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Wie man einen Hai sucht und Andere(s) findet

„Haidrun“ ist weg. Ich habe jeden Quadratzentimeter in unserem Zuhause nach diesem Lieblingskatzenspielzeug abgesucht: Nix. Das kleine Stofftier in Form eines Hais, mit dem die eine Katze kuschelt und Fußball spielt und das die andere Katze im Maul von A nach B trägt, ist und bleibt verschollen. Wahrscheinlich ist es irgendwo hin verschleppt worden, wo nur die Katzen sich auskennen (wer weiß, wo Mucklas leben, weiß auch, wo Haidrun ist 😉 ).
Wir haben in den letzten Tagen sehr viel Zeit damit verbracht, dieses Spielzeug zu suchen- im Grunde habe ich persönlich noch nie zuvor so ausgiebig nach irgendetwas gesucht.
Heute Vormittag ist dann jemand von uns losgezogen, um ein neues Spielzeug zu kaufen- eins, das nur ein mickriger Ersatz für Haidrun sein kann, aber zumindest schon mal von der einen Katze abgeleckt wurde. Wir werden sehen…

Was mich in dem ganzen Zusammenhang wirklich beschäftigt, ist die Selbstverständlichkeit und Hartnäckigkeit, mit der gesucht wurde. Wir wollten Haidrun finden- und wir haben gemeinsam gesucht.

Könnten wir das vielleicht auch innen umsetzen? Was ist mit Innenpersonen, die lange nicht da waren, die nicht oder nur schwer erreichbar sind? Was ist mit Infos, Wissen, Erkenntnissen, Kontakten, die Mühe, Energie und Geduld benötigen, um an sie heranzukommen?
Ja, es ist ein Unterschied, sich mit einer Taschenlampe unters Sofa oder Bett zu robben, in der Hoffnung, dort ein blaugraues Stofftier liegen zu sehen, oder sich im Innern mehr oder weniger orientierungslos bewegen zu müssen – das ist emotional überhaupt nicht vergleichbar.
Aber die Wichtigkeit, an etwas dran zu bleiben, das lange dauert und nicht (sofort) von Erfolg gekrönt ist, die kann man schon ein bisschen vergleichen.
Irgendwann wird Haidrun schon wieder auftauchen- sie KANN nicht vom Erdboden verschluckt sein.
Und so ist das innen auch. So ähnlich jedenfalls.

Es gibt sowohl bei/in uns, als auch bei anderen Betroffenen und „Traumafachleuten“ verschiedene Haltungen und Ideen dazu, was im Innern alles (nicht) möglich sein kann. Fakt ist: Imaginationsfähigkeiten, bildliche Vorstellungskraft, emotionales Erleben, Wahrnehmungsebenen u.a. sind ja vollkommen individuell. Was für die Einen total selbstverständlich und klar ist, ist für die Anderen gar nicht vorstellbar und fremd. Wir finden es schwierig, wenn man jemandem ein bestimmtes Erleben abspricht, weil man es selbst anders oder gar nicht kennt.

Dass im Innern etwas oder jemand (zeitweise) „verschwindet“, ist logisch, wenn man dissoziativ strukturiert ist. Man hat eben nicht ständig Zugriff auf Inhalte, Wissen, Bewusstsein, Wahrnehmung- und somit auch nicht auf alle Persönlichkeitsanteile/Innenpersonen. An der Innenkommunikation und dem Innenkontakt zu arbeiten, ist eine permanente Aufgabe und nichts, was man an einem Punkt erfolgreich geschafft und für die Zukunft dann erledigt hat- so erleben wir das jedenfalls. Wer wie innen erreichbar ist und bleibt, wie viel wahrnehmbar ist und wo welche Ressourcen nutzbar sind, das gestaltet sich dynamisch und eben nicht statisch.

Es gibt Zeiten, in denen Verbindungen innen weniger spürbar sind. Oder in denen Innenpersonen, die sonst häufiger im Alltag und/oder in der innersystemischen Wahrnehmung präsent waren, kaum oder gar nicht mehr auftauchen. Das kann sehr verunsichern und destabilisieren oder auch erst sehr spät auffallen. Wir kennen es, dass Monate vergehen können, in denen einzelne Innenpersonen „verschwunden“ sind (d.h. auch für uns selbst nicht mehr „greifbar“), bevor das überhaupt jemand von uns realisiert: „Was ist eigentlich mit XY? Weiß jemand, wo sie/er ist und wie es ihr/ihm geht?“ Je nachdem, welche Präsenz die jeweilige Innenperson sonst in unserem Alltag hat, dauert so ein Erkennen mehr oder weniger lange. Wenn jemand fehlt, der/die z.B. sonst Verantwortung für Arbeit oder soziale Kontakte trägt, fällt es früher auf, wenn er/sie nicht mehr da ist- weil dann eben eine Lücke im Alltag entsteht, die auch zügig geschlossen/ersetzt werden muss. Handelt es sich um das „Verschwinden“ einer Innenperson, die sonst eh schon wenig im Alltag außen aktiv war, oder die innen Aufgaben hat, die seltener ausgeführt werden müssen- dann wird sie auch nicht so schnell von sogenannten Alltagspersonen vermisst.

Die Frage, wer wann wie schnell als fehlend wahrgenommen wird, wer wann (von wem) vermisst und schließlich aktiv gesucht wird, hat ganz viel Verletzungs- und Schmerzpotenzial. Es geht dabei natürlich auch um die (Selbst-)Wahrnehmung von „Wert“ oder „Wichtigkeit“. Die Haltung, dass alle gleichermaßen „wichtig“ sind, wäre schön- passt aber häufig nicht zur konkreten Alltags- und Lebensgestaltung. Nicht Jede*r hat gleichermaßen viel Mitsprache- und Bestimmungsrecht, nicht zu jedem Zeitpunkt funktioniert im Innern Demokratie. Trotzdem gibt es an einem basalen Punkt „Gleichheit“: Jede*r hat absolut Wichtiges zum Überleben beigetragen. Jede*r Einzelne existiert, weil sie/er gebraucht wurde und heute noch wird- weil sie/er ein Teil eines Ganzen ist. Eines Systems, das von Vielen zusammengehalten wird.

Egal, wie viel jemand zu einem funktionierenden Alltag beiträgt. Egal, ob jemand für Arbeit, Einkauf, Autofahren, Behördenkram, Sport, gesunde Ernährung, oder für Schlaf, Spielen, Bindungsarbeit, innere Streitschlichtung, innere Informationsvermittlung oder was auch immer „zuständig“ ist. Egal, ob jemand ausschließlich im Innern und nie im Außen präsent ist. Egal, ob jemand als Person, Anteil, Fragment, Modus o.a. bezeichnet wird. Er/sie/es existiert und kann wahrgenommen werden, also braucht es Anerkennung. Punkt.

Das, was ein Gesamtsystem ausmacht, befindet sich im Innern. Wir kennen es nicht, dass etwas oder jemand daraus sich wirklich auflöst und auf Nimmerwiedersehen verschwindet (wohin denn auch?). Insofern kennen wir es auch nicht, dass eine Innenperson „stirbt“. Im Zusammenhang mit Fusionen haben sich Innenpersonen bei uns schon miteinander verbunden, so dass die einzelnen Aspekte von jemandem nicht mehr unbedingt separat erkennbar waren. Es entstanden dadurch „Mischformationen“, aus denen bestimmte Eigenheiten manchmal „herausschimmerten“ und zum Teil wiedererkennbar (personell zuzuorden) waren. Das, was zuvor Person A, B oder C ausmachte, wie er/sie dachte, handelte, sich verhielt, was er/sie mochte, u.a., war nicht immer „haltbar“ nach Fusionen- aber ihr jeweiliger Kern; das, wodurch und wofür sie entstanden sind; was sie mitbrachten, um das Gesamtsystem zu schützen und (über-)lebensfähig zu halten- all das blieb innerlich zugänglich und spürbar, auch wenn nach Fusionen neue Konstellationen entstanden waren.

Wenn nun innerlich etwas oder jemand abhanden gekommen ist und man sich auf die Suche macht- dann braucht das oft viel Durchhaltevermögen. Und die Bereitschaft zu fühlen. Es gibt Gründe, warum etwas oder jemand „hinten weg gefallen ist“, oder sich zurückgezogen hat. Und es gibt Gründe, warum das zunächst vielleicht nicht wahrgenommen werden konnte oder durfte. Auf jeden Fall geht´s dabei auch um Einsamkeit- und deshalb ist es so wichtig, (weiter) zu suchen, auch wenn das Finden länger dauert.

a moment like this

Sie betritt das Zimmer nicht durch die Tür, sondern durch ihre Augen.

Langsam gleitet sie zwischen den Schulterblättern weiter nach oben, sammelt sich direkt hinter der Gesichtsmaske und drängt sich dann durch den engen Geburtskanal ihrer Sehnerven.

Das Zimmer ist ruhig und es riecht irgendwie wohlig. Sie sitzt auf einem weichen Teppich und über ihren Beinen ist eine leichte Decke ausgebreitet. Auf ihrem Schoß liegt ein Buch. Es ist grün und man erkennt einen Baum und eine Figur: „The Giving Tree“ lautet der Titel. Sie entspannt ihre Hände etwas mehr, als sie die ersten Seiten kurz anschaut. Englischer Text. Darin fühlt sie sich zu Hause.

Trotzdem flattert ihr Herz.

Ihr ist, als dürfte sie nicht da sein.

Als wäre sie in eine Tabuzone eingedrungen, einfach weil sie wie automatisch ihren Halt zwischen den Schulterblättern verloren hat. Sie weiß nicht, weshalb es sie nach außen geboren hat. Nun ist sie da und ihr Herz flattert die linke Halsseite hoch und runter.

An ihren Beinen bewegt sich etwas.

Ihr Blick schnellt vom grünen Buch zum Fußende und erst in diesem Moment erkennt sie die Katze.

Dieses kleine, kuschelige Fellwesen dreht sich auf den Rücken und streckt die Beine genussvoll von sich.

