Kontaktpunkte

Zum 25.11.: In Sicherheit gebracht- und dann?

2001 machten wir in aller Konsequenz unsere Schritte raus aus der organisierten Gewalt. Wir waren aufgrund der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung und Dissoziativen Identitätsstruktur bereits seit 1998 sowohl in ambulanten, als auch in stationären psychotherapeutischen Behandlungen gewesen. Dies ermöglichte uns, den Schritt zu wagen, „von dort wegzugehen“.

Die Entscheidung zu treffen, alle Kontakte abzubrechen, für körperliche Sicherheit zu sorgen und „erst mal in der Anonymität zu verschwinden“, schafften wir damals auch deshalb, weil es Menschen gab, die uns darin unterstützten. Weil es positive Beziehungs- und Bindungserfahrungen gab, (auch) mit Personen, die dem Hilfesystem angehörten. Die wenigsten von ihnen hatten Erfahrungen und Fachwissen zum Thema „Dissoziative Identitätsstruktur“ und „organisierte, sexualisierte Gewalt“. Sie waren jedoch offen für uns, bereit zu lernen, auszuprobieren, mitzugehen, zu reflektieren – sich einzulassen und uns in dem, was wir ausdrückten, brauchten, mitteilten ernst zu nehmen und anzuerkennen.

„Uns in Sicherheit zu bringen“ erwies sich als komplizierter, als gedacht/gehofft: Wo gibt es Schutzeinrichtungen? Wer begleitet einen „Ausstieg“ aus organisierten Strukturen? Wie schafft man es, „unter dem Radar“ zu verschwinden?

Das, was es damals, vor 24 Jahren, für uns gab, war eine kurzzeitige Unterbringung in der geschlossenen Psychiatrie und ein anschließender Platz in einem Frauenhaus. Einem Haus, das zuvor noch nie (bewusst) einen Menschen mit einem Hintergrund wie unserem aufgenommen hatte und trotzdem (!) bereit war, mit uns zu schauen, was wie gehen kann. Und dann an seine Grenzen kam.

Heute sieht die Versorgungssituation für gewaltbetroffene Menschen, die „sich in Sicherheit bringen wollen“, leider nicht besser aus, obwohl Verantwortungsträger*innen wissen, wie schlimm die Lage ist. Frauenhausplätze sind rar, Hilfeinstitutionen müssen um die Finanzierung ihrer Arbeit bangen und kämpfen, spezielle Schutzeinrichtungen für Opfer von Menschenhandel, Zwangsprostitution, organisierter Gewalt sind praktisch nicht vorhanden. Wie jedes Jahr weisen auch heute wieder viele engagierte Menschen auf die Bedeutung des 25.Novembers, dem „Tag gegen Gewalt gegen Frauen und Mädchen“ (#orangedays) hin (wir bezeichnen ihn lieber als „Tag gegen patriarchale Gewalt“), es wehen Fahnen und Banner, Politiker*innen sagen dies und jenes (und kürzen trotzdem)- und „in Sicherheit“ sind weiterhin zu wenige.

Manchmal fehlt uns in Diskussionen über patriarchale Gewalt und ihre Formen und Varianten ein Fokus auf das Leben mit den Folgen. Was bedeutet für die Betroffenen denn eigentlich „Sicherheit“? Wie geht es für sie weiter, nach dem Frauenhaus, nach der Ambulanz, der vertraulichen Spurensicherung, der Akutpsychiatrie, dem Gerichtsprozess? Was brauchen sie mit den Folgen der erlebten Gewalt in ihrem Leben, um fühlen zu können: „Das ist mein Leben, ich bin selbstbestimmt und frei und ich mag es, dass ich da bin!“?

Es ist wichtig, dass das Beleidigen, Bedrohen, Belästigen, Schlagen, Vergewaltigen aufhört. Dass Körper und Seele geschützt werden vor weiteren Übergriffen, so gut das irgendwie möglich ist. Dass der Einfluss des/der Täter*in(nen) auf die/den Betroffene*n unterbunden wird. Das Ende der äußeren Gewalt ermöglicht einen Anfang: Zur Ruhe kommen und Erholung suchen, Grundbedürfnisse erkennen und versorgen, sich selbst wahrnehmen, sich selbst verstehen – wieder mehr zu sich kommen und dann herausfinden, wie es weitergehen kann/soll.

Damit es ein „Danach“ (nach der Gewalt) und/oder „Vorwärts“ überhaupt geben kann, brauchen Betroffene Unterstützung, die über „akut“ hinausgeht: Langfristige Begleitung komplextraumatisierter Menschen bedeutet zum Beispiel ambulante und stationäre Psychotherapie, Familienhilfe, Assistenzleistungen, Rechtsbeistand, medizinische und verschiedene therapeutische Versorgungen, „betreutes Wohnen“, finanzielle Unterstützung, u.a. Nichts davon ist für Betroffene wirklich leicht und zuverlässig zugänglich und erhältlich. Nichts davon ist etwas, das ganz selbstverständlich zu einem „Sicherheitspaket“ für jemanden, der patriarchale Gewalt erlebt und verlassen hat, gehören würde.

Wie sie mit den Gewalterfahrungen und ihren Folgen (weiter-)leben können und/oder wollen, ist ein großer Teil der inneren Auseinandersetzung von Betroffenen. Irgendwie muss/soll/will das, was erlebt wurde, „integriert“ werden und irgendwie muss/soll/will ein Platz in dieser Welt, in dieser Gesellschaft gefunden werden, d.h. Verbindung im Innern und im Außen hergestellt werden. Wir wünschten, Betroffene wären in diesem Prozess nicht so häufig so allein und „unbegleitet“, sondern hätten viel mehr „Andockmöglichkeiten“, sowohl im Privatbereich, als auch im „Hilfesystem“.

Als wir 2002 nachts im Zug auf dem Weg nach „weit weg“ saßen, waren wir krank. Wir hatten eine turbulente, temporeiche, sehr belastende Zeit hinter uns, bis unsere damalige gesetzliche Betreuerin einen einigermaßen „geschützten“ Wohnplatz für uns gefunden hatte. Sie saß uns gegenüber und schlief die ganze Fahrt, während wir bei jedem Halt des Zuges den Impuls verspürten, rauszuspringen. Wir waren zu krank, zu erschöpft und zu erstarrt, um das wirklich umzusetzen- und wir hatten wahnsinnige Angst. Vor dem, wovor wir flüchteten- aber viel mehr noch vor dem, was auf uns zukam. Wir fuhren in ein großes, umfassendes Nichts, hatten keine Ahnung, was eigentlich „Sicherheit“ für uns bedeuten könnte und ließen alles zurück, was wir kannten.

Inzwischen haben wir Klarheit, Wissen, Fühlen, Erfahrung dazu, wofür es sich lohnte, diesen Weg zu machen. Wir fühlen uns dort, wo wir leben, verbunden und „zu Hause“, haben weitere gute Beziehungs- und Bindungserfahrungen machen dürfen, uns stabilisiert, traumaverarbeitende, integrative Prozesse durchlaufen, sinnstiftende Tätigkeiten etabliert, u.a.

