Kontaktpunkte

Lesung am 23.4.24 in Lüchow-Dannenberg

Veranstaltungsankündigung von Violetta Dannenberg e.V. :

„Diese spannende Veranstaltung holen wir nun nach, ein Jahr nachdem sie leider aus Krankheitsgründen abgesagt werden musste. Wir freuen uns sehr auf die beiden Referentinnen!

Lesung, Informations- und Gesprächsveranstaltung mit Paula Rabe (freie Autorin, Überlebende organisierter, sexualisierter Gewalt, Mensch mit Dissoziativer Identitätsstruktur, Peer- und Angehörigenberaterin) und Tina Mehmel (Dipl.Sozialpädagogin und Fachberaterin für Psychotraumatologie).

Nach einem einführenden, fachlichen Einblick in die psychischen Folgen von sexualisierter, organisierter Gewalt auf Menschen, liest Frau Rabe aus ihrem Buch, beschreibt innere und äußere Gespräche, Zeitsprünge, Widerstände, Verbindungen, heilsamen Humor und mehr.

Die Gäste sind aufgefordert, sowohl miteinander, als auch mit Paula Rabe ins Gespräch zu kommen, die sich diesen direkten, persönlichen Kontakt sehr wünscht und – ebenso wie Frau Mehmel – gerne Fragen beantworten wird.

Termin: Dienstag, 23.April 2024, 16 Uhr

Ort: Allerlüd Lüchow

Referentinnen: Paula Rabe und Tina Mehmel

Zielgruppe: alle Interessierten

Diese Veranstaltung kann ohne Anmeldung kostenfrei besucht werden, Spenden sind möglich.“

Die Traumata, die DIS, der Rahmen und die 161

Die Dissoziative Identitätsstruktur ist eine sogenannte Traumafolgestörung. Welche Traumata ursächlich dafür verantwortlich waren, dass ein Mensch mit einer DIS lebt, ist individuell verschieden. Welche Hilfe(n) ein betroffener Mensch im Alltag benötigt, ob überhaupt irgendwo Unterstützungsbedarf besteht, wie lange er worunter wie intensiv leidet- auch das ist unterschiedlich.

Unsere „Erfahrungswerte“ mit dem Thema „DIS“ sind nicht nur subjektiver Natur, weil wir eben selbst betroffen sind. Im Rahmen der Peerberatung haben wir seit dem Start vor gut drei Jahren mit ca.160 Betroffenen (und mit ca.60 An-/Zugehörigen und anderen Unterstützungspersonen) näheren Kontakt und Austausch gehabt. Auch im Kontext unserer Lesungen oder anderer Öffentlichkeitsarbeit erfahren wir immer wieder Persönliches von und über Menschen mit DIS.

Das, was wir dabei hören und erleben, bezieht sich hauptsächlich auf Betroffene, die in Deutschland leben. Es geht immer wieder um die Schwierigkeit, therapeutische, sozialarbeiterische, medizinische oder auch juristische und finanzielle Hilfe zu bekommen. Die meisten der Vielen, mit denen wir in der Peerberatung Kontakt hatten und haben, sind armutsbetroffen oder -gefährdet, zum Teil sozial isoliert und auch körperlich chronisch krank. Manche sind in einer Berufstätigkeit chronischem Stress und Überforderung ausgesetzt, z.B. weil sie Therapieselbstzahler*innen sein müssen, weil keine andere Institution diese Kosten übernimmt.

Komplextraumatisierte Menschen, die in Deutschland leben, sind meistens permanent damit konfrontiert, um Unterstützung kämpfen zu müssen. Es gibt zwar zuständige Stellen, zum Beispiel Kranken- und Pflegekassen, Sozialämter, Jugendämter, Versorgungsämter, Justiz u.a., aber die Möglichkeiten der Hilfe sind und werden massiv eingeschränkt. Es wäre anders möglich, wenn verantwortliche Personen ihre Macht zur Entscheidung über die Verteilung von Geldern sinnvoll und gerecht einsetzen würden- und wenn der Zugang zu Hilfsangeboten niedrigschwellig, barrierefrei und auch sprachlich „einfach“ für Betroffene wäre.

