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Über (Lebens-) Tage und sinnlose Schuldspiralen

Es macht keinen Sinn, sich stellvertretend für die Täter*innen selbst fertig zu machen. Sich selbst „lebenslänglich schuldig“ zu sprechen. Im Leid gefangen zu bleiben, weil andere leiden. Die „Opferschaft“ weiter zu (er)tragen und sich ein anderes, freieres, selbstbestimmteres Leben zu verbieten. Wem dient das? Was ändert das an dem, was war oder (noch) ist?

Es ist täterfreundlich und täterunterstützend, weil man so selbst das Gift, welches Täter*innen (früher) injiziert haben, immer weiter in sich verteilt und dafür sorgt, dass es wirkt. Die Gewalt geht weiter, wenn man sie weiter aufrecht erhält- auch wenn die Täter*innen im Außen schon längst „woanders unterwegs sind“.

Es macht keinen Sinn, ein eigenes Leben zu vermeiden oder es sich zu verbieten, weil andere Menschen im „Hier und Heute“ immer noch von Tätern*innen gequält werden. Das Leid reduziert sich so nicht, sondern es vermehrt sich.

Sich zu verstecken, zu kasteien, zu blockieren, zu beschränken, zu verurteilen, hilft anderen aktuellen Opfern nicht. Es beendet die Gewalt im Außen nicht, sondern verfestigt sie im Innern- und belebt sie immer und immer wieder.

Wenn man zur Mittäter*innenschaft erzogen/trainiert wurde; wenn sich aktive Gewaltausübung aus langjähriger, passiver Gewalterduldung entwickelt hat, sind das „besondere Umstände“. Sie brauchen eine sachliche Reflektion, ein neues, erwachsenes Verstehen und gute, konstruktive Konsequenzen- wenn es darum gehen soll, Eigenverantwortung zu übernehmen. Sich als erwachsene*r Überlebende*r jeden Tag neu dafür zu entscheiden, eine Täter*innenschaft nicht fortzusetzen und sich auch innerlich von eingetrichterten, gewaltlegitimierenden Wertvorstellungen, Glaubenssätzen, Haltungen etc. zu distanzieren- das ist das, was man tun kann und tun sollte.

Welchem Opfer hilft es bei der Bewältigung der eigenen Gewalterfahrungen, wenn der/die Täter*in sich einfach nur im Selbstmitleid häuslich eingerichtet hat? Welchem Opfer nützt es, wenn der/die Täter*in sich selbst tötet? Was macht wirklich Sinn im Umgang mit einer langjährigen Gewaltgeschichte?

Wenn es darum geht, aus einem Schuldempfinden heraus etwas „(wieder) gut machen zu wollen“, etwas loslassen zu wollen, kann es hilfreich sein, die „besonderen Umstände“ zu hinterfragen und zu verstehen.

Es macht Sinn, zu reflektieren, welche inneren Täter*innenhaltungen man weiterhin verteidigt. Und es macht Sinn, sich ehrlich mit eigenen Gewaltimpulsen zu beschäftigen: Woher kommen sie, wann werden sie fühlbar, was liegt dahinter und wie kann man die Umsetzung verhindern? Sich an der lähmenden Schuld festzuklammern, lässt Scheuklappen entstehen und verunmöglicht einen weiten, freien Blick und Veränderung. Die Verursacher*innen der ganzen Problematik reiben sich diesbezüglich freudig die Hände. Sie müssen gar nichts mehr aktiv dafür tun, die Wirkung ihres Giftes zu gewährleisten. Das tut der/die Betroffene nämlich schon brav selbst.

Dass „rituelle Feiertage“ auch nach dem (äußeren) Ausstieg noch schlimm oder sogar lebensbedrohlich für Überlebende sein können, dass es zu Flashbacks, quälenden Gefühlszuständen, heftigen Krisen u.a. kommen kann, dass es Jahre dauert, sich daraus zu lösen-

das ist verständlich und „logisch“. Und gleichzeitig ist es nicht „zwangsläufig“- und muss auch nicht lebenslang so bleiben!

Täter*innen in organisierten, kriminellen Gruppierungen (mit und ohne rituellen Hintergrund) suggerieren Ausweglosigkeit: „Flucht ist nicht möglich /lebensgefährlich; Wir werden dich immer beobachten; Du kannst nicht ohne uns leben; Dein Gehirn gehört uns; Deine Schuld endet nie; Es wird niemals Sicherheit für dich geben; usw.“.

Für uns war und ist es ganz existenziell wichtig, herauszufinden, wann und wie wir diese suggerierte Ausweglosigkeit für uns selbst „reanimieren“ und verteidigen. Ein Aspekt darin war und ist die „Emanzipation“ in Sachen „Datumsverseuchung“:

Unser Leben gehört uns und somit auch jeder einzelne Tag darin. Wir entscheiden selbst, wie wir was gestalten oder ignorieren, welches Fest wir wann und wie feiern. Belastende Gefühle und Erinnerungen können kommen UND WIEDER GEHEN. Wir müssen nichts festhalten, nur weil wir die Angst vor Neuem (noch) nicht (er)tragen können. Schuldgefühle und -gedanken sind ein unfassbar starkes Bindemittel an eine Umgebung, die Zerstörung zelebriert und feiert. Wenn wir diese Bindung erhalten, kann nichts wachsen und (ver-)heilen. Wenn wir innerlich dort bleiben, sind wir noch Teil dieses Systems.