„Es ist richtig und wichtig, dass wir da sind und dass es unser Leben so für uns gibt!“ können wir denken, fühlen und sagen.

Vielleicht ist das ein „gutes Danach“, nach einer bisher sehr gewaltvollen, traumatisierenden Biographie.

Verletzt bleiben wir, auch wenn gleichzeitig Heilung stattfindet- weil Heilung von komplexen Gewalttraumatisierungen unserer Ansicht nach keinen „Endzustand“ meint, sondern einen lebenslangen Prozess.

Unser „Danach“ bedeutet eben nicht „vorbei“, sondern eher „daneben, dazwischen, parallel“.

So geht es vielen anderen Betroffenen ebenfalls.

Und das sollte man heute und ganz generell nicht vergessen.

Koalition, Opposition, Dissoziation: Über Systempolitik

„Wenn wir innen einen Bundeskanzler hätten, könnte der auch mal einen Idioten einfach feuern.“, sagt jemand, während wir Nachrichten schauen.

„Ein*e Bundeskanzler*in wird demokratisch gewählt“, entgegnet eine Andere „Und von Demokratie kann man bei uns ja nicht so richtig sprechen.“

„Wovon denn sonst? Diktatur? Anarchie? Strukturiertes Chaos?“

„Ein um Demokratie bemühtes, ursprünglich hierarchisch strukturiertes System mit Minderheitsregierung…“

...

Wir beobachten das, was in der Welt außen passiert, wie „Politik“ oder „Staatsführung“ aussehen kann – und fragen uns, warum Menschen eine Dissoziative Identitätsstruktur eigentlich so häufig exotisieren. Außensysteme und Innensysteme sind doch im Grunde gar nicht so verschieden und müssen sich mit ähnlichen Fragestellungen beschäftigen- um Wege zu finden, (gut) miteinander leben zu können.

Menschen teilen sich einen Planeten, ein Land, eine Stadt, ein Dorf, eine Siedlung, ein Haus und müssen sich organisieren. Das ist die Basis. Daraus entstehen unterschiedliche „Organisationsformen“: Mal bestimmt nur Eine*r, wo es langgeht, mal teilen sich mehrere bestimmte Verantwortungsbereiche; wer wann wie viel Macht, Einfluss, Möglichkeiten hat, kann mit Kampf, Krieg, Erbschaft, Traditionen, Wissen, Kapital, Status, Grundlagen, usw. zu tun haben.

Es gibt marginalisierte Gruppen, Unrecht, Diskriminierung, transgenerationale Weitergabe, Gewalt, Neid, Missgunst, Manipulation, Taktik, u.a.

Und es gibt Solidarität, Hilfsbereitschaft, Freund*innenschaft, Rettung, Vermittlung, Verbindung, Widerspruch, Einsatzbereitschaft, Gemeinschaft.

Wichtig ist, zu schauen, wie man miteinander kommuniziert, wie von wem Entscheidungen getroffen werden, ob es eine gemeinsame Richtung gibt, ob Kompromisse gefunden werden, wie Konflikte ausgetragen werden.

Ergreifen welche für andere Partei? Sind welche bereit zur Fürsprache, zum Demonstrieren oder Streiken? Beharren andere auf ihrem Recht, oder stecken sie auch mal zurück? Sind (alle) Regeln und Gesetze in Stein gemeißelt oder beweglich?

Wird allen Mitgestaltung ermöglicht? Sind die, die über Privilegien verfügen, freiwillig bereit, etwas abzugeben, oder muss man sie zwingen? Braucht es Gesetze- und wenn ja, wer legt sie fest und wer verteidigt sie wie?

Was ist mit jenen, die Grenzen überschreiten? Sind manche Grenzen verrückbar und andere nicht? Werden die Gründe dafür gewürdigt und berücksichtigt?

Wohin mit Personen, die Schaden anrichten? Gibt es bei ihnen ein Bewusstsein zum „Gemeinwohl“? Wie werden Sanktionen festgelegt und umgesetzt? Wird ihre Wirksamkeit überprüft und reflektiert?

Und so weiter, und so fort.

Menschen teilen sich Lebensbereiche. Manche haben mehr Raum zur Verfügung, manche weniger. Manche haben sich ihren Ort ausgesucht, andere wurden dort hin geboren oder „platziert“.

Wenn verschiedene Persönlichkeiten einen Körper miteinander teilen (müssen), sind sie dort, weil sie zur Lebenserhaltung und Anpassung wichtig sind. Sie bilden ein System- und müssen sich zwangsläufig damit beschäftigen, wie sie sich (weiter) organisieren wollen. Sofern es darum gehen soll, am/im Leben zu bleiben und so etwas wie Selbstbestimmtheit spüren zu können. Wenn strukturelle Dissoziation mit all ihren Symptomen die Königin des Hauses bleibt, verhungern die Bewohner*innen langsam trotz gefüllter Speisekammer. Weil ihnen der Zugang verwehrt wird.

Das, was außen in der Welt passiert, kann ein Spiegelbild dessen sein, was im Innern abläuft – und umgekehrt. Systeme dissoziieren strukturell – indem sie „ausblenden“, was ist; indem sie (sich) spalten und in einer Erstarrung verharren. 

Rechte Strömungen breiten sich aus, radikale Personen bekommen (mehr) Macht, ganze Gruppen/Völker werden ausgelöscht, der Klimawandel schreitet voran – und es lähmt das Gefühl, dem nichts entgegensetzen zu können. „Es“ passiert (scheinbar) einfach. Es gibt jene, die Gewalt ausüben und/oder unterstützen (wählen), aus unterschiedlichen Gründen- und jene, die „dagegen sind“ und etwas anderes wollen. Belastung, Angst, Krise, Überforderung- und dann? Kampf oder Flucht? Oder Erstarrung und Unterwerfung? Sich dem „Schicksal“ fügen? Es findet kollektive Dissoziation statt.

Das, was in überfordernden, belastenden, beängstigenden Situationen hilft, ist, in Verbindung mit anderen zu gehen. Sich verbünden und solidarisieren, Mitgefühl spüren, sich helfen, (be-)schützen, stärken, beruhigen- wenn dies möglich (gemacht) wird, kann Erstarrung vermieden werden. 

Menschen bleiben (oder werden wieder) handlungsfähig, wenn sie sich mit anderen verbinden können.

Verbindung bedeutet Bewegung und Bewegung bedeutet „Ausweg(e) aus der Dissoziation“.

Es entsteht Assoziation- und aus der Monarchie kann eine Republik werden.

Eine bewegte, dynamische Gemeinschaft in Balance halten zu können, bedeutet für uns, dass es mehrere Verantwortungsträger*innen und Aufgabenverteilungen geben muss. Ein „Grundgesetz“, in dem basale Regeln des Zusammenlebens festgehalten werden, ist für uns unverzichtbar. All das nützt jedoch wenig, wenn eine insgesamt respektvolle (besser noch: liebevolle) Grundhaltung abhanden kommt. Ohne sie ist alles nichts.