Dass es in Deutschland nicht genügend Psychotherapieplätze gibt, spüren alle psychisch erkrankten Menschen. Dass der Zugang zu den wenigen freien Plätzen für komplextraumatisierte Menschen, speziell mit DIS, besonders erschwert ist, hat unserer Ansicht und Erfahrung nach nicht nur damit zu tun, dass es zu wenige traumatherapeutische Angebote gibt, sondern auch damit, wie die Dissoziative Identitätsstruktur mystifiziert und spezifiziert wird.

Eine DIS therapeutisch zu behandeln heißt erst mal, einen komplex traumatisierten Menschen zu behandeln. Dieser Mensch könnte auch mit einer Depression, einer Essstörung, Ängsten, psychosomatischen oder anderen Beschwerden, die nicht direkt als Traumafolgen identifizierbar sind, in einer Praxis auftauchen. Es geht erst mal um die Symptome, unter denen der Mensch leidet und wofür er Unterstützung braucht. Viele Menschen mit einer DIS überlegen sich auf der Suche nach Hilfe, ob sie überhaupt „outen“ sollten, dass sie Viele sind. Weil sie bereits wissen und erlebt haben, wie oft diese Traumafolge als Ausschlusskriterium angesehen wird: Zu schwerwiegend, zu komplex, zu langwierig, zu anspruchsvoll, zu bedrohlich, zu irgendwas. Aber stimmt das (immer) so? Und wenn es stimmt: Was (wer) trägt denn dazu bei?

Die Dissoziative Identitätsstruktur gilt als „schwere Traumafolgestörung“. Sie entwickelt sich in der Kindheit in einem traumatisierenden Kontext, der über lange Zeit besteht und aus dem es keinen Ausweg und keine Rettung gibt. Das bedeutet, dass ein Mensch mit einer DIS immer auch ein von der Gesellschaft alleingelassenes, ignoriertes oder vergessenes Kind war- und als Erwachsene(r) oftmals ähnliche Erfahrung mit „Hilflosigkeit“ machen muss. Dass komplextraumatisierte Kinder überhaupt so schwere Schäden davontragen können, hat auch damit zu tun, dass sie keine oder nicht genügend oder passende Hilfe im sozialen Gefüge des Kindergartens, der Schule, der Nachbarschaft, des Vereins, der Behörden etc. erhalten. Wird ein Kind nach einem traumatischen Erlebnis sofort umfassend therapeutisch, pädagogisch, medizinisch o.a. versorgt, muss sich daraus keine (komplexe) posttraumatische Belastungsstörung entwickeln. Ist den erwachsenen Personen im Umfeld eines Kindes bewusst, dass emotionale, sexualisierte, körperliche oder sonstige Gewalt zum Lebensalltag gehören kann und sie (Mit-)Verantwortung dafür tragen, dass ein betroffenes Kind Schutz erfährt, muss dieses Kind nicht im Laufe der Jahre eine DIS entwickeln.

Und wenn sie dann doch entstanden ist, die DIS, und der Mensch nach vielen Jahren Lebenserfahrung des Alleingelassenwerdens Schritte macht auf der Suche nach Begleitung/Unterstützung, und dabei vor eine Wand nach der nächsten läuft; und dabei Abwertung, Leugnung, Ignoranz, Diskriminierung erlebt; und die dissoziative Symptomatik immer schlimmer und heftiger wird; und öffentlich verbreitet wird, bestimmte Gewaltformen gäbe es gar nicht, sondern seien nur Lügengeschichten; und in all dem mit ganz viel K(r)ampf die Fassade der „unerschütterlichen Funktionalität“ aufrecht erhalten wird, weil es furchtbar weh tut, wenn man nicht das leistet und schafft, was gesellschaftlich gefordert und anerkannt wird-

ist dann tatsächlich die DIS das Problem? Oder wird sie im Laufe der Zeit zu einem immer größeren, komplexeren, langwierigeren, anspruchsvolleren, bedrohlicheren (…) Problem, weil die Betroffenen nicht (zeitnah) die Hilfe bekommen, die sie brauchen?

