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„Die Klappe halten“: Vom Singen, Öffnen und Schließen

Ich schaue mich im Spiegel an: Meine beiden Hände liegen rechts und links an meinen Kiefergelenken. Ich atme eher weit und weniger tief und aus meinem Mund kommen Töne, die unsere Gesangslehrerin jeweils als „angebunden“ und „unangebunden“ bezeichnet. Genau so soll das sein: Ich übe, bewusst zwischen Brust- und Kopfstimme zu wechseln, mit Intervallsprüngen, begleitet von der Lehrerin am Klavier. Verstanden habe ich das Prinzip und was der Kehlkopf dabei zu tun hat- aber mein Körper hat ein Problem: Das Loslassen.

Spannung halten kann ich (meistens). Gezielt den Atem in die Seiten des Brustkorbs fließen zu lassen, die seitlichen Bauchmuskeln zu „tonisieren“, stabil und aufrecht zu stehen, fällt mir inzwischen leichter. Das hilft, Töne größer und klangvoller werden zu lassen und entsprechend lange zu halten. Damit das Ganze aber nicht angestrengt, gepresst oder krampfig klingt, brauche ich die Fähigkeit, währenddessen auch loslassen zu können. Wie das gehen kann, übe ich. Wo „muss“ ich halten und wo bitte nicht? Mein Körper ist Schüler*in.

Mir hilft es, meine Hände an verschiedene Stellen zu legen. Zum Beispiel seitlich auf meinen Brustkorb, wenn ich mich auf meine Atmung fokussiere. Oder mittig auf die Brust, wenn es darum geht, etwas weniger kontrolliert zu singen. Oder auf die Hüften, wenn meine Beine und Knie dazu neigen, zu verhärten, statt „soft“ zu bleiben.

Meine Gesangslehrerin gibt mir den Tipp, mal meinen Kehlkopf anzufassen. Ich lege eine Hand vorsichtig an meinen Hals und sie beschreibt mir, wie der Kehlkopf aufgebaut ist, damit ich verstehe, was darin passiert, wenn ich zwischen Brust- und Kopfstimme in Intervallsprüngen wechsle. Ich taste ein bisschen und merke: „Das macht Stress, da will mein Körper nicht angefasst werden.“ Also lasse ich das und höre einfach nur zu.

Trauma sitzt im Körper, natürlich. An diversen Körperstellen sind Gewalterfahrungen gespeichert und es wundert mich nicht, dass der Halsbereich sensibel ist. Es geht nicht nur darum, dass „Erstickungserinnerungen“ angetriggert werden können, sondern auch ein Riesenpaket an Emotionen dort (und anderswo) „beheimatet“ ist.

Trauer, Tränen, Schmerz, Verlust.

Angst, Panik, Fluchtimpulse, Erstarrung.

Unterdrückung, Zwang, Druck, Beengung.

Ekel, Abwehr, Wut, Aggression.

Schweigen müssen. Nicht „darüber“ reden dürfen. Leise sein müssen. Runterschlucken. Nicht da sein dürfen. Ertappt werden. Zu viel sein. Nicht gehört werden (dürfen). Sich verstecken. „Falsch“ und „dumm“ sein. Albern, blöd, kindisch, jammerig, nervig, überflüssig sein. (Kein*e) Verräter*in sein (dürfen). Keinen Raum einnehmen dürfen. Keinen Platz haben. Weg müssen.

Ein Riesenpaket an alten und neuen Gefühlen, Gedanken, Überzeugungen, „Verinnerlichungen“, täterassoziierten Haltungen, u.a., das wir mit uns herumtragen, in und mit diesem Körper.

Und dann steht er -der Körper- im Musikschulraum und „macht auf“, weil sonst nämlich keine Töne rauskommen können. Er macht sich Luft und Platz und bestimmt selbst, was und wie viel nach außen darf. Er lernt, zwischen leisen und rufenden Tönen hin und her zu pendeln, in einen Fluss zu kommen, Muskeln gezielt anzusteuern und Spannung an anderen Stellen bewusst zu reduzieren. Er tut mehr, als „nur“ zu singen. Für uns ist das Ganze ein absolut emanzipatorischer Prozess.