Außenpolitik, Innenpolitik – so viele Systemfragen, die so logisch sind.

Wie spannend, mit all dem zu arbeiten, oder?

Für jetzt und morgen

So viel kann Dir gerade in Kopf und Herz herumspuken, was sich nicht gut sortieren lässt. So viel kann davon alt und traumageprägt sein. So Vieles kann auch immer wieder aktualisiert und aufgefrischt werden, wenn die Gewalt noch nicht aufgehört hat.

Vielleicht denkst Du, es lohnt sich eh nicht, Veränderung zu probieren. Weil es nicht hilft, weil niemand hilft, weil es schon immer so war und die Kraft für Neues nicht reicht.

Möglicherweise ist das Sprechen zu schwer und eine Bewegung zu anstrengend; wahrscheinlich ist die Angst sehr groß und die Hoffnung sehr klein (wenn überhaupt)…

Vielleicht zieht Dich so viel zurück; hin zu Orten, an denen Du etwas bekommst, was sich kaum ausdrücken lässt, sich aber so notwendig anfühlt, dass Du einen Preis dafür zahlst, der höher ist als der „Gewinn“.

Schulterzucken, wegdriften, anpassen, erstarren, resignieren, Gefühle anschalten- „Ist doch eh egal“?

Nein! Es ist eben NICHT egal, was mit Dir und Euch ist!

Es ist NICHT egal, wo Du bist, wohin Du gehst, was Du tust- und ob überhaupt.

Wie gut, dass es Dich und Euch gibt!

Bitte bleib(t) im Leben!

Zum zeitlichen Rahmen der Peer- und Angehörigenberatung

Wir bieten seit kurzem neben der Onlineberatung auch die Möglichkeit an, ein persönliches, analoges Gespräch in der Beratungsstelle zu führen. Ein weiterer Anschlusstermin ca. 2-3 Monate später ist ebenfalls möglich. Weitere Treffen oder einen längeren Beratungsprozess können wir leider nicht anbieten.

Auch in der Onlineberatung gibt es inzwischen einen klar definierten, begrenzten Zeitrahmen: Nach zwei Monaten Emailaustausch findet eine Kontaktpause von einem Monat statt. Danach können weitere zwei Monate genutzt werden und anschließend endet der Mailkontakt. Diese „5-Monats-Regel“ hat sich aus unseren Erfahrungen der letzten 3 Jahre Peer- und Angehörigenberatung entwickelt.

Viele Menschen, die mit uns schreiben, wünschen sich eine längerfristige Begleitung. Manche empfinden den genannten Zeitrahmen als stressig und beengend und möchten sich lieber nicht darauf einlassen, weil er nicht zu ihren Bedürfnissen passt. Manche merken im Verlauf unseres Kontaktes miteinander, dass das vorgegebene Beratungsende ihnen Schwierigkeiten macht, die Zeit gar nicht reicht, ein Abschied problematisch wird, o.a.

Manche erleben den Zeitrahmen auch als hilfreich, um einen Fokus auf ein bestimmtes Thema zu halten. Sie nutzen unseren Kontakt für sich aktiv, bewusst- zum Teil auch mit dem Gedanken: „5 Monate sind besser als nichts.“

Für uns ist die zeitliche Begrenzung zum Einen wichtig, weil unsere Kapazitäten eben so aussehen, wie sie aussehen: Unsere Stundenzahl in der Peer- und Angehörigenberatung ist relativ gering. Zudem sind wir „alleine“, das heißt, wir haben keine Kolleg*innen, mit denen wir uns die Beantwortung der Mails teilen könnten.

Zum Anderen liegt uns ein „fokussiertes“, „anliegen- oder lösungsorientiertes“ Arbeiten mehr, als ein längerfristiges, „prozessorientiertes“ mit einem „offenen Ende“.

Das neue analoge Angebot ist dafür gedacht, die Möglichkeit einer persönlichen Begegnung zu eröffnen- bei der man sowohl denken könnte: „Was will man denn bitte in einem einzigen Gespräch erreichen?“, als auch „Ein einziges Treffen kann schon etwas bewegen.“ Wir haben nicht den Anspruch, in diesem Austausch etwas zu „schaffen“. Uns geht es viel mehr darum, einen Raum zu öffnen für eine bestimmte Frage oder ein bestimmtes Thema, das man miteinander so anschaut, wie es die Umstände zulassen- und zwar in einer direkten Begegnung, die sich anders anfühlen kann, als ein Kontakt per Email.

Wir haben selbst Erfahrungen damit gemacht, dass einzelne Begegnungen mit Menschen (egal, ob ebenfalls betroffen oder nicht) etwas in uns anrühren können: Ein Wiedererkennen, ein Fühlen, Wahrnehmen, sich gesehen fühlen; etwas Tröstliches, etwas Konfrontatives, etwas Relativierendes, Sortierendes, Inspirierendes, o.a.

Zufallsbegegnungen, nebenbei, kurzzeitig- und trotzdem haben sie in uns Spuren hinterlassen.

Weil wir das so erlebt haben, bzw. immer wieder auch erleben, war und ist es uns wichtig, auszuprobieren, was geschieht, wenn wir einen analogen Raum öffnen.

Begrenzte Zeit ist eben auch Zeit.

Gealtertes Trauma

Sie schaut in den Spiegel.

Zwischen ihren Augen, auf der Nasenwurzel, klebt irgendetwas Rotes.

Es ist Erdbeermarmelade vom Frühstück. Das weiß sie nicht, sondern sie schmeckt es, als sie den Fleck mit einem Finger verwischt und diesen dann in den Mund steckt.

„Frau Mohn, hier ist Ihre Zahnbürste!“ Eine fremde Hand schiebt sich in ihr Gesichtsfeld. Pink lackierte Fingernägel. Sie mag so etwas nicht. Und sie möchte sich nicht die Zähne putzen. Schon mal gar nicht, wenn sie von diesen Fingernägeln abgelenkt wird. Also stellt sie sich taub und schmeckt lieber noch ein bisschen dem Rest der Erdbeermarmelade nach.

Der Spiegel reflektiert das unfreundliche Licht der Energiesparlampe. Wann war sie zum letzten Mal in der Sonne? Erinnern kann sie sich schon lange nicht mehr. Weder an den letzten Ausflug, noch an das heutige Frühstück. „Frau Mohn ist Frau Mohn ist Frau Mohn!“ Sie lächelt. Auf die Stimme in ihrem Kopf hört sie heute gerne. Aber was tut sie hier? Ihr Herz zieht sich zusammen und das Zittern beginnt. Jeden Morgen das Gleiche. In Pantoffeln, nur mit einem Morgenmantel bekleidet, wird sie aus dem Haus gejagt. Von den bewaffneten Soldaten. Raus in den Hühnerstall. Zu den anderen Mädchen und Frauen. Jeden Morgen. Kein Frühstück. Nicht mal eine Katzenwäsche. Das Zittern breitet sich vom Bauch über den Rücken bis in ihren Kopf aus. Wo ist sie?

