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Die Dinge aus dem Nichts

Donnerstag:

Ich entscheide, Mo* doch wieder das eine abgesetzte Medikament zu verabreichen, als ich sehe, dass sich ihr Auge von gestern auf heute leicht verfärbt hat. Unsere Katze hat schon länger ein Glaukom und ist erblindet. Die letzten Wochen ging es ihr gut und wir lassen seit ein paar Tagen ein Medikament weg, weil die Tierärztin bei der Kontrolle vor kurzem sagte, man könne das probieren, wenn Mo* längere Zeit stabil ist.

Ich streichle Mo* über den Kopf, als sie die Emulsion in Futter verpackt gefressen hat und hoffe, dass die Verfärbung bald wieder weg ist.

Freitag:

Als ich am Morgen ins Wohnzimmer komme, liegt Mo* mit zusammengekniffenen Augen in ihrer Kratzbaumhöhle. Sie will kein Frühstück, kein Kuscheln, keine Berührung oder Bewegung und macht Fauchgeräusche. Noch bevor ich sie genauer betrachte weiß ich, dass sie wieder einen „Glaukom-Anfall“ hat und unter heftigen Schmerzen leidet. Trotz konstanter und umfangreicher Medikation kann so etwas passieren, aus dem Nichts heraus. Ich weiß das- und fühle mich schuldig. Ich weiß, dass es nicht wirklich meine/unsere Schuld ist- und fühle mich weiter schuldig.

Ich beiße die Zähne zusammen. Wenn ich jetzt nicht aufpasse, verliere ich meine emotionale Kontrolle und das hilft weder Mo*, noch uns.

Den ganzen Tag lang bleibt Mo* in ihrer Höhle und ich weiß nicht, wohin ich meine Tränen noch wegschlucken soll. Ich merke, dass im Innern das Gift der „grundsätzlichen Schuldigkeit“ wirkt und lähmt und Einzelne bereits in ihren persönlichen Traumaschleifen stecken. Warum passiert so etwas ausgerechnet jetzt? Zu einer Zeit, die eh schon schwierig nicht ganz unkompliziert ist? Und warum nehme ich mir das Recht heraus, so egoistisch an mich/uns zu denken? Wer leidet denn hier, die Katze oder ich? Und warum leidet die Katze? Weil du ich das eine Medikament nicht weiter gegeben habe, obwohl ich es hätte besser wissen müssen…

Das war ein Fehler. Den du niemals, niemals machen darfst, weil es immer, immer dramatische Konsequenzen haben wird!

Samstag:

Mo* kommt aus ihrer Höhle heraus und frisst und trinkt (auch alle Medikamente, die sie braucht). Ihr Auge sieht so schlimm aus, wie wir es schon von „Anfällen“ aus der Vergangenheit kennen- aber ihre Schmerzen scheinen nachzulassen, weil die Chemie endlich wirkt.

Wir selbst fühlen jedoch keine Erleichterung: In der vergangenen, für uns fast schlaflosen Nacht liefen diverse innere Filme/Spuren ab, die zur Situation aus früherer und heutiger Sicht passen. Wir sind ziemlich gerädert und traumagetriggert bis in die Haarspitzen.

Aus dem Nichts hat es uns in Bereiche katapultiert, die wir schon lange nicht mehr so deutlich wahrnehmen konnten. Bereiche, in denen sich die Schuld austobt und unsere Existenz als verboten, unerwünscht, falsch und eliminierbar brandmarkt.

Es ist so viel Spannung in unserem Körper. Alles fühlt sich hart und krampfig an. Wir machen uns auf zum Laufen.

Draußen ist es surreal schön. Die Sonne scheint. Der Himmel ist krass blau und die Blätter sind unverschämt bunt. Auf dem Fluss tummeln sich diverse gut gelaunte Wildgänse und Schwäne und ich mache ein Foto zum Beweis, dass das Leben tatsächlich auch so stattfindet. Ich werde wütend über all das.

Durch die Kopfhörer schallt uns eine „Folky-Dance-Party“ ins Gehirn und als ich mir einen relativ leichtfüßigen Hüpfer über eine Pfütze erlaube, kracht hinter uns ein Baum um. Ein kompletter, großer, ausgewachsener Baum stürzt einfach so zwischen Gebüsch und anderen Bäumen auf den Weg und macht dabei ein Geräusch, das mich an ein Erdbeben erinnert. Ich bleibe stehen und mein Herz schlägt mir vor Schreck so heftig gegen den Hals, dass ich husten und hecheln muss.

Und dann… Dann taucht dieser eine Gedanke im Innern auf: „Wenn wir auch nur ein bisschen langsamer gelaufen wären, hätte uns dieser Baum vielleicht erschlagen.“

Aus dem Nichts meldet sich die Todesangst und legt sich über den inneren Bereich, der seit Tagen mit „Existenzschuld“ beschäftigt war.