Was wäre denn, wenn es eine umfassende, bedarfsgerechte Versorgung für komplextraumatisierte Menschen (egal mit welchen Traumafolgesymptomatiken!) gäbe? Wenn sie NICHT jahrelang nach einem ambulanten und/oder stationären Therapieplatz, nach ambulanter Begleitung, betreutem Wohnen oder „Hilfen zur Erziehung“ ihrer Kinder suchen müssten; wenn sie NICHT vor Gericht mit Klagen gegen Versorgungsämter, Krankenkassen oder andere Behörden scheitern würden; wenn sie NICHT in Medien mit Opferfeindlichkeit und Täterfreundlichkeit konfrontiert würden; wenn sie NICHT schutzlos Täterorganisationen ausgesetzt wären, weil es keine Schutzeinrichtungen für sie gibt; wenn sie NICHT unter Einsamkeit und sozialer Isolation leiden würden…? Was wäre denn dann? Wäre die DIS (immer) noch der „worst case“ für potenzielle Behandler*innen, der für sie viele Jahre großen Zeit- und Energieaufwand bedeuten würde?

Und was wäre, wenn es professionellen Unterstützungspersonen leichter gemacht werden würde, ihre Arbeit (gut) zu tun? Wenn es kein Finanzierungshickhack gäbe; wenn genügend Raum, Zeit und Möglichkeiten zur Vernetzung, Supervision, Weiterbildung, Psychohygiene vorhanden wären? Wenn der Inhalt, der Umfang und die Bedeutung der Behandlung von Komplextraumatisierten selbstverständlich angemessen entlohnt, gewürdigt und respektiert werden würde?

Sollten Betroffene wirklich immer wieder zu hören und zu spüren bekommen, dass ihre „spezielle Erkrankung“ den Rahmen sprengt? Ist die DIS das Problem oder der Rahmen? Warum ist der Rahmen denn so, wie er ist und MUSS er wirklich so bleiben? Wer kann was dafür tun, dass sich etwas ändert? Wird das denn überhaupt gewollt?

Eine Dissoziative Identitätsstruktur ist eine Traumafolgestörung- nicht mehr und nicht weniger. Wie sie entstanden ist, ob nun in einem familiären oder außerfamiliären gewaltvollen Kontext, im Krieg, auf der Flucht, in einer organisierten Gruppierung, in einem Krankenhaus, Heim oder in einer Pflegefamilie; durch sexualisierte oder emotionale Gewalt oder Vernachlässigung – es gibt so viele mögliche Ursachen! -, sagt nichts darüber aus, wie sehr ein Mensch aktuell leidet. Und andersherum auch nicht: Viele oder wenige alltagsbelastende Einschränkungen sagen nichts über die Massivität der Traumatisierungen aus.

Es spuken so viele Infos über die DIS in sozialen Medien, im Fernsehen, in Videos, in Büchern u.a. herum- und nicht alles davon hat Hand und Fuß. Auch in diesem Punkt finden wir es wichtig, zu hinterfragen: Woher nehme ich mein (vermeintliches) Wissen über die DIS? Wie ist das Bild, dass ich von der DIS habe, entstanden? Wo/wie bilde ich mich fort, wo/wie arbeite ich mit wem zusammen, wen empfinde ich warum als „Profi“, wem höre ich zu?

