Was ist, wenn Worte fehlen? Stockt es genau dort, wo es kein Ventil gibt? Unterbricht der Prozess an der Stelle, wo man (sich) wieder alleine mit all dem ist/fühlt?

Hindurchquälen. Die Zähne zusammenbeißen. Augen zu und durch. Tapfer sein. Lächeln. Aufrecht stehenbleiben. Weitergehen. Sich nichts anmerken lassen.“ Wo wird nach alten Überzeugungen und Konditionierungen gehandelt? Wird das als Selbstverletzung erkannt? Lohnt sich die ganze Traumakonfrontation (der Blick auf das, was war), wenn im Verlauf immer wieder alte Mechanismen greifen und man letztlich im Sumpf steckenbleibt? Ist das Ziel der Arbeit Erleichterung oder Verhärtung- oder was?

So viele Fragen.

So großartig, wenn man damit nicht alleine bleiben muss. Weder innerlich, noch äußerlich.

Strukturelle Dissoziation- oder: Wenn die Dissoziative Identitätsstruktur mystifiziert wird

“Akzeptanz und Anerkennung bedeutet auch “auf Augenhöhe miteinander sein“.

Uns Betroffene abzuwerten, uns auf unser “Leid“ oder unseren Hilfebedarf zu reduzieren, ist das Gegenteil davon.

Uns zu überhöhen oder zu mystifizieren, als “Heldinnen und Helden“ zu stilisieren, ist die andere Seite der Medaille und genauso jenseits von Augenhöhe.“

Dies habe ich unter anderem auf einem Fachtag zu komplexen Gewalterfahrungen in meinem Vortrag zum Leben mit Dissoziation gesagt.

Ich sehe, dass Diskriminierung immer wieder vor allem mit dem in Verbindung gebracht wird, was Menschen aufgrund ihres Soseins abwertet und ausgrenzt. Jene Aspekte, die deshalb überhöhen oder mystifzieren, werden als Diskriminierung oft gar nicht anerkannt. Beides sorgt aber für Exklusion. Zwei Seiten einer Medaille, die zur Sammlung “Strukturelle/Gesellschaftliche Dissoziation“ gehört.

Manchmal begegnen uns “Komplimente“, die wir nicht als solche empfinden (Ableismus): Zur Funktionalität, zum “kaum Auffallen“, zum “Schaffen und Können“, trotz allem; vielleicht sogar mit der “Erklärung“, die Gewalterfahrungen hätten uns (bzw. Betroffene generell) “stark gemacht“.

Gewalt zu überleben und (danach) weiterzuleben, so etwas wie Glück, Zufriedenheit und Unbeschwertheit spüren zu können – das wirkt vielleicht manchmal unvorstellbar, angesichts des Leids, das da auch (!) war oder ist. Und diese dissoziative Identitätsstruktur mag wie eine Überlebenskunst erscheinen, die man ja auch erst mal hinkriegen muss und überhaupt…

Wir sehen uns aber nicht in so einer “heldenhaften Survivor-Rolle“, sondern einfach als “einen Menschen, der Gewalt ausgesetzt war und sie überlebte, indem er trauma-typische psychologische und physiologische Mechanismen an den Tag legte“. Anerkennung ist weder für Funktionalität, noch für Stärke oder Tapferkeit angebracht, finden wir. Für die Entscheidung, die erlebte Gewalt nicht nach außen weiterzugeben, kein*e Täter*innen (mehr) zu sein, hingegen schon.

Eine dissoziative Identitätsstruktur zu entwickeln, ist in erster Linie ein Anpassungsmechanismus. Ja, auch kreativ und so- aber eben kein superspecial “Kunstgriff“, den nur besonders “Begabte“ können, sondern etwas, das logischerweise passiert, wenn man früh genug intensiv genug misshandelt wird. Und ja, auch dann, wenn man einer gezielten Bewusstseinskontrolle ausgesetzt war und in dem Zusammenhang eine DIS gezielt von Tätern und Täterinnen forciert wurde: Das, was im Gehirn passierte, war ein Anpassungsmechanismus, keine übermenschliche Cleverness oder “bewusste Entscheidung zur Lebensrettung“. Erst Recht war es kein “Meisterwerk der Täter*innenschaft“- sorry, aber Konditionierung (und nichts anderes ist mind control / Bewusstseinskontrolle / Gehirnwäsche, wie auch immer man es bezeichnen will) ist eine dermaßen simple “Wissenschaft“, wenn man die Basics kapiert hat. Die Ausführung kann in ihren Varianten durchaus von “sehr einfach/übersichtlich“ bis “ziemlich komplex“ gestaltet sein, genauso wie die Dissoziative Identitätsstruktur an sich- die Basis bleibt jedoch: Komplextrauma trifft auf Mensch und hinterlässt Spuren.