Meine Hände liegen weiter seitlich an meinen Kiefergelenken und mir kommen die Tränen. Diese Geste, mein Gesicht so zu berühren, hat etwas liebevoll Tröstliches. Und gleichzeitig etwas Beschützendes. Der Kieferbereich hält so viel (aus), musste so oft die Zähne zusammenbeißen, sich zusammenpressen oder wurde gewaltvoll geöffnet- und jetzt halte ich ihn, um mehr Wahrnehmung dafür zu bekommen, wie ich ihn lockern kann. Ein „A“ zu singen geht auch mit verkrampftem Kiefer- aber ich höre inzwischen den Unterschied. Wenn ich es mir erlaube und mein Kiefer damit einverstanden ist, meinen Mund weiter zu öffnen, dann kommt da ein ziemlich anderes, weitaus klangvolleres „A“ heraus. Und ich mag das! Ich mag diese Stimme dann, die mir immer vertrauter wird. Aber ich zwinge weder mich, noch meinen Körper. Es geht um Schutz und das Austarieren von Grenzen, die je nach Tagesform und Gesamtsituation mal enger und mal weiter gefasst sind.

Nach dem Gesangsunterricht weinen wir manchmal. Erleichtert, berührt, bewegt, beeindruckt von mir-uns und dem, worauf wir uns da jede Woche einlassen. Der Körper braucht Pause zwischendurch. Den Mund schließen, nicht sprechen; das, was innen ist, geschützt und „unsichtbar“ im Innen behalten, ohne daran zu ersticken. Manchmal ist es gut, wenn nichts raus und nichts rein kommt. Sofern wir das selbst (autonom) entscheiden. Die Balance zwischen Öffnung und Schließung unserer verschiedenen „Kanäle“ ist ganz wesentlich wichtig für unsere Stabilität und unser Wohlbefinden im Leben.

Unsere Gesangslehrerin gibt die letzten zu singenden Töne für diese Stunde an. Meine Finger helfen dem Unterkiefer mit leichtem, ermutigendem Streichen nach unten dabei, dass der Mund noch ein Stückchen weiter geöffnet werden kann. „Fast wie Geburtshilfe,“ murmelt jemand innen.

Ich denke an einen bestimmten Täter, als ein ziemlich großes „A“ aus mir herauskommt. „So klingt das, wenn ich die Klappe halte, du Wichser!“, schmunzle ich innerlich.

Trauma-Daten und die Zeit davor und danach

Die Zeit davor und danach ist manchmal die, in der es am heftigsten brennt und am wenigsten davon außen bemerkt wird.

Sich bewusst zu sein, dass wieder Tage anstehen, die traumatisch belegt sind, ist wichtig, um sich gut schützen und versorgen zu können. Darüber hinweg zu gehen ist keine sinnvolle Option. Damit zu rechnen, dass es auf jeden Fall schlimm werden wird, auch nicht. In Stein gemeißelt ist nichts.

Manchmal fühlt es sich schrecklich an, weil es schrecklich ist. Manchmal fühlt es sich aber auch schrecklich an, wenn man wahrnimmt, dass es nicht mehr (so) schrecklich ist, wie es mal war. Dann ist jeder Sonnenstrahl, jede Herzberührung, jede Erleichterung oder Lebenslust zu viel, zu groß, zu unangemessen, angesichts der „Umstände“. Wie ein inneres Verbot, etwas loszulassen, wirkt ein inneres „Du darfst nicht fühlen, dass es vorbei ist!“- und es schwappt vielleicht noch ein „….weil es (für Andere) eben gar nicht vorbei ist!“ hinein.

Integration von traumatischen Erfahrungen in die jetzige Lebensrealität bedeutet nicht, dass man einen Haken hinter etwas machen können muss, ohne noch irgendetwas Belastendes dabei zu fühlen. Für uns bedeutet es, innere Klarheit über bestimmte Biographieaspekte und einen Zugang zu den dazugehörigen Emotionen zu finden und damit weiterleben zu können. Sich weniger abzuschalten, mehr im Innen wahrzunehmen und anzuerkennen, was, wo, wie betrauert, bewütet, bedacht, besprochen (…) werden möchte.