Welche Erfahrungen habe ich als Hilfsperson in der Arbeit mit Vielen gemacht? Habe ich immer gewusst, wohin ich mich bei Fragen und Unklarheiten wenden kann? Hatte ich Unterstützung und Verständnis von Vorgesetzten? Waren meine Arbeitsbedingungen so, dass ich das Gefühl hatte, gut und „frei“ aktiv sein zu können? Wann spürte ich vielleicht das erste Mal Angst, Wut, Abwehr, Skepsis, Ermüdung oder Überforderung im Kontakt mit der betroffenen Person? Wie viel davon hing unmittelbar mit den Vielen zusammen und wie viel mit „dem Rahmen“?

Es gibt durchaus Herausforderungen bei einer Dissoziativen Identitätsstruktur, die Unterstützer*innen an ihre Grenzen bringen. Dann kann es eben doch „die DIS“ sein, die sich „zu komplex“ anfühlt- denn es handelt sich ja nicht um z.B. eine „kurze Episode von Niedergeschlagenheit“, sondern um ein vielschichtiges Symptombild. Wenn es zu verwuselt, zu kriselig, zu besorgniserregend, zu lebensbedrohlich, zu widersprüchlich, zu ambivalent, verwurschtelt, nah, persönlich oder was auch immer wird- dann geht es vielleicht an dem Punkt nicht mehr weiter und braucht Anderes, Neues, weitere Hilfen. Die Möglichkeit, sich aus einer Situation, bzw. einem Kontakt, der sich „zu komplex“ (zu überfordernd?) anfühlt, zu lösen und durch die Herstellung von Distanz für sich selbst zu sorgen, haben so nur die Unterstützer*innen. Die Betroffenen bleiben damit schließlich alleine zurück. Mit dem, was für andere „zu groß“ erscheint. Was (zu) viel Raum, Zeit, Engagement, Wissen, Geld erfordert. Und sie zweifeln an sich, (erst mal) nicht am Rahmen.

160 (plus x) Betroffene, mit denen wir zum Teil über Monate intensiv geschrieben haben. 161 Leben (inklusive unserem), die sich unterscheiden und an maßgeblichen Punkten ähneln oder sogar gleichen. 161 Leben in Deutschland, wo genügend Geld vorhanden ist, um den Bundeswehretat spontan aufzustocken, Fußballer zu Millionären zu machen oder irgendeinen Kackscheiß zu vergolden. Dort, wo trotz des Privilegs der gesetzlichen Krankenversicherung und einem Haufen an „Sozial“-Gesetzen kaum jemand unkompliziert und ohne Kampf eine Anerkennung der Pflegebedürftigkeit, Schwerbehinderung oder diverser Notsituationen erhält. Dort, wo komplextraumatisierte Kinder in „Flüchtlingsunterkünften“ „geduldet“ und alleingelassen werden, weil sie ja gar nicht hier geboren wurden.

(Nur) 161 Leben von (v)Vielen.

Innere Versorgung

Was und wer braucht Trost?

Wer braucht und möchte Freundschaft, Zuwendung, Verbindung, Liebe?

Wo werden Bedürfnisse, Sehnsüchte, Ängste, Sorgen übersehen, überhört, vergessen, geleugnet?

Wer fühlt sich unverstanden, bedrängt, bestraft, überrollt, missioniert?

Wer fühlt sich unterfordert, gelangweilt, leer, sinnlos, verloren, nicht ernst genommen?

Was geht im System vor sich und was bekommt warum wie viel Priorität, Fokus und Anerkennung?

Diese Fragen beschäftigen uns immer wieder und es ist nicht immer angenehm, ehrlich und offen hinzuschauen und Antworten zu erkennen.

Manchmal ist es viel leichter, im dissoziativen Ausblenden zu bleiben und sich jene Aufgaben herauszusuchen, die einfacher und schneller, ohne großen emotionalen Einsatz, „abzuarbeiten“ sind, zugunsten der Aufrechterhaltung einer Alltagsfunktionalität und (vermeintlichen) Stabilität.

Aber es geht (auch) um eine längerfristige „Wundversorgung“. Dabei reicht nicht immer ein Pflaster, vor allem dann nicht, wenn sich in tieferen Schichten eine Infektion ausbreitet.