Während der Betrachtung dieser Bewegungen öffnet sich ihr Sichtfeld weiter: Lichtstreifen strahlen durch das Zimmer. Auf dem weichen Teppich ziehen sich zwei Sonnenfelder über Kreuz in die Länge. In einem der Felder räkelt sich die Katze. Im anderen erkennt sie einen dunklen Schatten. Da ist noch eine, eine zweite Katze.

Sie bemerkt erst, als das Buch an der Decke raschelt, dass ihre Hände zu zittern begonnen haben.

Ihr Herz flattert immer noch hektisch und befindet sich mittlerweile im Unterkiefer. „Perhaps it will jump out of my mouth“, denkt sie. Als sie sich selbst hört, werden ihre Hände wieder ruhiger.

Die Katzen schauen verschlafen und unaufgeregt in ihre Richtung.

Dann rollt sich die Eine zu einer Kugel zusammen und die Andere legt sich auf die Seite. Beide schnurren und schließen die Augen.

Sie schiebt das Buch beiseite. Dann lässt sie sich langsam flach auf den Teppich gleiten und zieht dabei die Decke bis zum Hals hinauf. Ein großer Teil ihres Körpers befindet sich nun gemeinsam mit der einen Katze in einem Sonnenfeld.

Ihr Herz flattert vom Unterkiefer durch den Hals in ihre Brust zurück.

Ihre Schulterblätter lassen ein bisschen lockerer. Sie spürt die Luft in ihrer Mitte ein- und ausströmen.

In zwei Lichtstreifen liegen drei Lebewesen, die im gleichen Rhythmus atmen.

Auf- und Abbewegungen in kleinen und großen Schattenbergen auf einem weichen Teppich.

Der Geburtskanal ihrer Sehnerven schließt sich für eine Weile.

I could drop off to sleep, but I want to keep in touch with myself.

Just me.

Nobody else.”

Blick(e) hinter Pupillen

Sie betrachtet ihre Hände. Bis eben waren sie noch in irgendwelchen Hosentaschen versteckt. Jetzt liegen sie locker auf den Oberschenkeln, mit den Handflächen nach unten. Die Fingerspitzen sind bläulich verfärbt. Das bedeutet wohl, dass es zu kalt ist. Sie weiß nicht, ob sie friert. Aber ihre Hände sagen: „Oh ja, das tun wir. Kalt ist es, wie verrückt!“ Sie krallt die Finger in die Oberschenkel und spannt gleichzeitig die Unterarme an. „Ich mache mich lebendig“, denkt sie. „Es wäre doch gelacht, wenn ich euch nicht erwärmt bekäme!“ Dann hustet sie und lächelt entschuldigend in Richtung Ausgang. Dort müsste die Frau sich gerade befinden, die sie leider nicht sehen kann. Nur sich selbst erkennt sie, aber andere Menschen lässt sie unter einem zauberhaften Tarnumhang verschwinden.

Sag mal, wie wäre es, wenn wir zusammen eine Runde laufen würden? Vielleicht ein bisschen frische Luft schnappen? Die Sonne scheint, siehst du?

Sie hört die freundliche Stimme sprechen, die zu der Frau gehört, die sie noch nie angesehen hat. Ängstlich kneift sie die Augen zusammen. An so etwas kann sie sich einfach nicht gewöhnen. Als sie kurz unter ihren Augenlidern blinzelt, finden die Pupillen keine Ruhe mehr und zucken wie Flipperkugeln hin und her. Schnell und heftig stößt sie die Fingerspitzen in die Oberschenkelmuskulatur. Der Schmerzreiz hilft. Die Pupillen erstarren und vor ihr bewegen sich die vertrauten Lichtflecken. Keine Frau in Sicht. Glück gehabt. Sie dachte für einen Moment, sie sei möglicherweise doch verrückt geworden.

Also, was meinst du? Wollen wir ein bisschen zusammen gehen?

Sie atmet tief ein. Die Stimme wird keine Ruhe geben. Deshalb formuliert sie eine neutrale Antwort: „Von mir aus. Mir egal. Wenn du willst.“ Dann spannt sie alle wichtigen Muskelgruppen an und hebt ihre Hüfte auf die bereitstehenden Beine. Sich aufrecht halten kann sie schon mal. Laufen wird wie immer auch funktionieren. Aber diese Kälte, diese Kälte. „Ich möchte am liebsten doch nur schon gestorben sein“, flüstert sie innerlich. Die Frau darf sie nicht hören, wenn sie so etwas sagt.

Die Frau schweigt.

Eine Zeit vergeht. Geht sie schon, oder steht sie noch? Ist noch Heute? Alles nur geträumt? Geschlafen? Erinnert? Wahrheit oder Märchen? Oder eine Lüge? Wo ist sie? Wer ist sie?

Die Frau legt eine Hand auf ihre Schulter. Sie ist warm. Die Schulter ist steinhart. Die Frau murmelt Unverständliches.

Wer ist sie? Wohin will sie?

Sie schaut in hellbraune Augen. Nicht weggucken jetzt. Aber wohin denn sonst, mit den tanzenden Pupillen, wohin denn, wenn sie nach außen kugeln? Dann muss sie doch weg-schauen, oder nicht? Muss sie doch!

Wer sie sieht, kann nicht unsichtbar sein. Am liebsten doch schon gestorben sein? Gestorben worden sein?

Jetzt lebt sie sie. Oder wird sie gelebt?

Wer sind sie?

Sind sie?

Geworden sind sie. Hinter flackernden Pupillen. Auf die Welt gehoben mit eiskalten Fingerspitzen.

Die Frau seufzt und blickt in die Sonne. Immer gehen sie gemeinsam los, und dann bleibt doch nur sie selbst übrig, wenn die Wärme durch die Lider scheint, ins Innere.

Trotzdem wird sie es wieder probieren. Sie mitzunehmen ins Leben. Die Andere.

Mit traumatischen Erinnerungen arbeiten- ohne Therapie

Kurz stehenbleiben. Was ist gerade wahrnehmbar? Den Fokus auf den Körper richten: Herzschlag, Atmung, Sinneseindrücke, Temperatur, Schmerz oder andere Symptome? Sind wir noch beweglich oder erstarren wir langsam? Kann es weitergehen?

Wieder in Bewegung kommen. Die Walkingstöcke schwingen rechts und links, die Beine laufen zügig und sicher. Über die Kopfhörer klingt eine Lieblingsplaylist. Das Maisfeld ist in Sicht und es ist noch höher als beim letzten Mal.

Dann standen wir vor den Pflanzen, die uns wie eine Wand erschienen. Im Körper kam der altbekannte Impuls auf, sich hinzuhocken, klein zu machen, die Arme über den Kopf zu schlingen, möglichst kein Geräusch von sich zu geben, den Atem anzuhalten- genau wie damals als Kind, als wir nachts in einem Maisfeld „zu Trainingszwecken“ ausgesetzt und alleingelassen wurden.

Stattdessen hoben wir die Arme mit den Walkingstöcken über den Kopf und machten uns groß. Wir atmeten geräuschvoll durch den Mund aus, schüttelten die Beine aus, stampften mit den Füßen auf, gingen ein paar Schritte, machten ein Foto vom Feld, suchten ein neues Lied aus der Playlist aus…

Im Innern wurde spürbar, wen die Situation wie berührte.

Weiteratmen. Noch mal den Impuls merken, sich hinzuhocken- und ihm kurz nachgehen. Wie ist das in dieser Haltung- nicht IM Feld, sondern daneben, auf einem Weg? Tränen kommen. Verlassenheitsschmerz. Große Angst. Überforderung. So war das damals, als Kind. Zumindest für manche von uns. Andere haben das gar nicht gefühlt, sondern schon emotional abgeschaltet reagiert. Traumatypisch, traumalogisch.

„Es“ wegwischen, wegmachen wollen. Tapfer sein. Sich nicht anstellen. Ist doch alles schon lange vorbei. Ja. Nein. Im Innern ist es aktuell.

Es begrenzen. Eine große Kunst ist das, so hin und her zu pendeln zwischen damals und heute. Sich nicht im Gestern verlieren, aber auch nicht im Heute. Es da sein lassen, es anerkennen als Teil des eigenen Lebens- aber nicht völlig den Boden unter den Füßen verlieren. Oder wenn doch, zumindest von irgendwem irgendwo gehalten sein. Im Idealfall.

Es reicht. Bitte jetzt kein Maisfeld mehr. Weiterlaufen, weglaufen, es zurücklassen, aber uns mitnehmen.

Diese Konfrontation wird nachwirken. Kann sein, dass wir noch verschiedene Traumafolgesymptome spüren werden. Wir müssen das gar nicht alles vorbildlich „können“, nur weil wir gefühlt 100 Jahre Therapieerfahrungen haben.

Wir üben diesen Umgang mit Triggern nicht erst seit gestern. Auch das Maisfeld ist keine neue Arbeit. Es wird besser, aber es ist immer noch schwer und wir wünschten, es wäre einfach alles anders.

Vermeidung ist keine Option in Sachen Maisfeld. An anderen Stellen, auf andere Reize bezogen schon.

Wir konfrontieren uns mit den Maisfeld-verbundenen Traumatisierungen, weil wir diese Walkingstrecke eigentlich sehr lieben. Nur nicht im Sommer, wenn der Mais so hoch steht. Aber: Wir wollen uns von diesem Trigger schlicht und einfach nicht den Weg versauen diktieren lassen.

Seit über 2 Jahren machen wir keine Psychotherapie mehr (weil wir nach dem Ende der langjährigen Therapie keinen neuen Platz gefunden haben). Das bedeutet, dass wir bei unserer Innenarbeit mit traumatischem Erinnerungsmaterial nicht begleitet werden. Und das ist milde gesagt ziemlich herausfordernd, bzw. an manchen Punkten auch tatsächlich nicht vollständig möglich.

Und/Aber: Wir gehen trotzdem weiter. Innerlich und äußerlich. Wir probieren aus, was wie helfen könnte- und scheitern dabei und erleben Fortschritte. Manches geht alleine, manches bleibt (leider) auf der Strecke.