„Nun kommen Sie schon, Frau Mohn! Sie müssen doch die Zähne putzen!“ Die Pinklackierte tippt ihr auf die Schulter. Es bleiben noch 5 Minuten für die Morgenhygiene, inklusive Toilettengang, und es sind noch nicht mal die Zähne geputzt. „Hier, jetzt machen Sie mal die Zahnpasta drauf und dann schön den Mund öffnen…“ Geduld muss man eben haben. Aber die Zeit fehlt!

Sie drückt die Lippen fest zusammen und verkrampft die Hände zu Fäusten. Sie will nicht. Sie weiß nicht, was das soll. Sie starrt auf das Bild dieser Frau im Spiegel und möchte ihr am liebsten die Zunge herausstrecken. Das lässt sie aber bleiben, weil sie sonst vielleicht ganz plötzlich die Zahnbürste im Mund stecken hat. Wer weiß das schon. Im Morgenmantel wird man abgeholt von den Soldaten und dann ist alles vorbei. „Frau Mohn hat Angst“, flüstert eine Stimme in ihrem Kopf. Wer ist Frau Mohn? Wo ist mein Hase? Wer hat den Hühnerstall offen gelassen? Wohin gehen die Worte? Welche Farbe hat der Sonntag? Es kratzt am Rücken, nicht schon wieder dieser Mann mit dem Gewehr, aber es kratzt und Frau Mohn, was macht Frau Mohn, die eigentlich doch Greta heißt…

Sie kneift die Augen zusammen und schlägt um sich. Weg, weg, weg, alle!! Alle weg!!

Die Pinklackierte schreit kurz auf und flüchtet dann schimpfend. „Dann eben nicht! Ist mir doch egal, ob Sie die Zähne geputzt kriegen oder nicht!“ Irgendwo knallt eine Tür und wütendes Fußgetrampel entfernt sich.

Ruhe.

Nur ihr Herzschlag poltert zwischen den Ohren.

Irgendwann öffnet sie ganz vorsichtig ihre Augen.

Sie steht vor einem Spiegel. Darunter befindet sich ein Waschbecken. Darin liegt etwas. Sie weiß nicht, wie dieser Gegenstand heißt. Das Ding ist verschmiert mit etwas Grün-Weißem. Langsam tippt ihr Finger in diese Farbe und wandert Richtung Nase. Es riecht nach Pfefferminze. Das kennt sie. Mama brühte zum Frühstück Pfefferminztee auf. Pfefferminztee und selbstgemachte Erdbeermarmelade. Im Spiegel flackert es. Die Energiesparlampe ist schon lange kaputt. Mindestens seit übergesternmorgen. „Frau Mohn ist Greta und Greta gehört ins Bett“, murmelt es in ihrem Kopf. Sie schaut nach vorne. Die Frau im Spiegel sieht seltsam aus. Graue, zerzauste Haare, Schatten unter den Augen, faltige Haut. Wo ist ihre geliebte Haarspange? „Wir stinken“, jammert eine Stimme in ihrem Innern leise.

„Was soll getan werden mit diesem Leben?“, denken sich die Worte aus ihr heraus, während ihre Hände die grünweiße Zahnpasta unter ihren Achseln verteilen. Ihre Beine wollen laufen. Weglaufen. Für immer fort. Nach Hause will sie. Endlich nach Hause zu Mama und den anderen Mädchen. Aber wie soll das nur gehen? Wie lassen sich die Beine bewegen? Sie starrt an sich herab, sieht das dünne, weiße Baumwollnachthemd und die grauen Pantoffeln. Was? Wie?

Eine Tür öffnet sich.

Die Pinklackierte kommt herein. „Ist das meine kleine Schwester?“, flüstert die Stimme im Kopf. „Ruth?“, fragt Frau Mohn. Die Pinklackierte schnäuzt sich in ein Taschentuch und reibt sich über die Augen. „Nein, ich bin nicht die Ruth!“, sagt sie. „Wo ist Ruth?“, fragt Frau Mohn.

Die Pflegerin schweigt. Jeden Morgen dasselbe. Sie wünschte, die könnte mehr tun. Hätte mehr Raum, dürfte sich Zeit lassen. Sie atmet durch und greift nach der Zahnbürste im Waschbecken. Keine freien Minuten mehr für Katzenwäsche. Andere Bewohner*innen warten.

Angst. Es ist doch immer wieder diese furchtbare Angst, die Frau Mohn quält. Die Pflegerin weiß das. Aber was soll sie tun? Wenige vorgegebene Minuten am Morgen, für die Versorgung einer Frau, der irgendjemand Altersdemenz attestiert hat. Es fragt keiner mehr danach, wo ihre Angst geboren wurde.

„Ruth?“, fragt Frau Mohn wieder und streichelt der Pinklackierten sanft und zärtlich über die feuchtgeweinte Wange. „Meine Ruth! Bist du da!“ Zum ersten Mal an diesem Morgen taucht ein friedlicher Schimmer im lebensgeprägten Gesicht der alten Frau auf.

Die Pflegerin spült die Zahnpastareste von der Zahnbürste, steckt sie zurück in den Becher und greift nach einer neuen Inkontinenzeinlage. „Ja, die Ruth…“, murmelt sie und nimmt Frau Mohns Hand. „Jetzt gehen wir mal zusammen zur Toilette, in Ordnung?“

Der friedliche Schimmer verschwindet mit einem Schlag.

Ein Türenknallen. Das Nachthemd ist verschwunden. Nur noch ein Pantoffel an ihren Füßen. Rote Flecken an den Beinen. Die Hühner gackern. Ich stinke. Ich bin allein, ich bin ganz allein. Meine Mama, wo ist meine Mama? Ich will nach Hause. Ich habe Schmerzen. Ich weiß nicht, wo ich bin. Ich weiß nicht, wie ich heiße. Wo ist Ruth? Wo ist meine Schwester Ruth? Ich bin noch klein. Ich habe solche Angst.

Zwischen Toilette und Duschkabine kauert eine Frau, die Greta Mohn heißt.

Sie kneift die Augen fest zusammen. Eine Hand hält den Bauch. Die andere verkrampft sich in der schiefsitzenden Einlage. Die Soldaten haben sie geholt. Und gequält zurückgelassen. Nichts ist mehr sicher, zwischen gestern und heute und morgen und manchmal.

Im Stationszimmer sitzt die Pflegerin und weint. Immer wieder dasselbe. Frauen wie Greta Mohn mit diagnostizierter demenzieller Erkrankung und kein Raum, kein Platz für mehr, keine Zeit für behutsame Reorientierung, Beruhigung nach Albträumen, Unterstützung in Angstzuständen. Medikamentengabe, um alles im Griff zu behalten. Die ganze Station.