Auch alte Wunden können später noch lebensbedrohlich werden, wenn sie nicht so versorgt wurden und werden, wie sie es brauchen.

Eine unscheinbare Narbe sagt nichts über die Massivität der Verletzung aus.

Und ein „gut funktionierendes“, alltagstaugliches, ausgeglichen wirkendes DIS-System bedeutet nicht gleichzeitig Lebensfreude, Erfüllung oder Versorgung für jede einzelne Innenperson.

Manche(s) fallen/fällt hinten weg – bewusst, unbewusst, gewollt, aus Gründen oder wegen „ist halt so“.

Vielleicht braucht es in dem Zusammenhang immer wieder mal Erinnerungen daran, dass man Viele ist. Klingt absurd? Weil man als Viele doch weiß, dass man Viele ist (wenn man es weiß und das Wissen nicht dissoziiert)?

Wissen ist nicht fühlen.

Verstehen ist nicht begreifen.

Sich erinnern meint auch, sich wahrzunehmen – auch dort, wo es weh tut und wo innere Herausforderungen jede Menge Kraft, Geduld, Toleranz und Fokus brauchen.

Einladung zur Teilnahme am Aufbautreffen für ein DIS-Netzwerk in Norddeutschland

Wir (das Orga-Team „Frischer Wind“) suchen Menschen, die Interesse haben, an der Gründung eines Netzwerks zum Thema „Dissoziative Identitätsstruktur“ (DIS) in Norddeutschland mitzuwirken.

Ein paar erste Treffen fanden bereits statt und haben den Wunsch nach Austausch gezeigt.

Die Idee ist ein Trialog zum Austausch auf Augenhöhe zwischen Betroffenen, Angehörigen und professionellen Begleiter*innen unterschiedlichster Berufsgruppen, die mit Menschen zu tun haben, die Viele sind.

Sich zu vernetzen, Erfahrungen und Wissen zu teilen, sich gegenseitig zu stärken und insgesamt über die DIS aufzuklären, ist ein Gegengewicht zur Ohnmacht und Überforderung, mit der Betroffene von schweren Traumatisierungen, ihre Freund*innen/ Begleitmenschen, aber natürlich auch professionelle Helfer*innen immer wieder konfrontiert werden. 

Wir möchten daher ein Netzwerk mit regelmäßigen Treffen gründen, das Menschen im Raum Norddeutschland zusammenbringt, die mit dem Thema DIS/ Viele sein in irgendeiner Form zu tun haben.

Es gibt bereits einen Raum in Lübeck, an dem unsere Treffen stattfinden können. 

Nun geht es darum, ein Team zu bilden, das sich um die Treffen und die Ausgestaltung der Netzwerkidee kümmert.

Dafür suchen wir Menschen, die Lust haben, sich aktiv am Gründungsprozess zu beteiligen.

Neugierig geworden?

Mit allen an einer Mitarbeit Interessierten möchten wir uns gerne persönlich treffen, Vorstellungen austauschen, ggfs. besprechen was wer einbringen kann und möchte, und uns einfach kennenlernen 🙂

Wann?

19. März 2024, 14.30-17.30 Uhr

Wo?

Schwartauer Allee 7, 23554 Lübeck

Veranstaltungsort: Mixed Pickles e.V.

Die Anmeldung ist möglich auf unserer Website: http://www.dis-netzwerk.de

Über Rückmeldungen und Nachfragen freuen wir uns!

Gerne kann diese Email auch an Kolleg*innen weitergeleitet werden.

Freundliche Grüße,

Orgateam „Frischer Wind“

Eine (alte) Geschichte über inneren und äußeren Ausstieg

1987

Sie greift nach der kleinen, feuchtwarmen Hand. Sofort umschließen die winzigen Finger ihren Daumen. Es wird nichts bringen, aber sie hebt das schreiende Baby trotzdem hoch und schaukelt es in den Armen. Das Kleine brüllt weiter. Es ist der Hunger. Nach Nahrung und nach Halt. Vor allem nach Halt.