Die Anstrengung, die darin liegt, sich besonders in krisengefährdeten Zeiten „gut zu versorgen“, braucht Würdigung. Wenn jemand aus einem organisierten Gewaltzusammenhang kommt und sich daraus befreien möchte, sich schützen und in Sicherheit bringen möchte, kann es manchmal (aufgrund fehlender Schutzeinrichtungen) nötig sein, sich vorübergehend in eine geschlossene Psychiatriestation zu begeben. Im Idealfall (nun ja….) trifft man dort auf hilfreiche Menschen mit Fachexpertise und Herz und wird durch die „heißeste Phase“ begleitet. Aber/Und was ist mit dem „Danach“? Zurück zu Hause- und dann?

Nicht das zu befolgen, was einem gewaltvoll eingetrichtert wurde und sich entgegen aller „Täter*innen-Anweisungen“ fernzuhalten aus diesen Gewaltkontakten bedeutet innere Reaktionen und Automatismen. Es bedeutet Stress, der verschiedene Gesichter und verschiedene Kompensationsversuche haben kann: Schlafstörungen, Essstörungen, Panik, Selbstverletzungen, Schmerzen und andere Körpersymptome, Flashbacks, diverse Dissoziationsphänomene, u.a. Unserer Erfahrung nach hat dieser Stress häufig seine Hochphase vor und/oder nach besagten „Trauma-Daten“, weniger währenddessen. Wir kennen es, dass wir in der Zeit nach dem äußeren Ausstieg solche Daten einfach „durchfunktioniert“ haben. Anschließend wurde der Stress erst spür- und sichtbar, inklusive hohem inneren Druck, der aufkam, weil wir uns nicht „täter*innenkonform“ verhalten hatten.

Wir vermuten, dass das viele Betroffene so oder so ähnlich kennen. Vor allem die, die außen keiner Gewalt mehr durch die Gruppierung ausgesetzt sind und nicht mehr von einer akuten Lebensgefahr in die nächste fallen; die, die sich vielleicht auch schon länger mit „innerem Ausstieg“ befassen. Jene erleben es vielleicht ähnlich wie wir, dass eben die Trauma-Daten selbst nicht mehr das höchste Risiko für „Zusammenbrüche“ o.a. mit sich bringen, weil recht zuverlässig eine „Verhaltensänderung“ im Sinne des Selbstschutzes etabliert werden konnte, sondern die Vorlauf- und Nachlaufzeit.

Davor und danach kann es Stress machen, von sich zu erwarten, dass man keinen Stress hat. Dass man „jetzt endlich mal“ klarkommen müsste. Dass es „jetzt mal gut sein müsste“. Weil „es“ ja schon so lange „vorbei“ ist. Manchmal ist es sooo wichtig, sich die Tränen, den Schmerz, die Erinnerungen zu gestatten (!) und dem Raum zu geben, statt sich daran festzubeißen, die „schönen Seiten des Lebens“-verdammt noch mal!- genießen können zu müssen.

„Es hilft niemandem, wenn Ihr heute weiter leidet und Euch Vorwürfe macht!“- das hat mal jemand in wohlwollender Absicht zu uns gesagt, um uns davon abzuhalten, noch mal eine selbstzerstörerische Runde im Schuldkreislauf zu drehen. Uns hat diese Aussage verletzt und wütend gemacht. Für uns war und ist es schrecklich, uns hilflos zu fühlen. Es ist furchtbar, zu wissen, dass die Gruppierung weiter aktiv Gewalt ausübt und niemand sie davon abhält, auch wir nicht. Weil wir keine Möglichkeiten dazu haben. Diese grauenhafte Ohnmacht ist kaum auszuhalten und wird auch in der Zeit vor anstehenden „Trauma-Daten“ noch mal intensiv angetriggert. Wir wissen, dass es niemandem im Außen „hilft“ (im Sinne von „verhindert Schlimmes“), wenn es uns schlecht geht. Wir wissen, dass unsere Schuldgefühle keinerlei positiven Einfluss auf äußere Gegebenheiten haben. Aber es ist etwas, was wir „tun“ können. Wir halten so auch Erinnerungen an jene Opfer in unserer Gruppierung aufrecht, die gestorben sind. Uns ist es bisher noch nicht möglich, uns ohne Schuldgefühle an diese anderen Betroffenen zu erinnern und im Angedenken einfach ein Blümchen niederzulegen. Und wir erwarten das auch nicht von uns.