Traumabearbeitung durch Auseinandersetzung mit Traumainhalten ist etwas, was ein vertrauenswürdiges, kompetentes, zugewandtes Gegenüber braucht. Ohne Spiegelung im Außen; ohne jemanden, der die Übersicht behält und Fragen stellt; der eben eine Position AUSSERHALB des ganzen Schreckens hat, klappt eine konsequente, vollumfängliche Bearbeitung traumatischer Situationen nicht. Nicht, wenn jemand strukturell dissoziativ ist. Nicht, wenn es um gezielte Konditionierungen, Fragmentierungen, o.a. geht. So sind zumindest unsere Erfahrungen.

Bedeutet das also, dass man keine Chance hat, wenn man alleine mit Traumamaterial arbeiten will/muss- und dass man es dann gleich lassen sollte?

Unsere Wahrheit ist: Nein. Zum Einen geht es manchmal wirklich ums Ganze, also um die Frage „Was hält mich/uns eigentlich hier im Leben?“- und da kommt man möglicherweise an den Punkt, dass man alleine aktiv werden MUSS, wenn man überleben will. Da hat man dann nicht den Luxus, sich die „Mühe“ einfach nicht machen zu wollen und eben ein bisschen „Psychostress“ in Kauf zu nehmen, sondern es wird klar: SO kann/können und will/wollen ich/wir nicht weiterleben. Wir MÜSSEN jetzt hingucken und damit arbeiten, auch wenn wir niemanden haben, der/die uns dabei begleitet.

Hinter all den Berichten über fehlende Psychotherapieplätze stehen lebendige Menschen, keine Karteileichen! Und diese Menschen sind damit beschäftigt, sich am/im Leben zu halten, einen Umgang mit ihren Symptomen zu finden, auszuprobieren, was sie tun können, um sich selbst zu retten, usw. Und selbstverständlich ackern sich komplextraumatisierte Menschen ganz für sich alleine den Arsch ab (sorry for not sorry!), um „klarzukommen“ mit ihrem „Paket“.

Also: Selbst wenn klar ist, dass die Chancen auf eine umfassende, gesamtsystemische Bearbeitung einzelner Traumata ziemlich mies aussehen, wenn man alleine daran rumdoktorn muss, so tun diverse Betroffene genau das eben TROTZDEM, weil es (erst mal?) keine Alternativen gibt. Und wir wagen zu behaupten, dass erstaunlich viel unter diesen schwierigen Umständen dennoch funktioniert.

Dieses eine furchterregende Maisfeld haben wir für heute erledigt. Nicht das Feld hat uns geschafft, sondern wir das Feld. Das, was wir damit tun, ist so simpel wie komplex gleichermaßen: Wir gestatten uns Innenwahrnehmung und wir versuchen anschließend, darüber zu reden oder zu schreiben. Nicht immer klappt das so „kontrolliert“ und „sauber“ wie heute.

Der Schmerz, das Entsetzen, der Schrecken, die Angst von damals brauchen heute Aufmerksamkeit und Anerkennung und manchmal brauchen sie auch eine Abreaktion- und die sieht dann weniger „sortiert“ aus, logischerweise. Nichts daran ist falsch! Trauma löst sich nicht einfach auf, nur weil man mal ein paar zarte Tränchen vergossen oder mit dem Fuß aufgestampft hat. Trauma muss manchmal ausgekotzt, ausgespuckt, hingerotzt, rausgeschrien, durchgezittert, weggeschmettert oder gegen die Wand geklatscht werden. Und manchmal muss das genau so immer und immer wieder wiederholt werden, bis sich etwas lösen kann. Selbst dann bedeutet das aber noch lange keine „Auf-Lösung“, weil sich manches vielleicht gar nicht „auflösen“ lässt.

Für uns ist das Ziel dieser Konfrontation mit dem Schrecklichen ein Gefühl von Integration. Und zwar im Sinne von „so gut und selbstbestimmt wie möglich damit leben können“. Dazu gehört, dass wir Verluste intensiv betrauern. Dass wir Schmerz wahrnehmen und ausdrücken. Dass wir Mitgefühl mit uns selbst entwickeln. Dass wir verstehen, was damals passiert ist und welche Spuren es hinterlassen hat. Dass wir Schäden an Körper und Psyche nicht ignorieren oder schönreden, sondern benennen und annehmen. Dass wir die Gewalt, die wir erlebt haben, erinnern dürfen (!) und auch so der Welt mitteilen können, wie wir das gerne möchten- auch wenn Viele nichts davon hören wollen.

Für all das lohnt sich diese ganze Arbeit.

Genau das ist die Chance, die dahinter liegt und die wir nicht aufgeben.

Und das können wir auch nur deshalb genau so empfinden, denken und umsetzen, weil wir diese gefühlt 100 Jahre Therapieerfahrungen mit all ihren inneren Prozessen und Entwicklungen zur Verfügung haben.

„sich wehren wollen“: DIS im Strafverfahren

Die Kriminalkommissarin, die uns während unserer Strafanzeige im Jahr 2003 zu Beginn begleitete, war für uns eine sehr kompetente und menschlich-herzliche Hilfe. Die Vernehmungen gestaltete sie achtsam und behutsam, aber auch sehr genau. Sie führte uns während der Befragungen immer wieder in heftige Themengebiete und ermutigte uns, so zu erzählen, wie es gut für uns war. Wir durften schweigen und malen/zeichnen, durften flüstern und Schimpfworte oder eine derbe Formulierung gebrauchen. Es lag in unserer Verantwortung und unserer Entscheidung, wer von uns worüber sprach und worauf antwortete- aber wir wurden damit nicht alleine gelassen. Die Beamtin war gut informiert über Hintergründe, Symptomatik und Schwierigkeiten einer Dissoziativen Identitätsstruktur. Und sie hatte ein Bewusstsein dafür, dass Widersprüchlichkeiten, Täterloyales oder Amnesien in diesem Zusammenhang recht typisch sind und keineswegs Anzeichen einer Falschaussage sein müssen.

Wir wurden insgesamt fünf Mal von der Kommissarin vernommen und standen auch zwischendurch in einem regelmäßigen Austausch. Wir spürten, dass es ihr nicht egal war, wie es uns vor und nach den Befragungen ging. Und dass sie an mehr interessiert war, als nur an gerichtsverwertbaren Aussagen. Wir erlebten sie sehr engagiert und motiviert und wir denken heute, dass aus unserer Strafanzeige vermutlich mehr geworden wäre, wenn sie bis zum Schluss zuständig geblieben wäre. Leider musste unsere Ermittlungsakte an eine andere Staatsanwaltschaft weitergeleitet werden und ab diesem Zeitpunkt hatte die Kriminalkommissarin keine Handlungsbefugnis mehr. Das Verfahren endete gut 10 Jahre später ohne Gerichtsprozess oder Verurteilungen.

Die Polizistin hatten wir einige Jahre später telefonisch kontaktiert, um ihr eine akute Frage zu unserer äußeren Sicherheit zu stellen und wir kamen weiter ins Gespräch, wobei wir auch noch mal unsere gemeinsamen Begegnungen Revue passieren ließen. Sie bestätigte unsere Wahrnehmung, dass unser Verfahren sehr verdächtig im Sande verlief, als die Ermittlungsakte „woanders“ landete. Ich traute mich zu sagen, dass ich nicht an einen Zufall glaube, sondern Hinweise für eine Einflussnahme des Täterkreises habe.

Daraufhin schwieg die Kommissarin erst einmal. Dann antwortete sie: „Das kann sein. Vielleicht. Wahrscheinlich. Aber ich muss dazu sagen, dass ich mittlerweile nicht mehr von so einer großen Unterwanderung durch Täterkreise ausgehe, wie das manche Therapeut*innen behaupten. Ich denke nicht, dass überall, an allen wichtigen Stellen, Täter*innen sitzen und die Dinge lenken und deshalb die Strafverfahren scheitern. Das hat häufig andere Gründe.“

Nach dieser Aussage waren wir erst mal erschrocken. Das klang für uns wie eine grundlegende Änderung ihrer opferfreundlichen Haltung. Es klang nach grundsätzlicher Skepsis oder Unglauben.

Im weiteren Gespräch habe ich aber verstanden, was sie konkret meinte und dass ihre Einschätzung ganz sicher keinen grundlegenden Zweifel an der Glaubhaftigkeit von Opfern ritueller/ritualisierter Gewalt darstellt. Ich stimme der Polizistin sogar zu: Auch ich stehe Aussagen von Hilfsinstitutionen, Therapeut*innen, Journalist*innen, Betroffenen u.a. kritisch gegenüber, in denen behauptet/verbreitet wird, Täter*innen seien überall an machtvollen Stellen, würden alle wichtigen Entscheidungen lenken- und es gäbe im Grunde keine Chance dagegen. Ohne Zweifel glauben und wissen wir, dass vor allem organisierte Täter*innenkreise ihre Macht ausüben können, weil sie an bestimmten Positionen die Fäden in der Hand haben und weil niemand sie daran hindert. Aber dass Strafverfahren von Überlebenden ritueller Gewalt / organisierter Kriminalität immer (! oder ausschließlich!) deshalb scheitern, weil der Täter*innenklüngel dafür sorgt- das halte ich für eine unstimmige Verallgemeinerung und für eine Verschleierung anderer Problematiken, die z.B. eine Dissoziative Identitätsstruktur mit sich bringt.

Ich finde es unverantwortlich und übergriffig, wenn Therapeut*innen oder andere Hilfspersonen Betroffene dazu drängen oder gar unter Druck setzen, Strafanzeige zu erstatten. Und ebenso grenzwertig empfinde ich es, wenn innerhalb einer Therapie (ambulant oder stationär) der Fokus darauf gelegt wird, den/die Betroffene(n) „aussagefähig zu stabilisieren“, oder gar aufdeckend zu arbeiten, so dass das Ziel „Strafverfahren“ näher angepeilt werden kann. Eine Anzeige sollte meiner Meinung nach immer in der alleinigen Entscheidungsmacht der/des Betroffenen stehen und nicht als „erlösendes Licht am Ende des Tunnels“ von Therapeut*innen missbraucht werden, die in ihrer Hilflosigkeit und Ohnmacht nicht wissen, wie sie „das“ aushalten können. Besonders schlimm fände ich es, wenn in bestimmten Helfer*innen-Kreisen es beinahe zur Mode würde, die Erstattung einer Strafanzeige oder die OEG-Beantragung zu „erreichen“. Nach dem Motto: „Nur wer sich so wehrt, wehrt sich richtig.“ Das würde ich für sehr gefährlich halten.