Wir wollen und müssen nicht sterben. Ein eskaliertes Glaukom, eine alljährliche Krisenzeit, ein Leben neben dem Leid und Tod Anderer- all das gehört zum „Dasein“, genauso wie die strahlende Herbstsonne, die vergnügten Wildgänse und dieser kleine Pfützenhüpfer. Wenn wir nicht (mehr) sind, endet für uns alles das Leben- und geht doch noch weiter.

Der gefallene Baum liegt hinter uns wie ein Mahnmal. Der Schreck steckt uns bis zum Abend noch in den Gliedern. Beinahe… Es kann alles so schnell vorbei sein- und man kann nichts dagegen tun. Oder doch?

Sonntag:

Mo* kommt von oben die Treppe herunter und trägt im Maul ihr Spielzeugkuscheltier. Als sie es uns wie so oft vor die Füße spuckt und dafür gelobt werden will, schießen mir fast alle weggeschluckten Tränen der letzten Tage aus den Augen. Ach, Mo*, weißt du, wie schlimm es ist, Todesangst zu haben? Um andere, wie dich zum Beispiel. Und auch um sich selbst. Du stehst hier und schaust uns mit großen, blinden Augen an, siehst aus, als würdest du sagen wollen: „Was ist los? Warum heulst du? Ich bin doch noch da!“- und wir können es wieder mal nicht fassen, wie absolut gegensätzlich sich Leben manchmal anfühlen kann: Total schrecklich, schuldbeladen, ohnmächtig, zerstört, gefährlich und total wichtig, liebenswert, zauberhaft, schützenswert. Manchmal ist auch alles gleichzeitig da.

Am Abend basteln Innenkinder lächelnde Papier-Gespenster und ein Mobilee mit zwei Katzen, einer kleinen Hexe und einem Raben und hängen alles ans Wohnzimmerfenster. Die Nachbarskinder, die jedes Jahr am 31.10. ihre Süßigkeiten bei uns abholen, sollen sich freuen, wenn es an diesem Fenster schön aussieht. Freude kann ansteckend sein. Ein Gegenpol zur Hölle, die es eben auch gibt. Ein bisschen absurd fühlt sich das an. Aber es darf da sein. So wie wir.

Montag:

Es ist grau und ungemütlich draußen. Trotzdem laufen wir wieder in der Natur. Vorsichtshalber eine andere Strecke als am Sonntag, falls sich der Nachbarbaum des umgekippten Baumes entschließen sollte, ihm folgen zu wollen. „So viel Glück kann doch kein Mensch haben, direkt zwei Mal beinaheerschlagen zu werden“, sagt jemand innen. „Oder so viel Pech.“, entgegnet ein anderer. Wir gehen in jedem Fall woanders lang- auch wenn dort ebenfalls Bäume stehen.

An einem Feld geht plötzlich die Sonne auf. Und zwar in Form eines besonderen Kürbis. Man fühlt sich wie ein_e Schatzfinder*in und schleppt die Kürbissonne 5 Kilometer nach Hause. Dort wird sie gesäubert und schließlich draußen drapiert, neben dem Gefäß mit der Lichterkette.

Dienstag:

Es regnet und regnet. Mo* schläft ihren Erholungsschlaf in ihrer Höhle und in der Küche backt unsere Lebensgefährtin unseren Geburtstagskuchen. Neben der Haustür steht eine Schüssel mit Süßigkeiten für die Nachbarskinder bereit. Wir haben noch weitere Lichterketten aufgehängt und unsere Regenbogenwollsocken angezogen. Unsere „good mood“-Playlist läuft:

„Das Etwas, das ist und war und wird
Das unsterbliche Etwas, das jeden Tag stirbt
Das Etwas, das wächst und lernt und reift
Das Etwas, das etwas über etwas begreift
Jeden Tag unmerklich und leise
Begreift es seine eigene Reise“

(„Parantatatam“, Shaban & Käptn Peng)

Ich tippe diesen Text, weil ich glaube, dass er unterstützend für Andere sein kann, gerade weil er sehr persönlich ist.

Aus dem Nichts ist wieder etwas geworden.

5 Kommentare

  1. Liebe Paula,

    uns sind beim lesen die Tränen gekommen – wir können das alles so gut verstehen und schicken euch ganz liebe und mitfühlende Grüße
    Wir wünschen euch einen schönen Geburtstag 🎁

    Sanne

  2. Happy Birthday Paula 🌸🌈
    ich wünsche Euch einen ganz schönen Tag.
    wie schön, dass es Mo* und hoffentlich auch Euch etwas besser geht, nach so viel plötzlichem Schrecken.

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