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Strukturelle Dissoziation- oder: Wenn die Dissoziative Identitätsstruktur mystifiziert wird

“Akzeptanz und Anerkennung bedeutet auch “auf Augenhöhe miteinander sein“.

Uns Betroffene abzuwerten, uns auf unser “Leid“ oder unseren Hilfebedarf zu reduzieren, ist das Gegenteil davon.

Uns zu überhöhen oder zu mystifizieren, als “Heldinnen und Helden“ zu stilisieren, ist die andere Seite der Medaille und genauso jenseits von Augenhöhe.“

Dies habe ich unter anderem auf einem Fachtag zu komplexen Gewalterfahrungen in meinem Vortrag zum Leben mit Dissoziation gesagt.

Ich sehe, dass Diskriminierung immer wieder vor allem mit dem in Verbindung gebracht wird, was Menschen aufgrund ihres Soseins abwertet und ausgrenzt. Jene Aspekte, die deshalb überhöhen oder mystifzieren, werden als Diskriminierung oft gar nicht anerkannt. Beides sorgt aber für Exklusion. Zwei Seiten einer Medaille, die zur Sammlung “Strukturelle/Gesellschaftliche Dissoziation“ gehört.

Manchmal begegnen uns “Komplimente“, die wir nicht als solche empfinden (Ableismus): Zur Funktionalität, zum “kaum Auffallen“, zum “Schaffen und Können“, trotz allem; vielleicht sogar mit der “Erklärung“, die Gewalterfahrungen hätten uns (bzw. Betroffene generell) “stark gemacht“.

Gewalt zu überleben und (danach) weiterzuleben, so etwas wie Glück, Zufriedenheit und Unbeschwertheit spüren zu können – das wirkt vielleicht manchmal unvorstellbar, angesichts des Leids, das da auch (!) war oder ist. Und diese dissoziative Identitätsstruktur mag wie eine Überlebenskunst erscheinen, die man ja auch erst mal hinkriegen muss und überhaupt…

Wir sehen uns aber nicht in so einer “heldenhaften Survivor-Rolle“, sondern einfach als “einen Menschen, der Gewalt ausgesetzt war und sie überlebte, indem er trauma-typische psychologische und physiologische Mechanismen an den Tag legte“. Anerkennung ist weder für Funktionalität, noch für Stärke oder Tapferkeit angebracht, finden wir. Für die Entscheidung, die erlebte Gewalt nicht nach außen weiterzugeben, kein*e Täter*innen (mehr) zu sein, hingegen schon.

Eine dissoziative Identitätsstruktur zu entwickeln, ist in erster Linie ein Anpassungsmechanismus. Ja, auch kreativ und so- aber eben kein superspecial “Kunstgriff“, den nur besonders “Begabte“ können, sondern etwas, das logischerweise passiert, wenn man früh genug intensiv genug misshandelt wird. Und ja, auch dann, wenn man einer gezielten Bewusstseinskontrolle ausgesetzt war und in dem Zusammenhang eine DIS gezielt von Tätern und Täterinnen forciert wurde: Das, was im Gehirn passierte, war ein Anpassungsmechanismus, keine übermenschliche Cleverness oder “bewusste Entscheidung zur Lebensrettung“. Erst Recht war es kein “Meisterwerk der Täter*innenschaft“- sorry, aber Konditionierung (und nichts anderes ist mind control / Bewusstseinskontrolle / Gehirnwäsche, wie auch immer man es bezeichnen will) ist eine dermaßen simple “Wissenschaft“, wenn man die Basics kapiert hat. Die Ausführung kann in ihren Varianten durchaus von “sehr einfach/übersichtlich“ bis “ziemlich komplex“ gestaltet sein, genauso wie die Dissoziative Identitätsstruktur an sich- die Basis bleibt jedoch: Komplextrauma trifft auf Mensch und hinterlässt Spuren.

Mag sein, dass diese Formulierung irgendwie enttäuscht, ernüchtert oder manche verärgert- ich finde es aber ganz wichtig, auf diese Weise einer Mystifizierung (die den Täter*innen dient!) entgegen zu wirken.