Außerdem finde ich es elementar wichtig, einen realistischen Blick auf das zur Verfügung stehende Aussagematerial zu werfen. Es nützt doch nichts, wenn Helfer*innen die Betroffenen zu einem Gang zur Polizei bestärken und ermutigen, nur weil sie es nicht wagen, klar auszusprechen, dass die Erinnerungen, Daten, Fakten, Details vermutlich nicht für ein Gerichtsverfahren ausreichen werden. Das hat meiner Ansicht nach nichts mit Schonung, Solidarität oder Parteilichkeit zu tun. Jemandem zu zeigen, dass man ihr/ihm glaubt, was sie/er über die erlebte Gewalt erzählt, braucht keine Unterstreichungen und Ausrufezeichen, wenn es ehrlich und authentisch ist.

Die Strafverfolgungsbehörden benötigen nicht nur eine gewisse Aussagetüchtigkeit, sondern auch eine gewisse Aussagequalität. Selbst bei noch so großem Engagement, Zugewandtheit, Kapazitäten, Wissen und Personalstärke können Kriminalbeamte*innen eben nicht aus schwammigen Hinweisen stichfeste Beweise zaubern. In dem Zusammenhang immer wieder auf die Unfähigkeit der Polizei zu schimpfen oder eine Verschwörungstheorie noch weiter auszuschmücken, halte ich für Augenwischerei.

Wir haben mit der vernehmenden Kommissarin großes Glück gehabt. Sie hat versucht, aus unserem gelieferten Vernehmungsmaterial das Beste herauszuholen. Jene Beamten, die unsere Ermittlungsakte nach ihr übernommen haben, waren anders gestrickt, als sie. Es war ihnen egal, ob wir dissoziativ sind, oder nicht. Es war unerheblich, ob wir durch die jahrelange Warterei im Verfahren psychisch belastet (retraumatisiert) wurden, oder nicht. Hätten sie uns vernommen, hätten wir vermutlich nicht mal eine einzige Aussage gut geschafft. Rein menschlich betrachtet wäre es wünschenswert, wenn Polizeibeamte*innen sich mit den Hintergründen der Opfer näher befassen und dann ggf. auch ein Verständnis für eine Dissoziative Identitätsstruktur entwickeln würden. Es geht hierbei ja nicht um die Anzeige eines Handtaschenraubes. Aber verlangen kann man eine solche Haltung nicht automatisch. Und ich finde es unfair und falsch, der Polizei grundsätzlich jedes (!) Scheitern eines Strafverfahrens in die Schuhe zu schieben, ohne dabei auf die eigene Verantwortung (nicht Schuld!) zu schauen. Nicht immer geht es darum, dass „die Polizei nicht will“ oder dass sie „das alles nicht glaubt“, oder sogar „selbst zum Täter*innenkreis gehört“. Nicht immer!

Wenn ich heute auf den Zeitpunkt unserer Strafanzeige schaue, erkenne ich, dass er zu früh gewählt war. Wir waren motiviert durch Helfer*innen, wollten „laut werden“ und uns wehren. Dabei haben wir zu kurz gedacht. Das Aussagematerial, das wir damals liefern konnten, war zwar nicht gerade „dünn“ , würde aber heute weitaus umfangreicher ausfallen und es den Strafverfolgungsbehörden leichter machen, daran anzuknüpfen und damit zu arbeiten. Wenn sie wollten und könnten…

Einen grundsätzlichen Schutz stellt ein Strafverfahren nicht dar. „Sich wehren“ vielleicht schon. Aber so eine Abgrenzung kann viele Gesichter haben. Es muss nicht immer der große Paukenschlag sein, bei dem einem hinterher die Ohren schmerzhaft scheppern, oder der vielleicht einfach ins Leere hallt. Sich von Täter*innen zu distanzieren oder öffentlich zu signalisieren, dass man ein freier, selbstdenkender Mensch ist, kann auch ohne Strafanzeige und OEG-Antrag funktionieren. Und Betroffene müssen niemandem beweisen, dass sie es wirklich ernst meinen.

In der Aufregung, Revolution oder Emanzipation während einer Strafanzeige kann zwischen Helfer*innen und Betroffenen eine Euphorie zu fühlen sein, die verbindet. Ein Machtgefühl. Stärker als die Täter*innen sein. Endlich! Endlich kann man was tun und muss nicht mehr nur zuschauen, wie Gewalt stattfindet.

Aber was passiert danach? Wenn eine Strafanzeige ohne Verurteilung scheitert? Ein OEG-Antrag nach vielen Jahren endgültig abgelehnt wird? Die erste Euphorie längst verpufft ist und zahllose, hart erarbeitete Papierseiten eine im Keller vor sich hin schimmelnde Gerichtsakte füllen? Wo ist die Gemeinsamkeit dann? Wie geht es weiter mit dem „Sich-Wehren“? Die Helfer*innen vom Anfang verarbeiten ihre Enttäuschung vielleicht professionell in einer Supervision (wenn sie denn nach der ganzen Zeit überhaupt noch an der Seite der Betroffenen sind) und wurden möglicherweise schmerzlich desillusioniert. Überlegen sich zukünftig vielleicht lieber zwei Mal, ob sie einer/einem Betroffenen zu einer Anzeige raten, oder nicht. Spüren eventuell, wie ihnen das Wort „Verschwörung“ den Nacken hinauf kriecht und leise flüstert „Täter*innen sind doch überall!“. Ärgern sich über die Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Polizei. Oder stumpfen ab.

Und die Betroffenen? Sie stehen da und müssen ihr eigenes Innenleben alleine zusammensammeln. Die Scherben und Fragmente, die dieser harte Kampf hinterlassen hat. Selbst wenn im Außen Menschen sie begleiten. Verarbeiten und aushalten müssen sie es alleine. Und sie müssen sich damit befassen, die Vergangenheit und die Gegenwart irgendwie auseinander zu halten. Es ist nicht wie früher, aber ähnlich: Machtlosigkeit. Lähmung. Ungerechtigkeit. Vielleicht bekommt das ganze sogar noch eine neue, perfide Dimension: Wenn von Seiten der Polizei, Justiz und psychiatrischen Gutachtern zwar „geglaubt“ wurde, was man aussagte- das Material aber nicht ausreichte, um eine Verurteilung herbeizuführen. Noch mal eine neue Form von Ohnmacht. Dass einem nicht geglaubt wird, kennt man ja irgendwie schon. Aber so?

In jedem Fall braucht es nach einem gescheiterten Strafverfahren neue Aussichten und Wege. Neue Formen von Wehrhaftigkeit und Selbst-Schutz. Und es braucht Zeit zur Verarbeitung. Es sind neue Wunden entstanden.

Ich denke, manche solcher belastenden, enttäuschenden, möglicherweise retraumatisierenden Justizverläufe lassen sich vermeiden. Indem man die Möglichkeiten und die Motivation realistisch betrachtet und bewertet, bevor man aktiv wird. Und indem man Zuständigkeiten klar benennt: Was müssen Betroffene leisten und was ist Polizeisache? Wo kann man Verständnis und Hintergrundwissen erwarten und einfordern, und wo geht es einfach nur um klare Fakten und Sachlichkeit? Wo weiß man schon im Vorfeld, dass man vor die Wand laufen wird? Und weshalb will man sich dazu entscheiden, es trotzdem zu probieren? Lohnt es sich wirklich, oder geht es hier um einen Traum… oder hat man etwas in der Hand, das…

für sich selbst verantwortlich sein

Ich wünschte, es wäre mehr Menschen klar, was zwischen den Zeilen mitschwingen kann, wenn sie an die „Eigenverantwortung“ appellieren. Ich wünschte, ihnen wäre bewusst, wie viel da dran hängt- und wie wenig und gleichzeitig viel das alles mit Schuld zu tun hat.

Wenn ich mich um mich selbst kümmern kann, bedeutet das, dass ich meine Grenzen spüren, achten und verteidigen kann. Es bedeutet, dass ich eine Wahrnehmung dafür habe, wann mir etwas zu viel wird und was ich dann brauche, um meine Balance und Stabilität nicht zu verlieren, bzw. sie wiederzufinden. Es heißt, dass ich mich selbst (gut genug) kenne; dass ich einen „inneren Werkzeugkasten“ zur Verfügung habe, aus dem ich mich situativ „bedienen“ kann. Wenn ich selbstfürsorglich bin, habe ich zum Einen Zugang zu mir, meinen Emotionen und Bedürfnissen, zum Anderen zu Möglichkeiten, Skills, Handlungsoptionen.

So in Kontakt mit sich leben zu können, wird manchen Menschen wortwörtlich in die Wiege gelegt; d.h. sie bekommen einen Rahmen dafür, ein Ich-Bewusstsein, Urvertrauen und ein „Selbstwert“-Empfinden zu entwickeln, erfahren Spiegelung, sichere Bindung, Halt, usw.

Gewalt ausgesetzt zu sein und dadurch komplextraumatisiert zu werden, bringt das Gegenteil dessen mit sich: Eine stabile Basis fehlt- im Innern wie im Außen. Ohne sie wird es schwer.

Strukturelle Dissoziation als Überlebensmechanismus- oder besser noch: Anpassungsreaktion- beinhaltet eine innere „Entfremdung“. Der Mensch wächst und entwickelt sich auf einem brüchigen, wackeligen, unsicheren Boden- in eine Welt hinein, die einige Erwartungen an ihn hat. „Wer bin ich eigentlich?“ kann eine Frage sein, die einen permanent begleitet- und zwar weniger gedacht, sondern vielmehr empfunden, auf verschiedene Arten und unterschiedlichen Ebenen.