Traumafolgen oder Demenz? Demenz als Traumafolge? Wer denkt an die Gewaltopfer, die alt geworden sind?

Eigentlich müsste sie bereits das Mittagessen vorbereiten. Aber die Pflegerin will nicht.

Sie geht zu Frau Mohn, die immer noch panisch zwischen Toilette und Duschkabine kauert.

Vorsichtig, ganz vorsichtig lässt sie sich neben Greta Mohn auf den nassen Boden sinken. Leise, ganz leise, beginnt sie eine Melodie zu summen. Sie öffnet die Augen. Die Pflegerin reicht ihr die Hand. Aber Greta Mohn nimmt sie nicht. Stattdessen legt sie sich in den Schoß der Pflegerin.

Die Soldaten sind weg.

Sie haben sie zurückgelassen.

Jetzt. Ganz kurz. Eine gesummte Melodie und ein Platz in einem warmen Schoß.

Ein ganz kleines bisschen Sicherheit und eine Entscheidung.

NEU: Peer- und Angehörigengespräche vor Ort

Wir freuen uns, dass wir in Zukunft die Möglichkeit anbieten können, ergänzend zur Emailberatung einmalige analoge Peer- oder Angehörigengespräche in der Beratungsstelle „Frauen helfen Frauen Stormarn e.V.“ in Bad Oldesloe zu führen.

In diesem Treffen soll es darum gehen, eine bestimmte Frage oder ein konkretes Thema/Anliegen, das Ihr mitbringt, lösungs- und ressourcenorientiert im direkten, persönlichen Kontakt miteinander zu besprechen.

Ein weiterer Termin für Rückmeldungen oder zur Klärung einer ergänzenden Frage kann bei Bedarf/Wunsch zwei bis drei Monate später in Anspruch genommen werden.

Weiterführende Peer- und Angehörigenberatungsprozesse können in diesem Kontext leider nicht angeboten werden.

Es ist okay, wenn Ihr eine Begleitperson mitbringen möchtet. Bitte teilt uns das vorher mit.

Es ist wichtig, dass Ihr ausreichend stabil für ein persönliches Gespräch seid und Euch selbst durch individuelle Hilfsmittel regulieren könnt. Vor Ort gibt es während unseres Treffens und im Anschluss keine beraterische oder therapeutische Unterstützung.

Zur Terminabsprache und Klärung Eures Anliegens nehmt bitte per Email Kontakt zu uns auf:

peer – beratung @ fhf – stormarn . de (ohne Leerzeichen)

Viele freundliche Grüße,

Paula Rabe

Viel zu einfach

Wir stehen im Discounter im Kassenbereich, als wir hinter uns ein leises, weinerliches „Mama?“ hören.

Wir drehen uns um und sehen neben einem vollgepackten Einkaufswagen ein ca. 4jähriges Mädchen stehen, das sich ängstlich umschaut.

„Oh, suchst Du Deine Mama?“, fragen wir und sie nickt.

Einen kurzen Moment später nehmen wir das Kind an die Hand, laufen durch die Gänge, schauen, wo die Mutter ist und finden sie schließlich. Sie hatte einen Artikel vergessen und ihre Tochter deshalb am Einkaufswagen stehengelassen, um ihn schnell zu holen.

Danach verlassen wir den Discounter und bemerken, dass unsere Hände zittern.

„Wir hätten sie einfach mitnehmen können.“, denkt es innen. „Es ist viel zu leicht, ein Kind zu entführen.“

Wir schlucken Tränen herunter und gehen nach Hause.

Wir haben einen weiblichen Körper, sind außen im Kontakt höflich und hilfsbereit, sprechen ruhig und freundlich – meistens jedenfalls, und all das lässt uns vertrauenswürdig wirken.

Wir stellen keine Gefahr für andere Menschen dar. Wir sind keine Gewalttäter*innen.

Wir wirken nicht nur vertrauenswürdig, wir sind es auch.

Aber es könnte auch ganz anders sein.

Wir könnten „Attribute“ haben, die andere Menschen eher mit „Gefahr“ oder potenzieller Täterschaft assoziieren- was dazu führen könnte, dass man aufmerksamer für das wäre, was wir wie tun.

Und wir könnten aufgrund unserer Gewaltbiographie zudem tatsächlich „Gefährder*innen“ sein.

Das Kind im Discounter hätte auch auf einen anderen Menschen treffen können, statt auf uns im Hier und Heute, zu dieser Zeit. Und dieser Mensch hätte es viel zu leicht gehabt, das Kind zu entführen. Auch deshalb, weil die Bilder über Täterschaft und Opferschaft in den Köpfen vieler Menschen eben (noch) so sind, wie sie sind.

Es wird denen, die Gewalt ausüben möchten, viel zu leicht gemacht. Den Frauen und Männern, (Groß-) Eltern, Verwandten, Lehrer*innen, Trainer*innen, Erzieher*innen, Nachbar*innen, Freund*innen, … Denen, die so vertrauenswürdig wirken, wie wir.

Singen und Trauma

Seit kurzem genießen wir den Luxus, Gesangsunterricht nehmen zu dürfen. Zwar haben wir bereits einige Chorerfahrungen, aber dort konnten wir uns gut in der Masse verstecken. Alleine am Klavier zu stehen und nur uns selbst (und das Klavier) zu hören, ist neu, herausfordernd, mutig.

Singen bedeutet Spannung, Haltung, Öffnung, Selbstwahrnehmung, Körperbewusstsein, Atmung, Loslassen, Lebensfreude, u.a.- genau die richtigen, wertvollen Lernerfahrungen, die wir mit/nach Trauma(folgen brauchen.

Unsere Gesangslehrerin (die übrigens nichts von unserer DIS weiß) kombiniert den Unterricht mit genau dem richtigen Maß an Theorie und Praxis, an Herausforderung und Zurückhaltung, Geduld, Motivation, Unkompliziertheit und Ernsthaftigkeit. Wir verbringen einen Großteil der Stunde meistens mit Stimmübungen und den Rest mit dem Singen/Erarbeiten eines von uns oder ihr ausgewählten Songs.

Wir beschreiben mal zwei Beispiele für Stimmübungen:

1.) Der „Lippentriller“:

Bei dieser Übung geht es (unserem Verständnis nach) darum, durch die „richtige“ Muskelaktivierung in Bauch, Brust und Rücken den Atemfluss so zu steuern, dass genügend Luft reinkommt, und in einem konstanten Fluss durch die geschlossenen Lippen wieder nach außen gelangt, so dass die Lippen vibrieren/flattern. Es werden Töne und Tonfolgen dabei eben nicht mit offenem Mund „gesungen“, sondern durch die Lippen „getrillert“ (wer mehr wissen, bzw. sehen will, möge googlen).