Sich zu erinnern muss nicht immer vermieden werden. Es gibt öffentliche Gedenk- und Jahrestage, an denen politisch und gesellschaftlich Aufmerksamkeit auf traumatische geschichtliche Geschehnisse gerichtet wird. Es wird zu Recht gewollt und gefordert, die Hintergründe nicht zu vergessen. Da findet (im besten Fall) Würdigung und Anerkennung statt und es darf sich schlimm anfühlen und zwischendurch auch leicht und alles zusammen.

Unterstützung von Menschen, die sich an Trauma erinnern und/oder in traumatisch belasteten Tagen/Zeiten befinden, kann nicht an der Stelle aufhören, wo das reine Überleben gesichert ist. Das ist wie „satt, sauber, trocken“- und das reicht eben nicht.

Ein Bewusstsein dafür zu haben, dass Trauma immer auch ein „Davor“ und ein „Danach“ hat, das individuelle Begleitung brauchen kann, finden wir total wichtig.

In diesem Sinne wünschen wir allen Betroffenen: Kommt gut gehalten durch die Zeit(en)!

Bewegung auf dem Trampolin = Bewegung im Innen

Unser Trampolin ist für uns nicht in erster Linie ein Fitnessgerät.

Es ist ein Ort, wo Lockerung, Entspannung, Leichtigkeit und Freude stattfinden kann.

Hier darf schmerzfreie, spontane Bewegung sein, mit Musik und manchmal auch singend.

Hüpfen und schwingen geht auch, ohne dass die Füße die Matte ganz verlassen müssen: „Bouncing“, ohne Abzuheben. Immer noch ein Stück Restsicherheit.

Oder, wer mag, darf auch in die Luft hüpfen, kurz schwerelos, mit einer sanften, gefederten Landung – besonders für Kinder, die gerne Seilspringen würden, aber nicht dürfen, weil das körperlich nicht geht, ist das prima.

Locker vor sich hinjoggen, vielleicht sogar mit Gewichten an den Unterarmen- auch das geht für uns dank des Trampolins. Anschließend sind wir durchgewärmt und haben eine gute Körperwahrnehmung. Das Gefühl in den Armen, wenn wir die Gewichtsmanschetten abnehmen, ist leicht und frei.

Leichtes wippen und gleichzeitig jonglieren? Eine Herausforderung, im Hier und Jetzt zu sein. Währenddessen zu dissoziieren ist für uns nicht möglich.

Schwingen, hüpfen, bouncen, wippen- und gleichzeitig singen? Eine wunderbare Methode, unseren Vokaltrakt zu entspannen und die Kontrolle abzugeben, loszulassen, lockerzulassen. Wenn alles leicht geschüttelt wird, nicht mehr so doll festgehalten wird, entspannt sich auch die Stimme.

Frei und unbeschwert sein, vielleicht sogar ausgelassen: Das wurde uns nicht in die Wiege gelegt, sondern gewaltvoll unterbunden.

Wir üben und lernen es, körperlich und psychisch.

Auch auf unserem Trampolin.

Infos zum „Fonds Sexueller Missbrauch“

Aktualisierung am 10.4.25:

Der „Fonds Sexueller Missbrauch“ ist im neuen Koalitionsvertrag 2025 aufgenommen worden:

Zitat, Seite 100: „Den Fonds Sexueller Missbrauch und das damit verbundene Ergänzende Hilfesystem führen wir unter Beteiligung des Betroffenenrates fort.