Derzeit gibt es Tage, die wir (und andere Betroffene) in unserer Biographie gewaltvoll erlebt haben, weil Täter*innen sie für sich und „special effects“ nutzten. Die meiste Zeit unseres bisherigen Lebens waren wir panisch, wenn es auf das sogenannte „Halloween“ und „Allerheiligen“ zuging. Weniger, weil die Daten kultisch, spirituell, esoterisch oder sonst wie durch bestimmte Personen unserer Täter*innengruppierung geprägt waren („ritualisiert veranstaltet“), sondern viel mehr, weil wir zu diesem Zeitpunkt geboren wurden-und im Laufe der Jahre an diesen Daten sehr schlimme Gewalt an uns und anderen Menschen (mit-)erleben und „unterstützen“ mussten. Verinnerlicht wurde in uns: „Weil es uns gibt, weil wir geboren wurden, gibt es diese Gewalt. Wären wir nicht, gäbe es sie nicht.“ Was für ein schrecklicher Trugschluss und was für eine unbeschreibliche Last für dieses Kind, das wir mal waren.

Und heute? Heute haben wir verstanden, dass nicht bestimmte Daten das Grauen sind, sondern die Täter*innen. Sie vereinnahmen Tage für ihre Zwecke, legitimieren ihr Tun, schaffen sich Ausreden, Begründungen, Sicherheiten, Ent-Schuldigungen- und zurück bleiben die Überlebenden mit ihrer (Über)Lebens(langen)Schuld, die sie sich nicht vergeben oder verzeihen können oder dürfen, weil. Punkt.

Heute darf es Freude, Erleichterung und Dankbarkeit geben, am Leben zu sein. Heute dürfen Geburtstagskuchen und Herzlichkeit sein, neben und zwischen den Tränen um Verlorene_s und Vermisste_s. Heute darf gefühlt werden, statt abgehärtet zu bleiben. Und ja: Das IST schlimm! Das ist manchmal unaushaltbar; manchmal ist all dieses Spüren viel schrecklicher und schwerer, als sich im Strudel der ewigen Schuldthematik permanent selbst niederzuknüppeln- aber/und. Es ist Leben. Es ist Bewegung. Das Andere ist Starre. Im Sterben verharren, wie im Spagat. Für wen/was ist das gut? Welchen Sinn hat das?

Wir denken an jene Kinder und Erwachsene, die immer wieder von organisierten Gruppierungen gequält werden. Wir denken an jene, die sterben werden und gestorben sind. Wir fühlen die schlimme Machtlosigkeit, Täter*innen nicht davon abhalten zu können. Wir sehen die vielen gesellschaftlichen und politischen Baustellen zu den Themen „(Opfer-)Schutz und -Versorgung“, „(juristische) Gerechtigkeit“ und „Prävention“. Dann werden wir traurig und wütend- und mit der Wut bleiben wir nicht allein und das ist gut!

Denn:

Wir schauen uns um. Auf unserem Weg. In unserem Umfeld. Wir sehen Bewegungen, gute Energien, Kraft und offene Herzen. Wir erkennen Fortschritt, Gemeinschaft, Solidarität, Entwicklungen- und der lähmende Einfluss der täter*innensuggerierten Ausweglosigkeit zerbröckelt immer weiter.

Ihr alle, die Ihr ums Weiterleben oder Überleben kämpft; die Ihr Euch derzeit am eigenen Schopf aus dem Abgrund ziehen müsst, weil´s sonst kein*e Andere*r für Euch tun kann oder will:

Haltet Euch (fest) zusammen.

Ihr seid wichtig in der Welt.

Ihr macht Sinn!

8 Kommentare

  1. Hallo! Danke erstmal für die letzten drei Sätze! Die anderen davor sind hier schwieriger. Weil „Sinn“ definiert wurde und jegliche Gewalt mit „Sinn“ und „Wert“ begründet wurde. Das bedeutet, wir haben dauernde innere Auseinandersetzungen zum Thema Sinn und Wert. Wir überlegen, ob das Wort „Sinn“ keine unbelastete Entsprechung hat. Sonst sagen wir erstmal: Es geht weder um Sinn noch um Wert, es muss keinen Sinn und keinen Wert geben. Sinn und Wert sind hart umkämpft von welchen, die Macht und Gewalt ausüben/wollen.
    VlG Anni

    1. Hallo Anni, ja, das ist schwierig, wenn “Sinn“ und “Wert“ so vordefiniert und “absolut“ sind. Für uns ist es wichtig, beweglich darin zu bleiben und es auch zuzulassen, an “Vorgaben“ zu kratzen, die bisher wie in Stein gemeißelt waren.
      Wir brauchen für uns ein Erleben von “Sinnhaftigkeit“- und zwar auf der kognitiven und auf der emotionalen Ebene. Eigene Werte entwickeln zu dürfen, ist für viele Menschen nicht selbstverständlich – und wenn es sich (jetzt/noch) stimmiger anfühlt, sich ganz von den Begriffen “Sinn“ und “Wert“ zu distanzieren und zu sagen: “Es muss sie (für mich/uns) nicht geben“, dann ist das für mich nachvollziehbar.
      Liebe Grüße!

  2. Hallo Paula Rabe.
    Danke für eure Texte. Wir lesen hier schon länger mit und wir können uns immer wieder in euren Texten wiederfinden und wir freuen uns immer, wenn ein neuer Blogbeitrag kommt. Ein besonderes Dank für die letzten 3 Sätze in diesem Text. Das gibt Hoffnung und vielleicht auch ein klein wenig Mut.
    Viele Grüße
    Katharina

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