Mag sein, dass diese Formulierung irgendwie enttäuscht, ernüchtert oder manche verärgert- ich finde es aber ganz wichtig, auf diese Weise einer Mystifizierung (die den Täter*innen dient!) entgegen zu wirken.

Denn eine Dissoziative Identitätsstruktur als etwas zu bezeichnen oder anzusehen, das besonders exotisch, besonders kompliziert oder besonders schwer zu diagnostizieren, behandeln oder zu begleiten ist, schadet den Betroffenen massiv.

Eine DIS hat klare Diagnosekriterien und -standards. Die Therapie kann idealerweise traumatherapeutisch ausgelegt sein- muss sie meiner Ansicht nach aber nicht zwingend, denn: Was/Wer hilft, hilft halt. Der/Die Betroffene selbst kann und sollte entscheiden, was er/sie als unterstützend erlebt und welchen Weg er/sie gehen möchte. Wer oder was dabei begleitet und stärkt, ist individuell verschieden.

Wenn ein Mensch meint, bei ihm/ihr könnte eine DIS vorliegen und möchte das professionell untersuchen lassen, ist es nicht leicht, zeitnah einen fachlich kompetenten Diagnostikplatz zu finden. Kliniken mit psychotraumatologischem Fokus haben absurd hohe Wartezeiten (durchschnittlich 2-4 Jahre), ambulante Psychotherapeut*innen verweisen meistens an Psychiater*innen- die wiederum wenig Zeit und Raum haben und nicht selten zu Diagnostikzwecken die stationäre Aufnahme empfehlen. Wer schon mal etwas Zeit in einer (Akut-)Psychiatrie verbracht hat, kann sich vorstellen, wie (häufig) dort welche Diagnosen warum “verteilt“ werden.

“Mit DIS kenne ich mich nicht aus. Da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen.“- Das ist ein Satz, den viele Betroffene (oft) hören. Und ich denke, dass er auch (!) damit zu tun hat, wie und in welchem Ausmaß eine DIS mystifiziert wird. Als sei sie sozusagen der “worst case unter den psychischen Erkrankungen“, für den man doppelt und dreifach ausgebildet sein muss, bevor man überhaupt daran denken kann, Hilfe anzubieten. Und dann noch der “Gewalthintergrund“- auch hier findet so häufig “worst case“-Denken statt: DIS und organisierte und/oder rituelle Gewalt werden in Kausalität gesetzt, statt erst mal offen zu lassen, welche Art Komplextrauma der DIS zugrunde liegen könnte. Gewalterfahrungen haben eine große Bandbreite; es gibt viele Menschen, die eine DIS außerhalb (!) organisierter oder ritueller Strukturen entwickelten und die auch keine Konditionierungserfahrungen haben. Man holt sich also nicht zwangsläufig organisierte Gewalt ins Haus (in die Praxis), wenn man mit Menschen mit DIS arbeitet.

Nicht zu mystifizieren und nicht zu dramatisieren bedeutet, Ruhe zu bewahren. Gelassen zu bleiben.

Nicht „mitgefühlslos“ und nicht naiv oder verharmlosend!

Wenn man merkt und weiß, dass man keine Ahnung von Komplextrauma und dessen möglichen Folgen hat, sollte man auch nicht einfach mal “auf gut Glück herumprobieren“ und erst recht kein Diagnosebingo spielen. So können nämlich sowohl falsch-positive, als auch falsch-negative DIS-Diagnosen entstehen, die den Betroffenen in jeder Hinsicht schaden.

Es ist so wichtig, eine realistische Einschätzung zu eigenen Fähigkeiten und Grenzen zu haben, sowohl auf der fachlichen, als auch auf der persönlichen Ebene. Man kann fachlich top (ausgebildet) sein, menschlich/charakterlich aber völlig ungeeignet für die (Beziehungs-)Arbeit mit traumatisierten Menschen. Das zu reflektieren, anzuerkennen und dementsprechend konsequent zu sein, fällt sicher nicht leicht, hat aber etwas mit Verantwortungsbewusstsein zu tun.