Denn eine Dissoziative Identitätsstruktur als etwas zu bezeichnen oder anzusehen, das besonders exotisch, besonders kompliziert oder besonders schwer zu diagnostizieren, behandeln oder zu begleiten ist, schadet den Betroffenen massiv.

Eine DIS hat klare Diagnosekriterien und -standards. Die Therapie kann idealerweise traumatherapeutisch ausgelegt sein- muss sie meiner Ansicht nach aber nicht zwingend, denn: Was/Wer hilft, hilft halt. Der/Die Betroffene selbst kann und sollte entscheiden, was er/sie als unterstützend erlebt und welchen Weg er/sie gehen möchte. Wer oder was dabei begleitet und stärkt, ist individuell verschieden.

Wenn ein Mensch meint, bei ihm/ihr könnte eine DIS vorliegen und möchte das professionell untersuchen lassen, ist es nicht leicht, zeitnah einen fachlich kompetenten Diagnostikplatz zu finden. Kliniken mit psychotraumatologischem Fokus haben absurd hohe Wartezeiten (durchschnittlich 2-4 Jahre), ambulante Psychotherapeut*innen verweisen meistens an Psychiater*innen- die wiederum wenig Zeit und Raum haben und nicht selten zu Diagnostikzwecken die stationäre Aufnahme empfehlen. Wer schon mal etwas Zeit in einer (Akut-)Psychiatrie verbracht hat, kann sich vorstellen, wie (häufig) dort welche Diagnosen warum “verteilt“ werden.

“Mit DIS kenne ich mich nicht aus. Da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen.“- Das ist ein Satz, den viele Betroffene (oft) hören. Und ich denke, dass er auch (!) damit zu tun hat, wie und in welchem Ausmaß eine DIS mystifiziert wird. Als sei sie sozusagen der “worst case unter den psychischen Erkrankungen“, für den man doppelt und dreifach ausgebildet sein muss, bevor man überhaupt daran denken kann, Hilfe anzubieten. Und dann noch der “Gewalthintergrund“- auch hier findet so häufig “worst case“-Denken statt: DIS und organisierte und/oder rituelle Gewalt werden in Kausalität gesetzt, statt erst mal offen zu lassen, welche Art Komplextrauma der DIS zugrunde liegen könnte. Gewalterfahrungen haben eine große Bandbreite; es gibt viele Menschen, die eine DIS außerhalb (!) organisierter oder ritueller Strukturen entwickelten und die auch keine Konditionierungserfahrungen haben. Man holt sich also nicht zwangsläufig organisierte Gewalt ins Haus (in die Praxis), wenn man mit Menschen mit DIS arbeitet.

Nicht zu mystifizieren und nicht zu dramatisieren bedeutet, Ruhe zu bewahren. Gelassen zu bleiben.

Nicht „mitgefühlslos“ und nicht naiv oder verharmlosend!

Wenn man merkt und weiß, dass man keine Ahnung von Komplextrauma und dessen möglichen Folgen hat, sollte man auch nicht einfach mal “auf gut Glück herumprobieren“ und erst recht kein Diagnosebingo spielen. So können nämlich sowohl falsch-positive, als auch falsch-negative DIS-Diagnosen entstehen, die den Betroffenen in jeder Hinsicht schaden.

Es ist so wichtig, eine realistische Einschätzung zu eigenen Fähigkeiten und Grenzen zu haben, sowohl auf der fachlichen, als auch auf der persönlichen Ebene. Man kann fachlich top (ausgebildet) sein, menschlich/charakterlich aber völlig ungeeignet für die (Beziehungs-)Arbeit mit traumatisierten Menschen. Das zu reflektieren, anzuerkennen und dementsprechend konsequent zu sein, fällt sicher nicht leicht, hat aber etwas mit Verantwortungsbewusstsein zu tun.

Festzustellen, dass man zwar menschlich/charakterlich “passend“ wäre, aber fachlich noch nicht genügend weiß und kann, ist leichter zu handhaben: Lernen kann man an verschiedenen Stellen und Orten und es gibt tatsächlich viele wertvolle Angebote in dem Zusammenhang.