Sie starrt am zappelnden Menschenkind vorbei auf den Boden. Ölflecken. Beton. Harter Stein. Es ist immer wieder derselbe Raum, in den er sie alle sperrt. Nebenan brummt der Heizungstank. Wie lange sie bleiben werden, weiß sie nicht. Das Baby wimmert. Sie hofft, dass es einfach einschlafen wird. Sie weiß einfach nicht, was sie noch machen soll, damit es sich beruhigt.

Neben ihr bewegen sich die Füße der großen Frau. Vielleicht wird sie wach? „Mama“, sagt sie vorsichtig, „Mama, bist du da?“ Die große Frau liegt zusammengerollt wie ein Fötus zwischen Tür und Regal. Sie nimmt zu viel von dem wenigen Raum in Anspruch, den sie sich alle für unbestimmte Zeit teilen müssen. Aber es lässt sich nicht ändern. Wenn sie hier unten sind, schaltet sich das Bewusstsein der großen Frau in einen unansprechbaren Modus. Sie liegt da und ihre Augen flackern. „Mama“, versucht sie es erneut, „du musst das Baby nehmen! Ich kann das nicht!“ Die Frau zuckt kurz mit dem rechten Augenmuskel und ein Spuckefaden läuft aus ihrem Mund. Sie kann es auch nicht, das mit dem Baby.

Für ihn ist das alles kein Thema. Er hat zu tun. Was auch immer er in der Zeit macht, in der er seine Familie wegsperrt, es scheint oberste Priorität zu haben. Das kann alles sein- von Sportschau über „einfach so“ bis „Geldverdienen“. Wann er die Tür zum Gefängnis wieder öffnen wird, ist und bleibt uneinschätzbar.

Sie weiß, dass er sie alle nicht verdursten lassen wird. Manchmal kommt er zwischendurch, holt das Baby und bringt es später wieder zurück. Es wird aufgetankt, denkt sie dann. Das kleine, schreiende Kind braucht mehr Flüssigkeit als ich. Die dann eintretende Ruhe ist wie Alpenmilchschokolade für die Ohren. Sie kann diesen akustischen Trost schmecken. Die große Frau liegt weiterhin einfach nur da. Manchmal schafft sie es, sie in eine sitzende Position zu bringen. Es ist nicht gesund, immer nur so zu liegen. Der Kreislauf macht schlappt, das kennt sie schon von ihr. Dann wird es hektisch im Gefängnis. Es ist einfach nicht auszuhalten, ohne Tageslicht und Sauerstoff.

Wenn er das Baby zurückbringt, bleibt er manchmal kurz in der Tür stehen. Er schaut auf seine Familie und sie erkennt seinen Hass. Sie schweigen. Alle schweigen, auch das Baby. „Mama“, denkt sie „Mama, bitte, sag doch endlich was!“ Nichts passiert. Er geht und die schwere Tür schließt sich.

Sie weiß, dass die große Frau hilflos ist. Krank und traurig und allein. „Ich pass auf dich auf. Und auf die Kleine.“, flüstert sie, „Immer.“ Die große Frau hustet und schaut sie an. Ein Zucken bewegt ihre Mundwinkel. Das Baby macht quietschende Geräusche. Es liegt an der Wand auf dem Rücken und ist erst mal zufrieden. Es ist satt. So einfach gestrickt, dieses kleine Wesen.