Festzustellen, dass man zwar menschlich/charakterlich “passend“ wäre, aber fachlich noch nicht genügend weiß und kann, ist leichter zu handhaben: Lernen kann man an verschiedenen Stellen und Orten und es gibt tatsächlich viele wertvolle Angebote in dem Zusammenhang.

Sich als Therapeut*in oder Institution zu entscheiden, nicht mit Menschen mit DIS zu arbeiten, weil man keine Kapazitäten dafür hat, ist legitim. Es braucht häufig viel Zeit, es geht häufig auch um Langzeitbegleitungen, es gibt teilweise heftige Krisen, manchmal geht es auch um eine Ausstiegsbegleitung aus organisierten Strukturen- all das sind Aspekte, die den Kapazitätsfaktor betreffen können (aber nicht zwangsläufig müssen). DIS ist aber nicht immer “hoch komplex“, spooky, gruselig oder in Dauerkrise.

Die eigenen Möglichkeiten realistisch einzuschätzen, bevor man einem Menschen ein Hilfsangebot macht, ist nur fair.

Sich als Therapeut*in oder Institution zu entscheiden, Menschen mit DIS abzuweisen, weil man ein bestimmtes Bild zur Dissoziativen Identitätsstruktur entwickelt hat und nicht bereit ist, es zu überprüfen, ist ekelhaft bequem.

“Auf Augenhöhe sein“, tja. Das ist nichts, was einseitig nur die Betroffenen fordern können, ohne selbst etwas dafür tun zu müssen. Es bedeutet auch, sich der eigenen Angst zu stellen, sich “unbeliebt“ zu machen. Und es bedeutet, auf eigene, internalisierte Diskriminierung schauen zu müssen. Das kann ordentlich weh tun und ist eine echte Herausforderung an die Ehrlichkeit mit sich selbst.

Wie gehen wir nach außen? Was zeigen, präsentieren wir von uns? Wie möchten wir (an-)gesehen werden?

Was macht eine “Community“ aus und was verbindet uns darin (Das Leid? Das Überleben? Was sonst/noch?)?

Wo geben wir der Mystifizierung Futter und warum?

Wie gehen wir mit eigenen Unsicherheiten um und wo/wie suchen wir uns (Be-)Stärkung?

Was an der Augenhöhe macht uns Angst? Wo arbeiten wir evt. unbewusst dagegen an?

Wo/wie beschaffen wir uns Informationen?

Welche Vorbilder haben wir, wer/was dient als “Leitbild“ und was/wen lehnen wir (warum) ab?

Welche Haltung(en) haben wir selbst zur DIS?

Womit identifizieren wir uns, wenn wir identitätsunsicher sind?

Strukturelle Dissoziation findet nicht nur in den gewalttraumatisierten Menschen statt, sondern in der Gesellschaft, zu der wir alle gehören.

“Welches Bild von Opferschaft existiert in unseren Köpfen?

Welches Bild von Täter*innenschaft?

Was wird sozial belohnt und was sanktioniert?

Wie wollen wir eigentlich alle miteinander leben und was sind wir bereit, dafür zu tun, zu überdenken, zu verändern?“

Ausstieg und Todesangst

Organisierte und/oder rituelle Gewaltstrukturen (ver-)binden.

So schlimm zerstörerisch sie auch sind, so viele gute, lebenswichtige Gründe es auch gegen (!) sie gibt – gleichzeitig sind sie unvergleichlich “zuverlässig“ und “haltend“.

Ihre Regeln, Hierarchien, Gebote und Verbote sind klar und eindeutig; Verhandlungsspielräume sind meistens nicht vorhanden. Es hat Vorteile, wenn man die gruppeninterne Logik verstanden und verinnerlicht hat.

In all dem Schrecklichen kann es ein Zuhausegefühl geben, ein Gehaltensein und sogar eine Art Lebensversicherungsempfinden:

“So lange ich brav bin und bleibe, kann mir nichts passieren.“ – Außer der Gewalt, die man eh schon seit Jahrzehnten kennt und die quasi gar nicht zählt.

Sich dafür zu entscheiden, diese Gewaltstrukturen zu verlassen, zu flüchten, gruppeninterne Beziehungen zu beenden ist deshalb unvergleichlich schwer und unbeschreiblich mutig, weil man erst mal ins Nichts fällt. Irgendetwas in einem vollzieht einen Sprung ins Leere, weil es nötig ist und so wichtige Gründe dafür gibt – und dabei taucht unweigerlich die Todesangst auf. Jene, die zuvor in Gewaltsituationen vielleicht auch schon spürbar war, aber immer wieder dissoziiert wurde – und die jetzt, beim Sprung ins Leere, mit voller Wucht präsent sein kann.