Was erwachsene Menschen voneinander erwarten, woran sie ein „funktionierendes System“ erkennen, ist mehr oder weniger klar: Es gibt formulierte Regeln, Gesetze, Normen- und welche, die irgendwie „unausgesprochen“ gelten, die aber (scheinbar) trotzdem „jede*r kennt“ und „automatisch befolgt“. Wie man miteinander kommuniziert; was „angemessen“ ist und was nicht; was ein*e Erwachsene*r kennen, können, wissen, wollen, schaffen muss, usw.- all das sollte irgendwie selbsterklärend oder logisch sein- für möglichst alle in einer Gesellschaft… Tatsächlich?

Menschen ohne stabile Basis haben häufig damit zu kämpfen, mit genau diesen „gesellschaftlichen Selbstverständlichkeiten“ klarzukommen: Dabei fühlt es sich teilweise so an, als wäre man immer zu langsam oder zu schnell, zu spät oder zu früh, zu laut oder zu leise, zu nah oder zu weit weg… Immer irgendwie falsch, mittendrin verloren und permanent furchtbar angestrengt.

Was willst du nach der Schule machen. Wie soll es weitergehen. Wohin willst du denn. Was ist dir wichtig. Wie meinst du das. Warum kannst du nicht. Weshalb verstehst du nicht. Was soll das denn.

Eigenverantwortung. Erwachsen sein, groß sein, selbstständig sein, sein Leben in die Hand nehmen, eigene Entscheidungen treffen, Pläne haben und umsetzen, soziale Kontakte pflegen, ein Teil der Gesellschaft sein, etwas beitragen und leisten. Teilhabe?

In Gewaltstrukturen „groß zu werden“ bedeutet, schon seit früher Kindheit „alleine klarkommen müssen“ und schon als Kind „erwachsen“ sein zu müssen. Eigene Bedürfnisse werden im Keim erstickt: Sich reduzieren müssen, immer weiter „schrumpfen“, bis nicht mal mehr Hunger, Durst, Müdigkeit gespürt werden; Schlafentzug aushalten, alle spontanen Gefühlsreaktionen unterdrücken; nicht jammern, weinen, schreien, schluchzen, spucken, husten, pinkeln- immer weiter „verschwinden“ und gleichzeitig hoch angepasst und funktional sein in einem zerstörenden Umfeld. Das passiert in (organisierten) Gewaltstrukturen.

Und später dann? Wie leben Menschen mit einer solchen Biographie denn weiter? Bekommen sie Hilfe- ausreichend, bedarfsgerecht, respektvoll, auf Augenhöhe? Oder geht die Gewalt weiter, im medizinischen, psychiatrischen, therapeutischen, behördlichen, etc. Kontext?

Wie ist das, wenn Betroffene mit einem Fuß im Gestern und mit dem anderen im Heute stehen? Wie kann es möglich sein oder werden, etwas im Innern zu verändern, wenn die Basis nicht (mehr) veränderbar ist und es im aktuellen „Außen“ auch mehr oder weniger heftig „hakt“?

Traumafolgestörungen können so vielfältig aussehen und so verschiedene Symptome mit sich bringen- so wie eben auch die Menschen und ihre Biographien unterschiedlich sind. Nicht alles ist sofort klar erkennbar; nicht jede Einschränkung, Behinderung oder Erkrankung, die traumaassoziiert ist, ist auch als solche (sofort) identifizierbar.

Wenn Menschen selbstzerstörerisch agieren und der Eindruck entsteht, dass sie offensichtlich „nicht gut auf sich aufpassen können“; wenn sie Probleme mit der Impulskontrolle haben oder sich in Abhängigkeiten begeben; wenn sie immer wieder „auffallen“, weil sie ein „unangepasstes Verhalten“ zeigen; wenn sie in toxischen und/oder gewaltvollen Beziehungen verharren, usw.- dann können das Symptome von Komplextrauma sein.

Wenn Eigenverantwortung so definiert wird, dass es eine Leistung ist, die ein Individuum alleine schaffen muss, damit sich sonst niemand um es kümmern muss- und so eine Gesellschaftsverantwortung einfach ausradiert oder negiert wird, dann ist „Eigenverantwortung“ ein menschenunwürdiges Konzept.

Menschen dazu zu befähigen, sich im Leben tragen und halten zu können, Entscheidungen für sich treffen und darin Freiheit spüren zu können- das ist eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung und kein Privatvergnügen.

Wenn du nicht mitmachst, können wir dir nicht helfen. Wenn du dies und jenes bis dahin nicht kannst, fällst du durch. Wenn du wirklich wollen würdest, könntest du auch.

Alles Hilfreiche ist in dir selbst- du musst es nur nutzen.

Ich glaube, es ist gar nicht so selten, dass Gewaltüberlebende solche oder so ähnliche Sätze hören oder fühlen. In verschiedenen „Hilfekontexten“ können sie konfrontiert sein mit einer gewissen Härte und einem Autoritätsgebaren- vor allem dann, wenn „Heilungswege“ (zu) lange dauern, (zu) viele Rückschläge erfolgen, „es stagniert“, Symptomatiken aufflammen oder sich (zu) hartnäckig halten.

Ich unterstelle jenen, die diese Aussagen vermitteln, noch nicht mal immer Herzlosigkeit, Unprofessionalität, Arroganz oder Machtprobleme- vielleicht liegt auch manchmal einfach eine Mitgefühlsermüdigung vor, oder Verzweiflung aufgrund mangelnder Distanz, oder eine Fehleinschätzung dessen, was das Gegenüber als „Ermutigung“ empfinden könnte, o.a.

Vielleicht will manchmal eigentlich ausgedrückt werden, dass man an die Stärke/Kraft im Innern des/der Überlebenden glaubt- und daran, dass sie/er in der Lage ist (oder sein könnte), eigenes Wissen und eigene Ressourcen für sich zu nutzen.

Leider kommen aber meiner Erfahrung nach eher Ohrfeigen an, statt Schulterklopfen- in Kombination mit dem Eigenverantwortungsarschtritt.

Eine Ahnung, ein Gefühl oder sogar ein Wissen dazu zu haben, dass Antworten in einem selbst liegen, dass es eine „innere Weisheit“ gibt- das kann energetisieren, motivieren, stärken, erleichtern. Betroffene können Selbstwirksamkeit erleben. Wenn Bezugspersonen klar in ihren Grenzen sind, mit Respekt und Wohlwollen im Kontakt sind und bleiben, können sich auch aus einer instabilen Basis viel Gutes und viel Autonomie entwickeln.

Der Knackpunkt ist, dass Betroffene eben nicht immer auf das zugreifen können, was hilft. Wenn ihnen bewusst ist, dass „die Lösung in ihnen liegt“, und wenn ihnen das von außen auch noch immer wieder auf´s Brot geschmiert wird- dann fühlt es sich furchtbar und beschämend und absolut lähmend an. Dann können da noch so viele Ressourcen, Skills und „Weisheitspunkte“ im System vorhanden sein- wie schrecklich ist es, zu spüren, dass man sie nicht erreichen, nicht verwenden kann?! Wie erniedrigend ist es, wenn andere das aber erwarten und voraussetzen?

Und ja, natürlich gibt es sie, die manipulativen Aktionen, die Drama-Inszenierungen, die mehr oder weniger lauten Hilfe-Rufe, die (Gegen-)Übertragungskatastrophen und das „im-Sumpf-versacken“. Und ja, es gibt auch die Momente, wo der Eindruck entsteht, jemand hätte sich in seinem Leid häuslich eingerichtet und WILL gar nicht raus.

Geht es da tatsächlich um das Wollen oder eher um das Können? Was hilft den Betroffenen an diesem Punkt wirklich?

Klar ist, dass es in Hilfekontexten Grenzen braucht- und vielleicht sehen die manchmal auch so aus, dass ein Arbeitsbündnis oder „Hilfevertrag“ beendet wird. Manchmal geht nur noch „Loslassen“, wenn eine Dynamik zu zerstörerisch, „vertrackt“ oder explosiv geworden ist.

Was aber ist mit dem „Davor“? Wie viele Schritte gab es bis zu dem „nichts geht mehr“-Zeitpunkt? Wie sah der Prozess dieser Spirale aus, die dazu führt, dass sich nichts (und niemand) mehr (weiter-)bewegen kann?

Wie wird „Eigenverantwortung“ eigentlich definiert? Welche Haltung steht dahinter? Was sage oder höre ich zwischen den Zeilen? Wer nimmt welche Fähigkeiten als gegeben an- und wurde das überhaupt mal verifiziert? Gibt es einen gemeinsamen Fokus, gemeinsame Ziele, einen roten Faden?

Die Entscheidung treffen zu können, mit sich selbst achtsam und liebevoll umzugehen und das mit aller Konsequenz- diese Entscheidung wird nicht erleichtert durch (angedrohte) Sanktionen oder rabiate Beziehungsabbrüche. Diese führen höchstens zu einer erneuten, gewünschten Anpassungsleistung. Und dann? Dann steckt unter dem Mantel der vermeintlich erlernten „Eigenverantwortungsübernahme“ einfach nur eine simple „Traumaantwort“.

Schuldzuweisungen und -verschiebungen sind ein Teil von Gewalttraumatisierungen. Als Kind erleben viele Betroffene, dass ihnen Schuld zugewiesen wird: Für das, was passiert oder nicht passiert, oder dafür, wer sich wann wie warum verhält, u.a. Wer trägt wofür „Verantwortung“?

„Das Verb verantworten entstammt dem mittelhochdeutschen verantwürten mit der ursprünglichen Bedeutung sich als Angeklagter vor Gericht verteidigen.“ (Quelle: Wikipedia)

Die Grenze zwischen „Verantwortung“ und „Schuld“ kann hauchdünn sein. Deshalb ist es so wichtig, heute genau darauf zu achten, diese beiden Begriffe zu entkoppeln.

Es ist nicht die Schuld der Betroffenen, dass ihr „Schuld-Ohr“ so aufmerksam zuhört und ihr traumatisiertes Gehirn entsprechend „trauma-logisch“ verwertet und reagiert. Wenn sie Unterstützung dabei bekommen, diese inneren Vorgänge verstehen, reflektieren und selbst Einfluss darauf nehmen zu können, erst DANN kann man das Ganze als „ihre Verantwortung“ bezeichnen.