Sich als Therapeut*in oder Institution zu entscheiden, nicht mit Menschen mit DIS zu arbeiten, weil man keine Kapazitäten dafür hat, ist legitim. Es braucht häufig viel Zeit, es geht häufig auch um Langzeitbegleitungen, es gibt teilweise heftige Krisen, manchmal geht es auch um eine Ausstiegsbegleitung aus organisierten Strukturen- all das sind Aspekte, die den Kapazitätsfaktor betreffen können (aber nicht zwangsläufig müssen). DIS ist aber nicht immer “hoch komplex“, spooky, gruselig oder in Dauerkrise.

Die eigenen Möglichkeiten realistisch einzuschätzen, bevor man einem Menschen ein Hilfsangebot macht, ist nur fair.

Sich als Therapeut*in oder Institution zu entscheiden, Menschen mit DIS abzuweisen, weil man ein bestimmtes Bild zur Dissoziativen Identitätsstruktur entwickelt hat und nicht bereit ist, es zu überprüfen, ist ekelhaft bequem.

“Auf Augenhöhe sein“, tja. Das ist nichts, was einseitig nur die Betroffenen fordern können, ohne selbst etwas dafür tun zu müssen. Es bedeutet auch, sich der eigenen Angst zu stellen, sich “unbeliebt“ zu machen. Und es bedeutet, auf eigene, internalisierte Diskriminierung schauen zu müssen. Das kann ordentlich weh tun und ist eine echte Herausforderung an die Ehrlichkeit mit sich selbst.

Wie gehen wir nach außen? Was zeigen, präsentieren wir von uns? Wie möchten wir (an-)gesehen werden?

Was macht eine “Community“ aus und was verbindet uns darin (Das Leid? Das Überleben? Was sonst/noch?)?

Wo geben wir der Mystifizierung Futter und warum?

Wie gehen wir mit eigenen Unsicherheiten um und wo/wie suchen wir uns (Be-)Stärkung?

Was an der Augenhöhe macht uns Angst? Wo arbeiten wir evt. unbewusst dagegen an?

Wo/wie beschaffen wir uns Informationen?

Welche Vorbilder haben wir, wer/was dient als “Leitbild“ und was/wen lehnen wir (warum) ab?

Welche Haltung(en) haben wir selbst zur DIS?

Womit identifizieren wir uns, wenn wir identitätsunsicher sind?

Strukturelle Dissoziation findet nicht nur in den gewalttraumatisierten Menschen statt, sondern in der Gesellschaft, zu der wir alle gehören.

“Welches Bild von Opferschaft existiert in unseren Köpfen?

Welches Bild von Täter*innenschaft?

Was wird sozial belohnt und was sanktioniert?

Wie wollen wir eigentlich alle miteinander leben und was sind wir bereit, dafür zu tun, zu überdenken, zu verändern?“

2 Kommentare

  1. Danke für das Mitteilen deiner Gedanken und Fragen dazu. Ich glaube, der allerwichtigste Faktor dabei ist, dass Menschen, die Gewalt in irgendeiner Form er/überlebt haben und Hilfe in Anspruch nehmen wollen/können, bewertet, beurteilt, be“gut“achtet werden, und dabei ist es sicher wichtig, unabdingbar, dass die Beziehungsebene zwischen Unterstützenden und Unterstützung Suchenden stimmt (Respekt im Fokus), aber diejenigen, die Sachbearbeiter der Finanzierenden (KK, Reha, Berufsgenossenschaften etc.) sind, geben knallhart vor, in welchem Kontext wir alle, Hifesuchende und HelferInnen, uns bewegen. Das ist die Basis für Alles und das ist leider sehr funktionsorientiert, kostenfokussiert und brutal. Deswegen war ich auch ein bisschen traurig, deine Gedanken dazu zu lesen, denn so wichtig und gut zu lesen sie sind, sie bedeuten in unserer Gesellschaft leider real wenig.

  2. Ich stimme Dir da zu: Funktionsorientiert, kostenfokussiert und brutal – so sind die Umstände für Helfende und Hilfesuchende. Meine Gedanken ändern daran im Großen nichts, aber im Kleinen sind sie (mir/uns) trotzdem wichtig und wollen mitgeteilt werden. Danke, dass Du sie liest und darauf reagierst.

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