Für uns war es zunächst schwierig, wahrzunehmen, wo wir eigentlich genau hinatmen müssen und welche Muskelpartien konkret angespannt werden sollen. Wir haben herausgefunden, dass es uns leichter fällt, wenn wir gleichzeitig umhergehen; oder wenn wir unsere Hände an unsere Flanken legen; oder ein Gewicht mit ausgestreckten Armen vor uns halten; oder auf dem Rücken liegen und beide Beine etwas vom Boden abheben, u.a. „Bauch“ und „Bauchmuskeln“ sind ein weites Feld- und wenn der Körper nicht vollständig oder detailliert wahrgenommen werden kann, dann ist eben auch nicht spürbar, ob es um die Mitte oder die Seiten geht, um Bauchnabel- oder Magenhöhe, oder ob es eher in den Rippenbereich und Rücken wandern muss.

Im Gewaltkontext ist „Bauch“ der Inbegriff von „Schmerz, Gefahr, Verletzung“, aber (innersystemisch) evtl. auch von „Verrat, Feindschaft, Minengebiet“. „Bauch“ wird nicht in einzelne Bereiche differenziert, sondern ist im Zweifelsfall einfach nur das „da unten“; etwas, das eigentlich auch gar nicht zu einem gehört, wohingegen der „Kopf“ das ist, wo man existiert, wo sich „das System“ aufhält, wo es ggf. Gestaltungs- und Handlungsmöglichkeiten gibt. Den „Bauch“ schleppt man als Anhängsel mit sich herum; hat den Eindruck, alles Belastende, Schwere, Komplizierte, Gefährliche kommt von dort- bis man irgendwann anfängt, auch das wahrzunehmen, was von dort positiv hervorgebracht wird: Freude, Liebe, kribbelige Aufregung, Neugier, Lust, Genuss, u.a. Den „Bauch“ wieder zurückzuerobern, sich mit ihm zu Hause zu fühlen und ihn genauso als zu sich gehörig zu erleben, wie den „Kopf“, ist Arbeit und gleichzeitig ein „Geschenk“, wenn es gelingt.

Wir üben, unseren Körperbereich „unterhalb des Kopfes“ zu differenzieren: Das Funktionieren des Lippentrillers hängt bei uns maßgeblich damit zusammen, dass wir unsere Bauch-, Brust- und Rückenmuskeln (wo, wo und wo??) aktivieren und unseren Atem in die Breite (!) unseres Brustkorbs fließen lassen (ihn damit also weiten). Wie oft haben wir schon in verschiedenen Kontexten gehört, dass es wichtig wäre „in den Bauch zu atmen“, und zwar möglichst „tief“. Wenn wir das mehrmals hintereinander tun, wird uns schwindelig, unwohl und es triggert Altes- und es hilft uns nicht beim Singen, sondern wir geraten quasi in einen „Schnappatmungszustand“, um wieder in unseren natürlichen Atemfluss zu kommen und Triggerreaktionen zu stoppen.

Über die Atmung kann man direkt auf den „highway to hell“ geraten, also zurück in Traumazusammenhänge, in Gewaltsituationen; aber auch ziemlich gut wieder zurückkommen in die Gegenwart. Atemübungen mit Bewegungen zu kombinieren, wie z.B. auch beim Yoga, macht es unserer Erfahrung nach leichter, gut orientiert zu bleiben und nicht innerlich abzurauschen in ungute Erinnerungen oder emotionale Zustände. Muskuläre Aktivität, teilweise Anspannung und gleichzeitig bewusste Atemsteuerung halten uns präsent und handlungsfähig- und haben einen erdenden Effekt.

Sich weder in die Hyperventilation zu hecheln (flache Brustatmung), noch durch eine tiefe Bauchatmung in Trance zu beamen, sondern achtsam die Atmung zu „gestalten“, um den gewünschten stimmlichen Effekt zu erzielen- das ist eine Herausforderung und Übungssache.

2.) Die Unterkieferöffnung:

Hierbei geht es im Gegensatz zur Lippentriller-Übung nicht um Muskelanspannung, sondern um Entspannung. Damit die Töne und der Klang genügend Raum bekommen können, muss der Mund geöffnet werden, und zwar eher nach unten (wie beim Zahnarzt), statt seitlich (wie beim breiten Lächeln). Ein breiter Mund hilft zwar, einen bestimmten, leicht „metallisch“ klingenden Sound zu erzeugen (Twang)- auch deshalb sieht man so häufig doll lächelnde Chöre 😉 -, aber ein nach unten geöffneter Mund erzeugt mehr innere/hintere Weite und einen „tieferen Kehlkopf“, was den Klang deutlicher, lauter, voluminöser werden lässt (so beschreibe ich das als Laie).

Wir üben also z.B. mit dem Vokal „A“ in Tonfolgen die Unterkieferöffnung (auch vor dem Spiegel)- und nehmen dabei nicht nur wahr, wie weit wir den Mund öffnen müssen (weiter als gedacht), sondern auch, was eigentlich mit der Zunge passieren soll. Es ist gar nicht so einfach, dorthin gezielt zu steuern, die Zunge in eine eher „flachere“ Position zu bringen, damit im Rachen Platz geschaffen wird- auch im Gesicht, im und am Mund sind so viele Muskeln, für die man erst mal eine bewusste Wahrnehmung entwickeln muss, um zu verstehen, wie eine Übung funktioniert und wie man was verändern kann.

Auch diese Technik ist eine Körperarbeit, die im Traumakontext so viel berührt und bewegt:

Nicht reden dürfen oder können. Kontrolle behalten, bloß nichts (Verbotenes) raus lassen. Gezwungen werden, etwas aufzunehmen, das man nicht aufnehmen (verinnerlichen) möchte. Nicht weinen oder schreien dürfen. Die Luft anhalten. Sich hart machen. Immer enger werden. Nicht fühlen. Erstarren. Unsichtbar sein (müssen/wollen). Und so weiter.

Das ist traumabezogen, logisch. Was das mit dem stärksten Muskel des Körpers (dem Kaumuskel) macht, ist klar: Da ist alles auf „Schließung“ ausgerichtet, nicht auf „Öffnung“. Daran zu arbeiten, Schritt für Schritt etwas zu weiten, was eng war und ist, löst viel aus, vor allem emotional. Wir kennen das auch von Dehnungsübungen beim Yoga.

Ich habe mich eine Zeit lang gefragt, warum ich nach Zahnarztbesuchen immer weinen muss. Glücklicherweise haben wir mit unseren Zähnen bisher nie größere Probleme gehabt und die halbjährlichen Kontrollen verlaufen meistens schmerzlos. Trotzdem bin ich danach zu Hause emotional offen, verletzlich, tränennah- fühle mich „irgendwie verletzt“, und zwar auch dann, wenn der Zahnarztbesuch nach drei Minuten gucken schon erledigt war. Inzwischen ist mir bewusst geworden, dass die weite Mundöffnung diese emotionale Reaktion auslöst: Sich ausgeliefert fühlen, etwas aufmachen, was intuitiv lieber geschützt bleiben möchte- das berührt etwas Zartes, Weiches, Kleines.