Und es ist nicht die Schuld der Helfer*innen, wenn ihre Worte oder Aktionen traumaassoziierte Vorgänge in den Betroffenen aktivieren. Aber es liegt in ihrer Verantwortung, sich Wissen darüber anzueignen, ihre Arbeit zu reflektieren und ihre eigene(n) Haltung(en) zu überprüfen.

Ich probiere es/mich aus. Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Ich darf Fehler machen. Ich darf mir Zeit lassen. Jede Antwort ist okay. Gestern war es so, heute ist es anders, morgen vielleicht auch. Nichts ist in Stein gemeißelt. Es geht um mich.

Das ist Freiheit.

Die Basis, die wir brauchen.

Die Freiheit, sich (weiter) zu entwickeln

1999:

Wir besitzen kein Handy, nutzen noch Faxgeräte und das „Internet“ ist ein Fremdwort für uns. Wir studieren an einer Fachhochschule Sozialpädagogik, lesen dafür Bücher aus Bibliotheken und verwenden Overhead-Projektoren bei Referaten.

Wir bilden uns über das, was in Deutschland an Literatur verfügbar ist.

Während eines Klinikaufenthaltes erhalten wir die Diagnosen „posttraumatische Belastungsstörung“ und „multiple Persönlichkeitsstörung“.

Und dann?

Damals wurden wir mit diesen beiden Diagnosen und dem Angebot, in einem Jahr wiederkommen zu können, aus der Klinik nach Hause (d.h. in unsere Studentenbude) entlassen. Glücklicherweise hatten wir eine ambulante Psychotherapeutin, die mit uns zusammen darauf schauen konnte, was wir jetzt mit den Infos anfangen würden, bzw. was das konkret für unser Leben, unseren Alltag bedeutete. Für sie waren die Diagnosen keine Überraschung, sie hatte bereits die Vermutung gehabt, als wir in die Klinik gingen. Für uns war vor allem die Begrifflichkeit des „Multipel-Seins“ zum Einen ein großer Schreck, zum Anderen eine große Erleichterung. Manche von uns hatten schon länger ein Bewusstsein dafür, dass wir Viele sind; andere von uns waren für dieses Wissen (inklusive der Hintergründe) amnestisch und innerlich abgeschirmt.

Die Symptome, wegen derer wir überhaupt in die Klinik gegangen waren, konnten wir schon seit unserer Jugend als Traumafolgeerleben rahmen. Dass wir familiäre, sexualisierte Gewalt erlebt hatten, war klar. Welches Ausmaß und welchen weiteren Kontext sie hatte, konnten wir erst nach und nach erinnern und verstehen. Dieser Erkenntnisprozess war sehr schmerzhaft, beängstigend, verwirrend, belastend, oft überfordernd- und er war absolut nötig, um uns langfristig in Sicherheit bringen zu können. Hätten wir damals keine Unterstützung gehabt, wäre dieser innere Prozess vermutlich abgebrochen (oder gar nicht erst in Gang gekommen)- mit der Konsequenz, dass wir in Gewaltstrukturen geblieben wären, die wir gleichzeitig dissoziierten.

Ein Jahr nach dem ersten Klinikaufenthalt schloss sich ein zweiter an, als sogenannte Intervallbehandlung. Unsere Symptomatik hatte sich in den 12 Monaten verändert: Wir hatten mehr dissoziatives Erleben, mehr Chaos, mehr Flashbacks, mehr Leid und Stress in unserem Alltag- und gleichzeitig mehr Klarheit. Unsere ambulante Psychotherapeutin begleitete uns durch diverse große und mittelgroße Krisen und nebenbei hangelten wir uns durch´s Studium. Wir lernten uns innerlich besser kennen, es wurde sicht- und spürbar, wie wir strukturiert sind- und das lief nicht fein säuberlich, gesittet und sortiert ab, sondern durcheinander, brüchig und dramatisch. DASS wir Viele sind, war nicht die Frage- sondern WIE wir Viele sind und WARUM- darum ging es. Wir bekamen erstmals überhaupt eine Wahrnehmung dazu, wie viel Leidensdruck in uns, in diesem einen Körper, vorhanden ist und arbeiteten daran, herauszufinden, woher er kommt und wie man ihn reduzieren könnte.

Fachliteratur und Selbsthilfeliteratur gab es damals auch schon- und natürlich schauten wir (und auch unsere ambulante Therapeutin), ob wir etwas Nützliches für uns finden konnten. Wir hatten den Wunsch, uns zu verstehen, bzw. verstanden zu werden und wir brauchten dringend Hoffnung: Wie kann man (trotzdem) weiterleben? Sind wir die Einzigen, denen es „so“ geht?

Der zweite Klinikaufenthalt endete mit noch mehr Chaos, als der erste: Wir hatten begriffen und innerhalb unseres Systems kommuniziert, dass die Gewalt noch nicht vorbei war. Was für eine katastrophale und gleichzeitig lebenswichtige Erkenntnis!

2000-2002:

Was ist das, was wir da erinnern? Wie können wir beschreiben, was wir erlebt haben? Wir brauchen Hilfe und wir haben Angst, dass man uns nicht glaubt. Wir schwanken zwischen „hinschauen wollen und müssen“ und „auf keinen Fall erkennen dürfen“.

Unsere Erinnerungen sind fragmentiert. Manche innere Bilder verändern sich im Laufe der Zeit, manche Details passen nicht zusammen, Vieles ist unklar. Aber die Basis bleibt: Die Gewalt hat einen größeren Rahmen, sie ist organisiert.

Einzelne Aspekte bekommen eine besondere Bedeutung: Da war etwas mit „satanistischem“ Bezug. Da war etwas, zu dem das Wort „Kult“ passen könnte.

Wir ringen nach Worten.

Wir schauen, wo und wie andere Menschen Worte finden. Manches kommt uns bekannt vor und wir sind froh, dass wir Begriffe übernehmen können und uns so besser ausdrücken zu können. Manches passt für uns nicht- und nicht alles davon können wir sofort zur Seite schieben. Manches braucht auch Zeit, um innerlich hin und her bewegt, überprüft und dann wieder von sich distanziert zu werden.

Und jetzt?

Heute heißt es nicht mehr „multiple Persönlichkeitsstörung“, sondern „Dissoziative Identitätsstruktur“. In den letzten Jahrzehnten hat sich so viel im Bereich der Traumaforschung entwickelt, es gibt neue Erkenntnisse, neue Erfahrungen und Behandlungsansätze. Alte Überzeugungen wurden zum Teil revidiert, angepasst, ergänzt.

Fach- und Selbsthilfepublikationen gibt’s inzwischen auf verschiedenen Kanälen, nicht mehr nur auf Papier. Betroffene organisieren und äußern sich selbstvertretend.

Wie gut, dass Bewegung und Veränderung stattfinden!

Wir nutzen inzwischen andere Beschreibungen als früher für das, was wir erlebt haben und erleben. Das ist das Ergebnis jahrzehntelanger innerer Arbeit und Reflexion- und hat sehr viel Mut, Kraft und Durchhaltevermögen gebraucht. Zum Beispiel bezeichnen wir unsere Gewalterfahrungen nicht mehr als „rituell“, sondern vorwiegend als „organisiert sexualisiert“ und den Täter*innenkreis nicht mehr als „Kult“, sondern als „Gruppierung“.

Das Erinnerungsmaterial, was uns heute zur Verfügung steht, ist sortierter, umfangreicher, nachvollziehbarer, als jene Bruchstücke von vor 26 Jahren. Das, was wir damals zum Beispiel in einen „satanistischen“ Kontext brachten, können wir heute differenzierter betrachten: Täter*innen haben ritualisierte Abläufe genutzt, besondere Effekte entstehen lassen, bewusst getäuscht und verwirrt- und nicht zuletzt auch mit besonders ausgestatteten „Kulissen“ einen bestimmten Kund*innenstamm bedient.

„Rituelle Gewalt“ ist inzwischen ein Begriff, an dem sich wortwörtlich die Geister scheiden. Wie viel Energie an verschiedenen Stellen immer noch und immer wieder dafür verwendet wird, hier die Grundsatzfrage der Glaubhaftigkeit von Betroffenenberichten durchzukauen, bzw. die Existenz grundsätzlich anzuzweifeln, statt den Fokus auf eine Weiterentwicklung zu richten, wundert und frustriert uns.

Hätten wir uns in unserem eigenen Prozess derart gesperrt, uns Änderungen in unseren Haltungen oder Einschätzungen versagt, uns darauf festgenagelt, dass „wer A sagt, nicht in zehn, zwanzig Jahren B sagen darf“- dann wären wir schlicht und einfach verreckt. Vielleicht ganz real körperlich, vielleicht auch auf der psychischen, emotionalen Ebene. Es gäbe uns jedenfalls heute sicher nicht so, wie wir jetzt sind.

Wer hätte davon etwas gehabt?

Die Freiheit

Es ist so spannend, was und wer einem auf dem Weg begegnet. Innerlich und äußerlich. Da sind Menschen, mit denen man in Resonanz gehen kann; mit denen man auf einer Wellenlänge ist, vielleicht kurz, vielleicht auch länger; mit denen man streitet und diskutiert; an denen man sich reibt oder auch eine Weile abarbeitet, bis man loslassen kann. Da sind Theorien, die eine Zeit lang passen und sich dann widerlegen lassen. Da sind Erfahrungen, die etwas in einem „zurechtruckeln“. Da sind diverse Blicke in den Spiegel, die mehr oder weniger weh tun, trösten, versöhnen, irritieren, spalten, verbinden.

All das kann man nur erleben, wenn man sich die Freiheit dafür gestattet und nimmt.

Wenn man bleibt, wo und wie man ist – weil man (vermeintlich?) muss oder nicht anders kann, oder weil es irgendwie so schön bequem ist- dann bleibt man „auf der Strecke“.