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Das „Ergänzende Hilfesystem„(EHS) unterstützte seit 2013 von sexualisierter Gewalt Betroffene, wenn andere Leistungsträger (wie z.B. Versorgungsämter oder Krankenkassen) nicht (mehr) halfen, bzw. helfen wollten. Bis zu 10.000 Euro (plus maximal 5000 Euro bei behinderungsbedingtem Mehrbedarf) wurden nach einer verhältnismäßig unkomplizierten Antragstellung für individuelle Bedarfe bewilligt.

Nun hat der Bundesrechnungshof den „Fonds Sexueller Missbrauch“ geprüft und festgestellt, dass die Praxis der Bewilligung und Auszahlung der Leistungen „nicht haushaltsrechtskonform“ sei.

Im Bundestag gab es für eine gesetzliche Verankerung des Fonds sowie dessen Fortbestand über 2028 hinaus keine Mehrheit.

Folgende neue Regeln gelten:

Erstanträge können nur noch bis zum 31. August 2025 (!) gestellt werden.

Das bedeutet, dass sich Betroffene jetzt innerhalb der nächsten 5 Monate um eine Beantragung kümmern müssen und bei Bedarf  informierende/begleitende Beratungsstellen kontaktieren sollten.

Auszahlungen werden nur noch bis Ende 2028 vorgenommen und sind nicht mehr (wie bisher) unbefristet.

Für Erstanträge im Jahr 2025 (!) gelten jetzt drei festgelegte Jahresteilbeträge, die maximal pro Jahr ausgezahlt werden: Bis zu 4.000 € bis Ende 2026, bis zu 3.000 € bis Ende 2027 und bis zu 3.000 € bis Ende 2028 (bei behinderungsbedingtem Mehrbedarf entsprechend mehr). Auf die jeweiligen Teilbeträge gibt es nur innerhalb der genannten Zeiträume Zugriff. Nicht genutzte Restbeträge sind nicht auf spätere Zeiträume übertragbar und es können auch keine Teilbeträge aus späteren Zeiträumen vorfristig in Anspruch genommen werden. Nicht genutzte Teilbeträge verfallen am Ende eines Zeitraums!

Das Selbstbestimmungsrecht der Betroffenen über die Inanspruchnahme der bewilligten Gesamtsumme ist mit diesen „Jahrestranchen“ also gestrichen worden.

Vorauszahlungen finden zudem auch nicht mehr statt. Das bedeutet, Betroffene müssen in finanzielle Vorleistung gehen, was angesichts der Häufigkeit von Armut als Traumafolge eine strukturelle Diskriminierung darstellt.

Das „Ergänzende Hilfesystem“ kann nicht mehr als solches bezeichnet werden.

Punkt.

Privatangelegenheit?

Ich bin uns dankbar.

Dafür, dass an der Hoffnung (oder war es Wissen?) auf Veränderung festgehalten wurde.

Dafür, dass uns niemand suizidiert hat und wir nicht im Täterkreis geblieben sind.

Dafür, dass diese viele, viele innere Arbeit geleistet und ausgehalten wurde, weil es immer welche gab, die bereit und fähig waren, Verantwortung für das System und unser (Über-)Leben zu übernehmen und Kraft und Energie zu investieren.

Ich bin uns dankbar, dass wir nicht auf Rettung gewartet haben.

Was wäre aus mir, aus uns geworden, wenn alles anders verlaufen wäre?

Was wäre passiert, wenn nicht zur richtigen Zeit die richtigen Menschen in unser Leben gekommen wären? Wenn auch die vielen Jahre Therapie nicht gewesen wären?

Was wäre, wenn ich nicht Teil von einem „Wir“ wäre, das so ist, wie es eben ist?

Ich bin uns dankbar, dass wir trotz (oder wegen?) aller Prägungen, genetischer Gegebenheiten, Erziehungsformen und Traumazusammenhänge in der Lage sind, uns gegen die Fortsetzung der Gewalt zu entscheiden. Dass wir uns die Kontrolle über Impulse und Handlungen erarbeitet haben.