Und einen ähnlichen, aber weniger brachialen Effekt hat das Üben der Kieferöffnung beim Singen: Es wird wieder Kontakt zu dieser emotionalen Ebene hergestellt. Solange dabei achtsam, langsam und liebevoll vorgegangen wird, wirkt es heilsam: Nicht nur die oben genannten Trigger-Aspekte tauchen auf, sondern nach und nach zeigen sich auch Erleichterung, Befreiung, Loslassen. Wie gut es sich anfühlen kann, aufzumachen! Wie tröstlich, beeindruckend, stärkend, erdend es sein kann, sich körperlich und psychisch Raum und Luft zu verschaffen! Ich/Wir bin/sind da und das ist erlaubt und okay!

Der Gesangsunterricht und auch das Singen zu Hause ist für uns die derzeit wirkungsvollste Achtsamkeitsübung. Intensiver im Hier und Jetzt können wir nicht sein, als in diesen Momenten. 🙂

Außerdem lernen wir etwas intensiv kennen, was uns bisher fremd war: Unsere systemübergreifende Gesangsstimme, die wächst und sich formt. Beim Sprechen gibt es mehr oder weniger deutliche stimmliche Unterschiede je nach Innenperson. Und das trägt beim Singen auch dazu bei, dass jemand etwas höher oder etwas tiefer kommt, als andere, oder anders/individuell betont. Dennoch zeigt sich bisher, dass etwas „Gesamtsystemisches“ beim Singen entsteht- und das ist sehr spannend. Ein integrativer Prozess.

Singen ist Körperarbeit. Sie muss nicht therapeutisch begleitet sein, fördert aber (zumindest bei uns) eine heilsame, traumaintegrative und innersystemisch verbindende Dynamik (selbst dann, wenn nur Einzelne zum Gesangsunterricht gehen und Andere niemals auch nur einen Ton singen wollen!).

Wie man einen Hai sucht und Andere(s) findet

„Haidrun“ ist weg. Ich habe jeden Quadratzentimeter in unserem Zuhause nach diesem Lieblingskatzenspielzeug abgesucht: Nix. Das kleine Stofftier in Form eines Hais, mit dem die eine Katze kuschelt und Fußball spielt und das die andere Katze im Maul von A nach B trägt, ist und bleibt verschollen. Wahrscheinlich ist es irgendwo hin verschleppt worden, wo nur die Katzen sich auskennen (wer weiß, wo Mucklas leben, weiß auch, wo Haidrun ist 😉 ).
Wir haben in den letzten Tagen sehr viel Zeit damit verbracht, dieses Spielzeug zu suchen- im Grunde habe ich persönlich noch nie zuvor so ausgiebig nach irgendetwas gesucht.
Heute Vormittag ist dann jemand von uns losgezogen, um ein neues Spielzeug zu kaufen- eins, das nur ein mickriger Ersatz für Haidrun sein kann, aber zumindest schon mal von der einen Katze abgeleckt wurde. Wir werden sehen…

Was mich in dem ganzen Zusammenhang wirklich beschäftigt, ist die Selbstverständlichkeit und Hartnäckigkeit, mit der gesucht wurde. Wir wollten Haidrun finden- und wir haben gemeinsam gesucht.

Könnten wir das vielleicht auch innen umsetzen? Was ist mit Innenpersonen, die lange nicht da waren, die nicht oder nur schwer erreichbar sind? Was ist mit Infos, Wissen, Erkenntnissen, Kontakten, die Mühe, Energie und Geduld benötigen, um an sie heranzukommen?
Ja, es ist ein Unterschied, sich mit einer Taschenlampe unters Sofa oder Bett zu robben, in der Hoffnung, dort ein blaugraues Stofftier liegen zu sehen, oder sich im Innern mehr oder weniger orientierungslos bewegen zu müssen – das ist emotional überhaupt nicht vergleichbar.
Aber die Wichtigkeit, an etwas dran zu bleiben, das lange dauert und nicht (sofort) von Erfolg gekrönt ist, die kann man schon ein bisschen vergleichen.
Irgendwann wird Haidrun schon wieder auftauchen- sie KANN nicht vom Erdboden verschluckt sein.
Und so ist das innen auch. So ähnlich jedenfalls.

Es gibt sowohl bei/in uns, als auch bei anderen Betroffenen und „Traumafachleuten“ verschiedene Haltungen und Ideen dazu, was im Innern alles (nicht) möglich sein kann. Fakt ist: Imaginationsfähigkeiten, bildliche Vorstellungskraft, emotionales Erleben, Wahrnehmungsebenen u.a. sind ja vollkommen individuell. Was für die Einen total selbstverständlich und klar ist, ist für die Anderen gar nicht vorstellbar und fremd. Wir finden es schwierig, wenn man jemandem ein bestimmtes Erleben abspricht, weil man es selbst anders oder gar nicht kennt.

Dass im Innern etwas oder jemand (zeitweise) „verschwindet“, ist logisch, wenn man dissoziativ strukturiert ist. Man hat eben nicht ständig Zugriff auf Inhalte, Wissen, Bewusstsein, Wahrnehmung- und somit auch nicht auf alle Persönlichkeitsanteile/Innenpersonen. An der Innenkommunikation und dem Innenkontakt zu arbeiten, ist eine permanente Aufgabe und nichts, was man an einem Punkt erfolgreich geschafft und für die Zukunft dann erledigt hat- so erleben wir das jedenfalls. Wer wie innen erreichbar ist und bleibt, wie viel wahrnehmbar ist und wo welche Ressourcen nutzbar sind, das gestaltet sich dynamisch und eben nicht statisch.

Es gibt Zeiten, in denen Verbindungen innen weniger spürbar sind. Oder in denen Innenpersonen, die sonst häufiger im Alltag und/oder in der innersystemischen Wahrnehmung präsent waren, kaum oder gar nicht mehr auftauchen. Das kann sehr verunsichern und destabilisieren oder auch erst sehr spät auffallen. Wir kennen es, dass Monate vergehen können, in denen einzelne Innenpersonen „verschwunden“ sind (d.h. auch für uns selbst nicht mehr „greifbar“), bevor das überhaupt jemand von uns realisiert: „Was ist eigentlich mit XY? Weiß jemand, wo sie/er ist und wie es ihr/ihm geht?“ Je nachdem, welche Präsenz die jeweilige Innenperson sonst in unserem Alltag hat, dauert so ein Erkennen mehr oder weniger lange. Wenn jemand fehlt, der/die z.B. sonst Verantwortung für Arbeit oder soziale Kontakte trägt, fällt es früher auf, wenn er/sie nicht mehr da ist- weil dann eben eine Lücke im Alltag entsteht, die auch zügig geschlossen/ersetzt werden muss. Handelt es sich um das „Verschwinden“ einer Innenperson, die sonst eh schon wenig im Alltag außen aktiv war, oder die innen Aufgaben hat, die seltener ausgeführt werden müssen- dann wird sie auch nicht so schnell von sogenannten Alltagspersonen vermisst.