Die Freiheit, sich bewegen und entwickeln zu können und zu dürfen, müssen sich Gewaltbetroffene (egal, aus welchem Kontext) innerlich und äußerlich hart erkämpfen.

Helfer*innen, die es vielleicht leichter damit haben, weil sie mit einer anderen Basis, anderen Privilegien ausgestattet sind, können viel dazu beitragen, dass Betroffene eben diese Bewegungs- und Entwicklungsmöglichkeiten wahrnehmen können.

Fachleute oder auch Medienvertreter*innen, die über einen gewissen Status verfügen, ggf. auch eine besondere Reichweite haben, gehört und gelesen werden (aber auch jene, die noch nicht so etabliert sind), könnten und sollten dies auch für entsprechende öffentliche Statements nutzen:

Wie ist der aktuelle Stand der Dinge in der Traumaforschung?

Welche Begrifflichkeiten wurden/werden weshalb angepasst?

Wie steht man zu Veröffentlichungen und einzelnen Inhalten von vor 20, 30 Jahren- und warum sieht man heute ggf. etwas anders?

Welche Erkenntnisse wurden wodurch gewonnen?

Welche Zukunftspläne und Möglichkeiten, Betroffenen zu helfen, existieren- und was (wer) steht dem ggf. noch im Weg?

Und so weiter, und so fort.

Wir wünschen uns sehr, dass „es“ weiter-gehen darf.

Die Freiheit darf nicht unter dem Mantel der Gewohnheit ersticken.

DIS und Arbeit/Beruf/Ausbildung- „Outing“ ja oder nein?

„Wie seid ihr bzgl. der DIS im Bereich Ausbildung, Studium, Beruf etc. umgegangen bzw. wie geht ihr damit um?

Falls ihr eine Ausbildung macht/ gemacht habt, studiert/ studiert habt oder arbeitet, habt ihr die DIS in diesen Bereichen offen gemacht (z.B. gegenüber Arbeitgeber*in, Kolleg*innen)?

Wie haben die Personen die DIS aufgenommen? Oder wenn ihr nicht über die DIS erzählt habt, was sprach aus eurer Sicht dagegen?

Diese Fragen wurden hier gestellt und wir mögen gerne darauf antworten- und freuen uns auch, wenn noch andere dazu etwas schreiben möchten (in den Kommentaren).

Wir haben nach der Schule ein Sozialpädagogik-Studium begonnen und fast zeitgleich dazu die DIS-Diagnose während eines Klinikaufenthaltes erhalten. Für uns war damals klar, dass wir über uns, unsere Biographie und diverse Traumafolgesymptome im Studiumskontext nicht offen sprechen wollten. Es gab zwei, drei Freundinnen in unserem Umfeld und unsere Therapeutin, die von der DIS wussten- mehr nicht. Die ganze „Komplextrauma-Thematik“ war für uns so privat, so verletzbar, dass wir viel versteckt, überspielt, irgendwie kompensiert haben, um sie unbedingt aus unseren sozialen Kontakten herauszuhalten. Wir hatten Angst vor Ablehnung, Stigmatisierung, „Entdeckt-Werden“, Schutzlosigkeit- und im Zusammenhang mit unserem Studienbereich der Sozialpädagogik auch große Sorgen vor „Disqualifizierung“ und Stigmatisierung.

Während des Studiums und danach haben wir immer wieder auch in verschiedenen Jobs im sozialen Bereich gearbeitet, z.B. im Frauenhaus, in einer Erziehungsberatungsstelle, in einem Mädchentreff, in einem Mutter-Kind-Treff, im Sozialdienst eines Altenheims, in der Kinderbetreuung, usw. Und wir haben uns in den ganzen Jahren dort nur ein einziges Mal als Viele geoutet: Bei unserer Chefin im Mutter-Kind-Treff. Und zwar erst nach unserer Kündigung dort. Wir hatten gekündigt, weil wir uns und unseren Fähigkeiten nicht vertrauten, weil wir Angst hatten, Fehler zu machen- es war sozusagen eine „prophylaktische Kündigung“. Das hatte die Chefin gar nicht nachvollziehen können, denn sie war mit unserer Arbeit zufrieden und sah gar keine Schwierigkeiten (weder bei uns persönlich, noch bei unserer fachlichen Qualifikation)- sie war ganz irritiert, dass wir aufhören wollten und fragte intensiv nach den Gründen. Das war dann das erste Mal, dass wir über die DIS, bzw. unsere Komplextraumatisierung, im beruflichen Zusammenhang sprachen- nicht, weil wir mussten oder es einen Erklärungsdruck gab, sondern weil wir die Chefin mochten und gerne wollten, dass sie uns besser versteht. Die Chefin fiel aus allen Wolken, weil sie „nie was bei uns bemerkt hatte“. Sie sagte dann noch mit einem Lächeln: „Mensch, die DIS ist doch kein Grund zur Kündigung- ich würde nur gerne wissen wollen, wer hier eigentlich arbeitet und wer wofür zuständig ist.“ Das war sehr berührend für uns- aber wir sind trotzdem bei der Kündigung geblieben.

Im sozialen Bereich offen als Viele zu arbeiten, ist für uns auch heute noch (fast) unvorstellbar. Wir sind ja nicht mehr als Sozialpädagogin tätig, sondern machen die Peer- und Angehörigenarbeit im Bereich DIS. Und da ist ja von Anfang an klar gewesen, dass wir selbst betroffen sind- logisch, beim peer-to-peer-Konzept.

Wären wir jedoch als Sozialpädagogin irgendwo angestellt, würden wir uns ziemlich sicher nicht „outen“. Warum auch? Natürlich kann es sich ergeben, dass ein so persönliches, vertrautes Arbeitsverhältnis entsteht, dass eben auch solche Themen besprochen werden können. Oder es gibt einen „besonderen Bedarf“ bei den Arbeitsbedingungen, zum Beispiel im Zusammenhang mit einer anerkannten Schwerbehinderung, o.a.- dann kann es nötig, wichtig oder gut sein, über die DIS zu sprechen.

Wir bekommen jedoch immer noch und immer wieder bzgl. der DIS diverse Vorurteile mit, gerade auch im sozialen Bereich. Die Bilder/Mythen in den Köpfen vieler Menschen, was eine DIS ist, wie sie sich zeigt, was dahintersteckt, was zu befürchten sein könnte, usw., sind zum Teil dermaßen schräg und diskriminierend, dass ein Outing als Viele z.B. für Sozialarbeiter*innen, Erzieher*innen, Psycholog*innen, Therapeut*innen, Lehrer*innen o.a. ganz massive negative Konsequenzen haben kann.

Das bezieht sich natürlich auch auf andere psychische Erkrankungen, deren Offenlegung z.B. zu Jobverlust, Degradierung, Aberkennung von Qualifikation, u.a. führen kann. Bei Komplextrauma und Dissoziativer Identitätsstruktur scheint aber auch eine besondere Angst vor „Gefährdung“ mitzuschwingen: „Kann man einem Viele-Menschen trauen? Ist er zuverlässig und vertrauenswürdig in der Betreuung von Kindern/vulnerablen Gruppen? Kann man sich wirklich sicher sein…?“ Diese spezielle Angst haben wir schon häufiger gehört, erfahren, erlebt im Kontakt mit Mitarbeiter*innen sozialer Institutionen oder anderweitig im sozialen Bereich Tätigen/Verantwortlichen- und neben aller begründeter Vorsicht, die man eben generell (!) Menschen gegenüber haben sollte, wenn man ihnen jemanden oder etwas anvertraut (!), ist da einfach eine heftige Diskriminierung für uns bzgl. der DIS spürbar.

Wenn jemand alle fachlichen Voraussetzungen erfüllt, vielleicht sogar noch umfangreicher ausgebildet ist, als andere Mitbewerber*innen/Kolleg*innen, aber trotzdem doppelt und dreifach beweisen muss, was er/sie kann und dass er/sie keine „Gefahr“ darstellt, dann ist das Diskriminierung.

Und die würden wir immer noch und weiterhin im „sozialen Bereich“ befürchten, leider. Deshalb gilt für uns: Vorsicht beim Outing.

Uns interessiert sehr, wie andere Viele das für sich handhaben und sehen, egal, in welchem Arbeitsfeld sie tätig sind.

Vielleicht mögt Ihr ja hier erzählen…

„Bitte frag nach mir, wenn du mich vermisst!“ – (Langjährige) Beziehung(en) bei/mit DIS

„Viele sein“ bedeutet, ein Leben mit mehreren Persönlichkeiten/ Persönlichkeitsanteilen/ Innenpersonen /… zu führen. Wie das konkret aussieht; was es für den Alltag, die Selbst- und Fremdwahrnehmung, soziale Kontakte, usw. bedeutet, ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Auch die Art, wie Beziehungen gestaltet und gelebt werden, welche Schwierigkeiten und Herausforderungen darin liegen, ist natürlich verschieden.

Von uns selbst und von anderen Menschen mit DIS kennen wir diverse Fragen, Probleme und Hindernisse, die im Zusammenhang mit Freundschaft, Partner*innenschaft, generell sozialen Kontakten entstehen können. Auch im Austausch mit An- und Zugehörigen haben wir verschiedene Aspekte dazu näher beleuchtet und besprochen.

Ein Thema, das immer wieder auftaucht, ist: „Wie viel Raum bekommt das Vielesein in unserer Beziehung?“ oder auch: „Wer ist eigentlich inwiefern mit wem wie befreundet / verliebt / verpartnert?“

Partner*in, Freund*in, Herzensmensch, o.a. von einer Viele-Person zu sein, bedeutet, in Kontakt mit einer Gruppe zu sein. Wie wird das gelebt, wer hat wie viel Raum und Anteil, mit wem besteht welche emotionale Verbindung?

Welche Bedeutung hat die Beziehung innerhalb des Viele-Systems? Wer trägt Verantwortung wofür, wer ist zuverlässig ansprechbar, welche Bedürfnisse gibt es im Kontakt mit dem Gegenüber und andersherum?

Wie ist das eigentlich, wenn es „Antipathien“ gibt? Wenn welche aus dem System den/die Freund*in / Partner*in nicht mögen- und/oder umgekehrt? Darf das sein und wie gehen beide/alle damit um?

