„Die Klappe halten“: Vom Singen, Öffnen und Schließen
Ich schaue mich im Spiegel an: Meine beiden Hände liegen rechts und links an meinen Kiefergelenken. Ich atme eher weit und weniger tief und aus meinem Mund kommen Töne, die unsere Gesangslehrerin jeweils als „angebunden“ und „unangebunden“ bezeichnet. Genau so soll das sein: Ich übe, bewusst zwischen Brust- und Kopfstimme zu wechseln, mit Intervallsprüngen, begleitet von der Lehrerin am Klavier. Verstanden habe ich das Prinzip und was der Kehlkopf dabei zu tun hat- aber mein Körper hat ein Problem: Das Loslassen.
Spannung halten kann ich (meistens). Gezielt den Atem in die Seiten des Brustkorbs fließen zu lassen, die seitlichen Bauchmuskeln zu „tonisieren“, stabil und aufrecht zu stehen, fällt mir inzwischen leichter. Das hilft, Töne größer und klangvoller werden zu lassen und entsprechend lange zu halten. Damit das Ganze aber nicht angestrengt, gepresst oder krampfig klingt, brauche ich die Fähigkeit, währenddessen auch loslassen zu können. Wie das gehen kann, übe ich. Wo „muss“ ich halten und wo bitte nicht? Mein Körper ist Schüler*in.
Mir hilft es, meine Hände an verschiedene Stellen zu legen. Zum Beispiel seitlich auf meinen Brustkorb, wenn ich mich auf meine Atmung fokussiere. Oder mittig auf die Brust, wenn es darum geht, etwas weniger kontrolliert zu singen. Oder auf die Hüften, wenn meine Beine und Knie dazu neigen, zu verhärten, statt „soft“ zu bleiben.
Meine Gesangslehrerin gibt mir den Tipp, mal meinen Kehlkopf anzufassen. Ich lege eine Hand vorsichtig an meinen Hals und sie beschreibt mir, wie der Kehlkopf aufgebaut ist, damit ich verstehe, was darin passiert, wenn ich zwischen Brust- und Kopfstimme in Intervallsprüngen wechsle. Ich taste ein bisschen und merke: „Das macht Stress, da will mein Körper nicht angefasst werden.“ Also lasse ich das und höre einfach nur zu.
Trauma sitzt im Körper, natürlich. An diversen Körperstellen sind Gewalterfahrungen gespeichert und es wundert mich nicht, dass der Halsbereich sensibel ist. Es geht nicht nur darum, dass „Erstickungserinnerungen“ angetriggert werden können, sondern auch ein Riesenpaket an Emotionen dort (und anderswo) „beheimatet“ ist.
Trauer, Tränen, Schmerz, Verlust.
Angst, Panik, Fluchtimpulse, Erstarrung.
Unterdrückung, Zwang, Druck, Beengung.
Ekel, Abwehr, Wut, Aggression.
Schweigen müssen. Nicht „darüber“ reden dürfen. Leise sein müssen. Runterschlucken. Nicht da sein dürfen. Ertappt werden. Zu viel sein. Nicht gehört werden (dürfen). Sich verstecken. „Falsch“ und „dumm“ sein. Albern, blöd, kindisch, jammerig, nervig, überflüssig sein. (Kein*e) Verräter*in sein (dürfen). Keinen Raum einnehmen dürfen. Keinen Platz haben. Weg müssen.
Ein Riesenpaket an alten und neuen Gefühlen, Gedanken, Überzeugungen, „Verinnerlichungen“, täterassoziierten Haltungen, u.a., das wir mit uns herumtragen, in und mit diesem Körper.
Und dann steht er -der Körper- im Musikschulraum und „macht auf“, weil sonst nämlich keine Töne rauskommen können. Er macht sich Luft und Platz und bestimmt selbst, was und wie viel nach außen darf. Er lernt, zwischen leisen und rufenden Tönen hin und her zu pendeln, in einen Fluss zu kommen, Muskeln gezielt anzusteuern und Spannung an anderen Stellen bewusst zu reduzieren. Er tut mehr, als „nur“ zu singen. Für uns ist das Ganze ein absolut emanzipatorischer Prozess.
Meine Hände liegen weiter seitlich an meinen Kiefergelenken und mir kommen die Tränen. Diese Geste, mein Gesicht so zu berühren, hat etwas liebevoll Tröstliches. Und gleichzeitig etwas Beschützendes. Der Kieferbereich hält so viel (aus), musste so oft die Zähne zusammenbeißen, sich zusammenpressen oder wurde gewaltvoll geöffnet- und jetzt halte ich ihn, um mehr Wahrnehmung dafür zu bekommen, wie ich ihn lockern kann. Ein „A“ zu singen geht auch mit verkrampftem Kiefer- aber ich höre inzwischen den Unterschied. Wenn ich es mir erlaube und mein Kiefer damit einverstanden ist, meinen Mund weiter zu öffnen, dann kommt da ein ziemlich anderes, weitaus klangvolleres „A“ heraus. Und ich mag das! Ich mag diese Stimme dann, die mir immer vertrauter wird. Aber ich zwinge weder mich, noch meinen Körper. Es geht um Schutz und das Austarieren von Grenzen, die je nach Tagesform und Gesamtsituation mal enger und mal weiter gefasst sind.
Nach dem Gesangsunterricht weinen wir manchmal. Erleichtert, berührt, bewegt, beeindruckt von mir-uns und dem, worauf wir uns da jede Woche einlassen. Der Körper braucht Pause zwischendurch. Den Mund schließen, nicht sprechen; das, was innen ist, geschützt und „unsichtbar“ im Innen behalten, ohne daran zu ersticken. Manchmal ist es gut, wenn nichts raus und nichts rein kommt. Sofern wir das selbst (autonom) entscheiden. Die Balance zwischen Öffnung und Schließung unserer verschiedenen „Kanäle“ ist ganz wesentlich wichtig für unsere Stabilität und unser Wohlbefinden im Leben.
Unsere Gesangslehrerin gibt die letzten zu singenden Töne für diese Stunde an. Meine Finger helfen dem Unterkiefer mit leichtem, ermutigendem Streichen nach unten dabei, dass der Mund noch ein Stückchen weiter geöffnet werden kann. „Fast wie Geburtshilfe,“ murmelt jemand innen.
Ich denke an einen bestimmten Täter, als ein ziemlich großes „A“ aus mir herauskommt. „So klingt das, wenn ich die Klappe halte, du Wichser!“, schmunzle ich innerlich.