1996

„Mama“, sagt sie, „steh auf!“ Die große Frau rollt den Kopf hin und her, bewegt sich aber nicht weiter. „Steh auf, Mama!“, sagt sie lauter. „Du musst jetzt aufstehen!“ Sie sieht Tränen in den Augen der großen Frau aufsteigen. In ihr entzündet sich ein Wutfeuer. Sie spannt die Muskeln an und drückt den Rücken gegen die Wand. „Hör auf zu heulen!“, ruft sie und reibt sich über die Augen. Sie ist so müde. Aber sie ist auch wütend. „Ich hab gesagt, du sollst aufstehen!“. Die große Frau dreht sich von einer Seite auf die andere und hebt die Hände über den Kopf. „Nein!“, ruft sie und lässt sich vor der großen Frau auf die Knie fallen, „Du hältst dir jetzt nicht die Ohren zu!“. Neben ihr fängt die Neunjährige an zu jammern. „Hör auf!“, herrscht sie ihre Schwester an, „Hör sofort auf!“. Das Jammern steigert sich in ein Kreischen. In der erstickten Stille des Gefängnisses türmt sich ein Lärm auf, der die Wände sprengen könnte. Sie presst sich die Hände auf die Ohren und hört nur noch gedämpftes Rauschen. „Es ist nichts, es ist nichts, es ist nichts!“ Das Mantra zieht sich durch ihren Kopf und nimmt sie mit an einen Ort außerhalb ihres Ichs, weg von ihrer Familie.

1998

Sie schaut aus dem Fenster. Aus der Küche dringt entspanntes Geplapper zwischen der großen Frau und der Schwester. Er ist auch da und macht Scherze. Es wird gelacht. Sie öffnet vorsichtig das Fenster und steigt auf die Fensterbank. „Tschüß, Mama!“, murmelt sie, als sie über die Regenrinne auf das Garagendach klettert. Sie wirft einen Blick über das Grundstück und springt dann auf die Garageneinfahrt. Langsam macht sie ein paar Schritte und erreicht die Hauswand mit dem vergitterten Kellerfenster. Sie bleibt stehen. „Ich kann sie nicht hierlassen… Ich kann das nicht. Ich muss… Aber wenn ich jetzt zurückgehe…“ Oben öffnet sich ein Fenster. Sie hört ihn. „Komm sofort wieder rein! Sofort!“ Sie muss. Die Schwester und die große Frau, was wird aus ihnen, ohne sie?

2017

In der Küche lässt er sich auf einen Stuhl fallen und gießt sich Kaffee ein. „Wo ist deine Schwester?“, fragt er sie. „Woher soll ich das wissen?“, antwortet sie, ohne ihn anzusehen „Sie ist doch schon lange weg!“. „Bring sie endlich zurück!“, presst er wütend hervor. „Sie soll sich um eure kranke Mutter kümmern! Oder soll ich das etwa machen??“. Sie starrt ihn an. Im Wohnzimmer plappert der Fernseher und die alte Frau lacht. Sie braucht nichts. Jedenfalls nichts, was ihre große Schwester und sie für sie tun könnten. Sie erhebt sich langsam und geht in den Flur. Dann greift sie nach ihrer Jacke und den Schuhen und ruft „Ich guck, ob ich sie finden kann!“. Und denkt: „Wir bringen uns beide nicht mehr zurück.“ Dann verlässt sie das Haus, in dem auch sie schon längst nicht mehr wohnt.

2018

In einem Straßencafé begegnen sich zwei erwachsene Schwestern.

——————————————————

2024

Ich lese diese Geschichte wie ein altes Tagebuch. So viel Zeit, dazwischen und danach. So viel Bewegung, Entwicklung, Schmerz, Liebe und Befreiung.

Die Geschichte ist alt und aktuell zugleich, für mich-uns und andere Menschen, die in organisierten Gewaltstrukturen aufgewachsen sind und darin auch Geschwisterbeziehungen erlebt haben.

All das braucht Raum und Aufmerksamkeit, Anerkennung und Zuwendung; sowohl innerhalb der Viele-Systeme, als auch in Therapien, Begleitungen, Freundschaften, persönlichen und beruflich unterstützenden Kontakten. Geschwisterbeziehungen und -bindungen lösen sich nicht einfach auf, nur weil man evtl. den Kontakt (z.B. aus Schutzgründen) abgebrochen hat. Und das ist auch okay so!