Wenn ich einen Menschen mit DIS liebe/mag, ist es dann auch okay, wenn ich nicht alle/alles an/in ihm mag, oder ist das dann irgendwie diskriminierend? Und wenn ich merke, dass es Persönlichkeitsanteile gibt, die mich ablehnen- muss ich damit zwangsläufig klar kommen (wie?)? Vielleicht „stört“ das die Beziehung auch so sehr, dass es gar nicht miteinander funktioniert? Oder vielleicht schaffe ich es nicht, (emotional) zu differenzieren, obwohl mir bewusst ist, dass ich mit mehreren zu tun habe?

Es gibt Beziehungen, wo nur einzelne Innenpersonen involviert sind. Es gibt welche, wo Eine*r oder manche eine Liebesbeziehung mit jemandem haben, die anderen aber nicht (sondern „nur“ Freundschaft oder „friedliche Koexistenz“ oder „Duldung“). Es gibt auch Beziehungen, in denen nicht offen ist, dass eine DIS vorliegt- und die trotzdem „nah“ sein können. Ob und wie das Vielesein Raum bekommt, wie (viel) es thematisiert wird und wie einzelne Kontakte mit den verschiedenen Innenpersonen gestaltet werden, kommt eben auf die Menschen an, die sich begegnen und wie sie darüber sprechen (können/wollen).

Für uns ist klar, dass wir keine engeren Beziehungen haben können, in denen unser Vielesein verschwiegen wird / werden muss. Wir können lockere Kontakte haben, in einem Verein sein, o.a., ohne dass die DIS da mitgeteilt werden muss oder will. Aber wenn wir mit jemandem befreundet sind, bzw. sich eine Freundschaft aufbaut, wird es irgendwann ausgesprochen. Das kann dazu führen, dass sich an diesem Punkt der Kontakt wieder trennt (und das haben wir schon als sehr schmerzhaft und verletzend erlebt). Aber für uns gibt es keine Alternative: Persönliche, ehrliche, authentische Beziehungen brauchen diese Klarheit.

Wenn sich eine Freundschaft oder sonstige „Herzensbeziehung“ entwickelt und über Jahre etabliert hat, so wie zum Beispiel unsere Liebe zu unserer Ehefrau, dann ist da auch Übung miteinander entstanden. Es ist mit der Zeit klarer und vertrauter geworden, was wie geht und was nicht, welche Grenzen und Bedürfnisse es gibt, wie Kommunikation gut gelingt- im Idealfall ist man irgendwie „im Fluss“ miteinander. „Es hat sich eingespielt“ (besonders auch, wenn man zusammen wohnt/lebt)- das Risiko darin ist, dass man gegenseitig ein bisschen „betriebsblind“ wird (so wie in allen anderen langjährigen sozialen Beziehungen, egal ob mit oder ohne DIS).

Zu Beginn einer Beziehung kann das Vielesein „aufregend und neu“ sein, es gibt viel zu entdecken, zu besprechen, miteinander (erstmalig) zu erleben; das Kennenlernen findet ggf. immer wieder neu statt (mit den verschiedenen Innenpersonen), man wird vertrauter, aber es ist einfach spannend und „lebendig“.

Im weiteren Verlauf kehrt evtl. dann mehr Ruhe ein, mehr Sicherheit im Umgang, man hat mehr Überblick über die jeweilige innere Struktur (egal ob mit oder ohne DIS), das Tempo wird vielleicht etwas langsamer. „Wie schön, wir sind beieinander angekommen!“ ist die eine Seite. Die andere Seite könnte sein: „Und jetzt? Irgendwie ist mir langweilig geworden.“

Eine DIS kann in einer langjährigen Beziehung nach und nach „unbemerkter“ werden (bewusst/gewollt oder auch nicht). Sie kann „so nebenbei“ mitlaufen, aber mit weniger Aufmerksamkeit und Fokus, weniger Aufregung, weniger Druck und Anspannung. So, wie das auch Betroffene selbst möglicherweise für sich im Laufe der inneren Auseinandersetzung erleben: Vom Drama rund um die Diagnose und erster bewusster Wahrnehmung, dem ersten inneren Kennenlernen und spürbarem Chaos, dem Schock, Stress, der intensiven Traumafolgesymptomatik- hin zu „ruhigeren Fahrwassern“, in denen zwar natürlich nicht alles easy läuft (wie auch?!), aber trotzdem mehr Stabilität vorhanden ist.

Jahrelange innere Arbeit kann eben genau das bewirken: Mehr Bodenhaftung, sich selbst besser kennen und händeln können, Reduktion des Stresspegels, inneres und äußeres Auspendeln. Mehr durchatmen und lockerlassen. Nicht im Sinne von „Juchhu, ich bin geheilt!“, sondern von „Okay, so kann ich / können wir gut leben.“

Die „ruhigeren Fahrwasser“ zeigen sich nicht nur in inneren, sondern auch in äußeren Beziehungen/Kontakten. Was für eine Erleichterung kann das sein, was für ein herzerwärmendes Gefühl von „Zuhausesein“ kann das mit sich bringen! Wir sind zutiefst dankbar, dass wir das so auch in unserer Ehe erleben dürfen.

Und gleichzeitig sagen wir: Obacht!

Die Gefahr, dass welche innen in Vergessenheit geraten, dass sich eine vertraute, (bequeme?), automatisierte Verdrängung einschleicht, dass schwierige Themen zugunsten einer vermeintlichen „Entspanntheit“ ausgeblendet werden, kann groß sein. Eine (oder mehrere) Beziehung(en) und ein Alltag, wo nur Einzelne aus dem System angesprochen, gefordert, eingebunden sind, tragen dazu bei, dass sich genau diese „Exklusivität“ verfestigt. Nicht umsonst kämpfen viele Betroffene mit einem sogenannten „Funktionsmodus“, der einerseits lebensrettend und (über-)lebenswichtig sein kann (und zudem sozial „belohnt“ wird), andererseits aber auch wie ein Korsett einschnürt, Bewegungsfreiheit nimmt, furchtbar anstrengt- und innen einige(s) „hinten wegfallen“ lassen kann, was sich nur sehr mühsam wieder in einen Fokus holen lässt.

„Was ist eigentlich mit L.? Ich habe sie schon lange nicht mehr gesehen.“

„Wie geht es eigentlich M.? Ich vermisse ihn.“

„Habt Ihr im Moment innen Kontakt zu P.? Falls ja, könntet Ihr ihr liebe Grüße von mir ausrichten?“

„Ich würde den Kindern gerne ein Geschenk machen. Einfach so, weil ich an sie denke. Hast du / habt Ihr eine Idee, worüber sie, bzw. manche von ihnen, sich gerade freuen würden?“

„Ich habe mich gestern mit T. gestritten. Ich weiß, du hast damit nichts zu tun. Aber mir hängt das noch nach und ich bin noch sauer / verletzt / irritiert / nachdenklich. Ich würde mich gerne mit T. aussprechen, sobald das möglich ist.“

… solche und ähnliche Sätze sind für uns zum Beispiel sehr hilfreich und wichtig, wenn wir sie von einer Beziehungsperson hören/lesen. Sie zeigen uns, dass wir ihr wichtig sind (und zwar gesamtsystemisch) und unterstützen uns dabei, selbst nicht nachlässig zu werden in der Arbeit am inneren Kontakt.

„Viele sein“ bedeutet, ein Leben mit mehreren Persönlichkeiten/ Persönlichkeitsanteilen/ Innenpersonen /… zu führen. Es bedeutet nicht, dass es 24/7 in Gesprächen und Kontakten genau darum gehen muss und nichts anderes daneben Platz haben kann. Beziehung mit einem Viele-Menschen braucht aber ein Bewusstsein dazu, dass die DIS 24/7 Einfluss darauf hat/haben kann, wie Dinge wahrgenommen, gespeichert, erinnert, gefühlt, kommuniziert werden- und wie Bindung gespürt und gehalten werden kann.

Ohne Geduld, Arbeit, Durchhaltevermögen und die Bereitschaft, in Bewegung zu bleiben, gerät all das vielleicht innen und außen in Vergessenheit.

Im besten Fall passiert es aber nicht. 🙂

DIS-Trialog-Treffen am 25.Juni

Es findet ein weiteres Trialog-Treffen für Menschen mit Dissoziativer Identitätsstruktur, Angehörige, privat und professionell Unterstützende statt:

Am 25. Juni 2024 von 13-16 Uhr im BELLA DONNA HAUS in Bad Oldesloe.

Das Thema für den thematischen Austausch in Kleingruppen lautet: Wertschätzung / „sich gesehen fühlen“.

  • Was bedeutet „gesehen werden“ für Menschen, die Viele sind / Personen aus einem DIS-System?
    • Wann fühlt sich Wertschätzung und Anerkennung von anderen nach „gesehen werden“ an und wann eher als unpassend / dass man nicht gesehen wird?
    • Gibt es Bereiche, die von außen eher anerkannt / wertgeschätzt werden als andere? Gibt es Bereiche, die oft nicht gesehen werden? Wie würdet ihr es euch wünschen?
    • Woran bemerkst du als Angehörige*r / Fachperson, dass dein Gegenüber sich gesehen fühlt? Wann gelingt Kontakt? Und was brauchst du, um dich gesehen / wertgeschätzt zu fühlen?
  • Wie kann Wertschätzung und Anerkennung innerhalb eines Viele-Systems aussehen?
    • Wie geht ihr in einem Viele-System mit Wertschätzung und Anerkennung untereinander um?
    • Was ermöglicht es, sich untereinander gesehen und/oder wertgeschätzt zu fühlen? Bis zu welchem Grad ist das möglich?
    • Wie können Angehörige/ Fachpersonen dabei unterstützen?
  • Was braucht es auf gesellschaftlicher Ebene, um sich gesehen/ anerkannt zu fühlen?

Hier findet Ihr weitere Infos und die Möglichkeit zur Anmeldung: „Frischer Wind“ Juni-Trialog

Der Trialog im Juli wird online stattfinden: „Frischer Wind“ Juli-Trialog online