Wenn ich darüber lese, dass Kinder und Jugendliche Gewalt ausüben, sich gegenseitig bedrohen und zum Teil lebensbedrohlich verletzen, wird mir eiskalt. Dann spüre ich den schmalen Grat, der in dem „Was wäre, wenn…“ liegt.

Dann kommen mir auch die Tränen:

Tränen des Mitgefühls mit jenen, die völlig haltlos so sehr außer sich geraten sind.

Tränen der Wut über strukturelle Benachteiligung, Vernachlässigung, Diskriminierung, Ignoranz, gewaltvolle „Vorbilder“ und all jene Aspekte, die dazu führen, dass Kinder und Jugendliche sich selbst verlieren, bzw. sich gar nicht erst „finden“ können.

Tränen der Freude über die Stärke und Resilienz, den Trotz und die Wut, die Klugheit und Neugier, die Beharrlichkeit und Lebendigkeit, die ich auch in den jüngeren Generationen erkennen kann.

Tränen der Erleichterung über das, was in und mit uns ist.

Im „Was wäre, wenn…“ liegen eben nicht nur Gefahren, sondern auch sehr viel Chancen.

Das muss allen klar sein.

Positiv statt ausweglos

©PaulaRabe

Es gibt zwei Stichwörter, die ich besonders häufig nutze, wenn es zum Beispiel um traumabezogene Ohnmachtsgefühle geht: Tätersuggerierte Ausweglosigkeit.

Etwas, das sich bei Betroffenen so tief eingebrannt hat: Das Gefühl, die Haltung und auch die Erfahrung „Ich kann nichts (dagegen) tun. Die Anderen sind immer mächtiger.“

Täterstrukturen profitieren davon, dass sie handlungsfähig und machtvoll sind und bleiben – und andere nicht. So funktionieren Gewalt, Manipulation, Kontrolle, Hierarchien…

Auch Hilfesysteme können in diese Falle geraten- und in dem Zusammenhang übrigens auch Verschwörungserzählungen folgen.

Gewaltüberlebende zu unterstützen, sie auf ihrem Weg zu begleiten, bedeutet, mit Rückschlägen, Blockaden, Ausweglosigkeiten, Verzweiflung, Resignation konfrontiert zu sein.

Dennoch positiv zu bleiben, fällt allen Beteiligten aus guten Gründen immer wieder schwer.

Wie soll man auch optimistisch „dranbleiben“, wenn sich Vieles so schwer gestaltet, Vernetzung nicht funktioniert und offenbar Andere immer wieder am längeren Hebel sitzen?!

Täterstrukturen profitieren von Erschöpfung, Isolation, Informationsdefiziten, Überforderung der Anderen, weil sie daran wachsen können. Damit meinen wir übrigens auch rechtsradikale Parteien.

Für uns ist die Alternative, auf unseren Fokus zu achten und ihn immer wieder bewusst auszurichten: Wer bekommt wo welche Bühne und welchen Support? Welche Überzeugungen, Inhalte, Haltungen und Ideen brauchen mehr Präsenz? Wo geht es um ein „gutes Leben für alle“, im Gegensatz zu Ego-Zentrismus?

Wir achten darauf, wo wir uns Informationen besorgen und Wissen aneignen. Nicht überall, wo „sachlich“ und „faktenbasiert“ draufsteht, kann man sich auf solches verlassen.

Sich eine Meinung zu bilden, eine Haltung zu entwickeln, erfordert oft mehr Mühe als nur den Konsum eines 10 Sekunden-Reels.

Positiv denken kann nur, wer bereit und in der Lage ist, sein Denken zu reflektieren. Komplextrauma ist da leider häufig ein Gegenspieler. Deshalb ist es gut, sich immer wieder daran zu erinnern, dass das Gehirn lernfähig ist.

Was willst du (nicht)?