Die Frage, wer wann wie schnell als fehlend wahrgenommen wird, wer wann (von wem) vermisst und schließlich aktiv gesucht wird, hat ganz viel Verletzungs- und Schmerzpotenzial. Es geht dabei natürlich auch um die (Selbst-)Wahrnehmung von „Wert“ oder „Wichtigkeit“. Die Haltung, dass alle gleichermaßen „wichtig“ sind, wäre schön- passt aber häufig nicht zur konkreten Alltags- und Lebensgestaltung. Nicht Jede*r hat gleichermaßen viel Mitsprache- und Bestimmungsrecht, nicht zu jedem Zeitpunkt funktioniert im Innern Demokratie. Trotzdem gibt es an einem basalen Punkt „Gleichheit“: Jede*r hat absolut Wichtiges zum Überleben beigetragen. Jede*r Einzelne existiert, weil sie/er gebraucht wurde und heute noch wird- weil sie/er ein Teil eines Ganzen ist. Eines Systems, das von Vielen zusammengehalten wird.

Egal, wie viel jemand zu einem funktionierenden Alltag beiträgt. Egal, ob jemand für Arbeit, Einkauf, Autofahren, Behördenkram, Sport, gesunde Ernährung, oder für Schlaf, Spielen, Bindungsarbeit, innere Streitschlichtung, innere Informationsvermittlung oder was auch immer „zuständig“ ist. Egal, ob jemand ausschließlich im Innern und nie im Außen präsent ist. Egal, ob jemand als Person, Anteil, Fragment, Modus o.a. bezeichnet wird. Er/sie/es existiert und kann wahrgenommen werden, also braucht es Anerkennung. Punkt.

Das, was ein Gesamtsystem ausmacht, befindet sich im Innern. Wir kennen es nicht, dass etwas oder jemand daraus sich wirklich auflöst und auf Nimmerwiedersehen verschwindet (wohin denn auch?). Insofern kennen wir es auch nicht, dass eine Innenperson „stirbt“. Im Zusammenhang mit Fusionen haben sich Innenpersonen bei uns schon miteinander verbunden, so dass die einzelnen Aspekte von jemandem nicht mehr unbedingt separat erkennbar waren. Es entstanden dadurch „Mischformationen“, aus denen bestimmte Eigenheiten manchmal „herausschimmerten“ und zum Teil wiedererkennbar (personell zuzuorden) waren. Das, was zuvor Person A, B oder C ausmachte, wie er/sie dachte, handelte, sich verhielt, was er/sie mochte, u.a., war nicht immer „haltbar“ nach Fusionen- aber ihr jeweiliger Kern; das, wodurch und wofür sie entstanden sind; was sie mitbrachten, um das Gesamtsystem zu schützen und (über-)lebensfähig zu halten- all das blieb innerlich zugänglich und spürbar, auch wenn nach Fusionen neue Konstellationen entstanden waren.

Wenn nun innerlich etwas oder jemand abhanden gekommen ist und man sich auf die Suche macht- dann braucht das oft viel Durchhaltevermögen. Und die Bereitschaft zu fühlen. Es gibt Gründe, warum etwas oder jemand „hinten weg gefallen ist“, oder sich zurückgezogen hat. Und es gibt Gründe, warum das zunächst vielleicht nicht wahrgenommen werden konnte oder durfte. Auf jeden Fall geht´s dabei auch um Einsamkeit- und deshalb ist es so wichtig, (weiter) zu suchen, auch wenn das Finden länger dauert.

a moment like this

Sie betritt das Zimmer nicht durch die Tür, sondern durch ihre Augen.

Langsam gleitet sie zwischen den Schulterblättern weiter nach oben, sammelt sich direkt hinter der Gesichtsmaske und drängt sich dann durch den engen Geburtskanal ihrer Sehnerven.

Das Zimmer ist ruhig und es riecht irgendwie wohlig. Sie sitzt auf einem weichen Teppich und über ihren Beinen ist eine leichte Decke ausgebreitet. Auf ihrem Schoß liegt ein Buch. Es ist grün und man erkennt einen Baum und eine Figur: „The Giving Tree“ lautet der Titel. Sie entspannt ihre Hände etwas mehr, als sie die ersten Seiten kurz anschaut. Englischer Text. Darin fühlt sie sich zu Hause.

Trotzdem flattert ihr Herz.

Ihr ist, als dürfte sie nicht da sein.

Als wäre sie in eine Tabuzone eingedrungen, einfach weil sie wie automatisch ihren Halt zwischen den Schulterblättern verloren hat. Sie weiß nicht, weshalb es sie nach außen geboren hat. Nun ist sie da und ihr Herz flattert die linke Halsseite hoch und runter.

An ihren Beinen bewegt sich etwas.

Ihr Blick schnellt vom grünen Buch zum Fußende und erst in diesem Moment erkennt sie die Katze.

Dieses kleine, kuschelige Fellwesen dreht sich auf den Rücken und streckt die Beine genussvoll von sich.

Während der Betrachtung dieser Bewegungen öffnet sich ihr Sichtfeld weiter: Lichtstreifen strahlen durch das Zimmer. Auf dem weichen Teppich ziehen sich zwei Sonnenfelder über Kreuz in die Länge. In einem der Felder räkelt sich die Katze. Im anderen erkennt sie einen dunklen Schatten. Da ist noch eine, eine zweite Katze.

Sie bemerkt erst, als das Buch an der Decke raschelt, dass ihre Hände zu zittern begonnen haben.

Ihr Herz flattert immer noch hektisch und befindet sich mittlerweile im Unterkiefer. „Perhaps it will jump out of my mouth“, denkt sie. Als sie sich selbst hört, werden ihre Hände wieder ruhiger.

Die Katzen schauen verschlafen und unaufgeregt in ihre Richtung.

Dann rollt sich die Eine zu einer Kugel zusammen und die Andere legt sich auf die Seite. Beide schnurren und schließen die Augen.

Sie schiebt das Buch beiseite. Dann lässt sie sich langsam flach auf den Teppich gleiten und zieht dabei die Decke bis zum Hals hinauf. Ein großer Teil ihres Körpers befindet sich nun gemeinsam mit der einen Katze in einem Sonnenfeld.

Ihr Herz flattert vom Unterkiefer durch den Hals in ihre Brust zurück.

Ihre Schulterblätter lassen ein bisschen lockerer. Sie spürt die Luft in ihrer Mitte ein- und ausströmen.

In zwei Lichtstreifen liegen drei Lebewesen, die im gleichen Rhythmus atmen.

Auf- und Abbewegungen in kleinen und großen Schattenbergen auf einem weichen Teppich.

Der Geburtskanal ihrer Sehnerven schließt sich für eine Weile.

I could drop off to sleep, but I want to keep in touch with myself.

Just me.

Nobody else.”