Sich in “körperliche Sicherheit“ zu bringen und dafür alte, langjährige Verbindungen kappen zu müssen, ohne vergleichbaren Halt oder klare Strukturen zur Verfügung zu haben – das ist oft mit einem viel größeren Leidensdruck (=Todesangst) verbunden, als die Gewalt innerhalb der Gruppe weiter auszuhalten- selbst wenn diese Gewalt konkret lebensgefährdend sein kann.

Dieses Fallen ins Nichts, mit existenzieller Angst, quasi dem Gefühl, sich aufzulösen außerhalb der Gruppierung – und gleichzeitig dem Wissen, dass es nicht (mehr) anders geht, weil “Drinbleiben“ keine Option mehr ist… Das ist ein unbeschreibliches inneres Dilemma und an Anspannung, Druck und Stress kaum zu überbieten.

Beruflich und privat Unterstützende sollten das auf dem Zettel haben, wenn sie sich fragen, warum Betroffene sich mit der Entscheidung zum Ausstieg so schwer tun oder es immer wieder “Rückschläge“ gibt…

Im Kontakt mit anderen Menschen ist das Vielesein…

„… ganz nützlich. Wenn´s zu viel wird, wechseln wir uns ab. So denken doch manche Leute über DIS, oder? Ist ja auch Konfliktprävention, wenn Streit in der Luft liegt, kommt einfach jemand Unbeteiligtes und deeskaliert. Haha, wenn´s mal so einfach wäre! Und das Gegenüber wird nicht überfordert, solange wir einfach nur unter der Tarnkappe vor uns hin switchen. Ist das jetzt wunderbar plakativ formuliert?“

„… bereichernd. Man knüpft einzelne Verbindungen, das Gegenüber kann einen ganzen Freundeskreis geschenkt bekommen. Man kann viel Spaß zusammen haben und viel Berührendes erleben. Und man lernt Toleranz, Geduld, Herzöffnung, Mutigsein und sowas alles. Also, beide Seiten lernen das.“

„… für mich überhaupt kein Thema. Es spielt keine Rolle, weil es selten bemerkt wird. Wir regeln uns selbst und müssen nichts davon nach außen kommunizieren. Ich kann nur Kontakte aushalten, in denen die DIS nicht geoutet ist.“

„… eine Behinderung. Meistens kommt das Gegenüber auf Dauer nicht mit uns klar, oder nur mit einer Handvoll unkomplizierter, netter, sozialkompatibler Innenpersonen. Wir müssen uns immer verstecken, wenn wir Beziehungen halten wollen. Sobald man mehr von uns mitbekommt, gehen Kontakte kaputt. Ab einem bestimmten Punkt werden wir zu viel.“

„… nicht das Problem. Es ist die Gewalt im Hintergrund, die unser Gegenüber nicht realisieren und mit uns in Verbindung bringen kann oder will. Unsere Biographie ist die Bruchstelle in Kontakten.“

„… oft so ein Faszinationsding. Sobald das Thema auf den Tisch kommt, gibt´s nichts anderes mehr daneben. Dann sind wir nur noch die Vielen. Sonst nichts. Was soll das?“

„… unser persönlicher Pausenknopf.“

„… eine Erklärung dafür, warum manches so krass irritiert.“

„… unser verletzlichster, wundester Punkt.“

„… gut versteckt.“

„… das langweiligste Thema, was es im Gespräch geben kann.“

„… unsere unverzichtbare Rettung vor dem Overload.“

„… Ursache und Wirkung zugleich, was Auseinandersetzungen, Ängste, Dynamiken angeht.“

„… für mich oft mit der Frage verbunden, ob es so gut oder so schlecht miteinander läuft, obwohl oder gerade weil eine DIS vorliegt.“

„… eben nur ein Teil von etwas.“

„… ein Grund dafür, warum es so lange dauert, Vertrauen zu spüren und zu festigen und warum Bindung so fragil ist.“

„… häufig ein Punkt, an dem ich mich absolut unverstanden und ungesehen fühle.“

„… oft damit verbunden, dass ich mich vergessen fühle, weil andere Innenpersonen mehr im Außen aktiv und erkennbar sind als ich.“

„…“

Und wie ist das für Dich/Euch?