©PaulaRabe

Gut zu wissen, was man alles nicht will: Hass, Gewalt, Diskriminierung, Krieg, Propaganda, Umweltzerstörung, Armut, Narzissmus, Verschwörungsmythen, Patriarchat, Rosenkohl und Mückenstiche zum Beispiel.

Wichtig ist jedoch auch, zu wissen, was man will: Miteinander, Solidarität, Respekt, Freundlichkeit, Grundrechte, Freiheit, Frieden, Hilfsbereitschaft, Klimaschutz, Gewaltschutz, Blumen und einen Therapieplatz zum Beispiel.

Ein Demo-Plakat zu gestalten, fällt uns gerade gar nicht so leicht: Ein Spruch oder Symbol für etwas oder gegen etwas? Geht beides zusammen oder gleichzeitig? Hauptsache, wir sind dabei, so wie viele andere auch. An eine „gespaltene Gesellschaft“ wollen wir weder glauben, noch uns daran gewöhnen. Spaltung ist nichts für die Ewigkeit – wir wissen, wovon wir reden.

„Herz statt Merz“ oder „Altern-in-Liebe für Deutschland“ – im Grunde landen wir beim Plakatmalen immer wieder dort, wo in uns Hoffnung, Kraft und der Glaube an das Gute leben. Dieser Fokus lässt uns weiterdenken, weitergehen, weiteratmen, statt vor Angst oder Resignation bewegungsunfähig zu werden. Wir finden es nicht naiv, dumm, vermessen oder ignorant, wenn wir uns daran festhalten und davon ausgehend, dass andere Menschen auch so ticken.

Es muss doch gute Gründe geben für das Leben. Es muss doch Sinn machen, in dieser Welt zu sein- und zwar jede*r für sich und alle zusammen.

Wenn das alles egal wäre, wenn der Zug schon abgefahren wäre, das Ruder nicht mehr herumzureißen wäre, manche schon ihren „Sieg“ in der Tasche hätten und die Welt sowieso untergehen würde – dann würden wir trotzdem bei der Liebe bleiben.

Alles andere wäre sinnlos.

Augen auf!

Trotzdem entscheiden sich Menschen, Diktatoren, Gewalttätern, Faschisten und Lügnern zu folgen, sie zu wählen, zu unterstützen, bei ihnen zu bleiben, ihr Gedankengut zu verinnerlichen und weiterzuverbreiten.

Sind das alles Menschen ohne Herz und Verstand? Nicht zwangsläufig, nicht immer.

Was bewegt sie, sich genau so zu verhalten?

In einem bestimmten Status zu verharren; keine Veränderung zu schaffen, obwohl man es kognitiv „besser“ weiß; sich zu fügen, wegzusehen, auszuhalten, abzuspalten – all das ist menschentypisch bei einem hohem Stresslevel. All das können Versuche sein, Angst zu kompensieren.

Die Augen zu schließen, während man sich einem Abgrund, einer Gefahr nähert oder sich bereits mittendrin befindet, kann ein kindlicher Reflex, eine naive Überzeugung sein- oder auch ein Fluchtimpuls.

Die andere Seite der Medaille ist der Angriff. Auch wenn wir verstehen, dass radikales Denken und Handeln Ursachen hat, die näher beleuchtet werden müssen und auch wenn uns klar ist, dass Gewalt eher stetig wächst, statt urplötzlich zu explodieren, so hat unser Verständnis dennoch Grenzen.

Wir denken, es ist keine Zeit mehr für Schwammigkeit, Ignoranz und gesamtgesellschaftliche Dissoziation- und erst recht nicht für Unterwerfung.

„Wir“ können es uns nicht leisten, abzuwarten, wie die Dinge sich so entwickeln- und der Schrecken hört auch nicht einfach von alleine wieder auf!

Es geht darum, hier und jetzt, heute und in diesem Leben verantwortungsbewusste, „anständige“ Entscheidungen zu treffen und sich mit anderen zu solidarisieren, die ebenfalls bereit sind, sich zu bewegen: Respektvoll, achtsam, menschenfreundlich; für etwas, statt immer nur dagegen.

Niemand muss alleine bleiben.