Ob und wie und wann etwas vielleicht neu und anders entstehen kann, oder ob es aus (lebens-) wichtigen Gründen bei Distanz und Trennung bleiben muss und soll, entscheiden Betroffene selbst.

Ich wünschte, alle hätten dabei die Unterstützung, die sie sich wünschen würden.

1987

Als sie erfuhr, dass das Baby geboren worden war, war ihr Grundschullehrer der Erste, dem sie davon erzählte.

Als er sie fragte, ob sie sich freue, antwortete sie strahlend: „Ja, und wie!“, nur um wenige Sekunden später mit Tränen in den Augen hinzuzufügen: „Aber ich weiß nicht, was ich machen soll…“

Der Lehrer hakte nicht nach. Weder in diesem Moment, noch in ihrer restlichen Grundschulzeit.

Weihnachtsansprache

©PaulaRabe

Zwei Bullshit-Sprüche, auf die ich heute besonders herzlich kotze, sind:

1.) „Weihnachten ist das Fest der Familie.“

und

2.) „Blut ist dicker als Wasser.“


Ich genieße es besonders an Tagen wie diesen, machen zu können, was sich gut anfühlt und vor allem: Mit wem es sich gut anfühlt.


Ich ziehe an, was ich will und nicht, was schick genug ist, damit keiner schief guckt.


Ich lese, was mich interessiert oder amüsiert oder entspannt oder was auch immer, und nicht, was ich fremdbestimmt verinnerlichen sollte oder was man als „braves Kind“ wissen müsste.


Ich bin gelaunt, wie ich will und nicht so, dass alle zufrieden sind.


Ich schlafe, esse, trinke, dusche und pupse, wann ich will. Ich halte mich an keine vorgegebene Reihenfolge und nur an mein-unser eigenes Tempo.


Das ist unser persönlicher „Luxus“ (sofern man das so bezeichnen möchte), den wir uns erarbeitet haben und weiterhin immer wieder mit Kraft verteidigen müssen, seitdem wir uns entschieden haben, unsere eigenen Interessen und unser eigenes Überleben über das jener Menschen zu stellen, mit denen wir genetische und/oder traumatische Gemeinsamkeiten haben.


Wir schenken unseren betagten Nachbarn etwas, unserer Partnerin und Freundinnen, unseren Katzen, Fremden, die wir nett finden – weil wir es wollen, nicht, weil wir moralisch verpflichtet wären.


Es ist tausendmal sinnvoller und lebensstärkender, jemandem eine Freundlichkeit entgegenzubringen, den man kaum kennt, aber sympathisch findet – und dann den überraschten, berührten Blick des Gegenübers zu sehen -, als eine Reihe von Pflichtgeschenken (wie auch immer die aussehen mögen) abzuackern, deren Adressaten in den Knast, in die Hölle, ins Outback gehören, es sich aber (leider) (nicht nur) an Weihnachten außerordentlich gemütlich machen (können).

In diesem Sinne: Wir wünschen Euch gute Tage! Es ist EUER Leben!

Blogtext von H.C.Rosenblatt: ‚die „Nickis“ – ein Lichtstrahl‘

Danke an die Rosenblätter für diesen berührenden, klaren Text, den wir hier gerne teilen möchten.

Wir selbst fühlen uns ein bisschen wortlos derzeit.

Die „Nickis“ sind tot. Wir trauern um einen kraftvollen Menschen und eine Stimme, die die Belange von Betroffenen Ritueller organisierter Gewalt in Deutschland so klar und weit verbreitet hat wie noch niemand zuvor. „Nickis“ traten 2001 im Film „Höllenleben“ erstmals in die breite Öffentlichkeit. Sie waren auf Spurensuche. Suchten Beweise für die Gewalterfahrungen, die ihre […]

die „Nickis“ – ein Lichtstrahl