Kontaktpunkte

(dissoziative) Funktion im Alltag

In der Drogerie klingelt ein Handy. Es klingelt und klingelt und niemand geht ran. Im Gang neben mir diskutieren zwei Personen lautstark mit drei Kleinkindern über ihre jeweilige Wahl, was das Piraten-, Prinzessinnen- oder Meerjungfrauen-Duschgel angeht, inklusive mehrerer Brüller, Heuler und Jammerer. Im Kassenbereich spricht eine Person betont ruhig und freundlich mit einem Kind in einem Bollerwagen, das schreit, dass es dieses und jenes nicht will, sondern was anderes und zwar sofort. Ich vergesse, was ich kaufen wollte. Mir wird ein bisschen übel. Innen grollt und vibriert es. Alles passiert gleichzeitig.

Ich atme tief durch und schlucke meine eigenen Brüller herunter, die ausdrücken möchten, dass bitte jemand mal sofort an dieses klingelnde Handy gehen soll und ansonsten bitte auch alle Anwesenden unverzüglich die Klappe halten mögen.

Ich beende meinen Einkauf in der Drogerie schon ziemlich überreizt. Draußen an der frischen Luft und im Sonnenschein reiße ich mich zusammen dissoziiert sich der Stress irgendwo hin und ich hoffe auf inneren Beistand, aber bitte ohne Kontrollverlust. Dann suche ich das nächste Geschäft auf. Nur noch eben kurz den letzten Rest erledigen und dann so schnell wie möglich nach Hause.

Im Supermarkt halte ich mich strikt an den Einkaufszettel- bis sich die Eingangstür aufschiebt und alle ebenfalls reizüberfluteten Kinder inklusive erschöpfter, genervter Begleitpersonen aus der Drogerie den Supermarkt betreten. Der Lautstärkepegel im Laden erhöht sich schlagartig, in meinen Ohren schallert und fiept es und mein Kopf entwickelt sich unvermeidlich in ein Nebelfeld. Ich weiß, dass jetzt auch dieser ganze Skills-Kram aus dem Notfallbeutel nicht helfen würde (den ich eh nicht dabei habe, weil ich doch nur kurz einkaufen wollte…), denn „zuviel ist zuviel“ und was jetzt wichtig wäre, wäre RUHE.

Solche Stresssituationen, die zusätzlich Triggermomente beinhalten, sind prädestiniert dafür, entweder sofort einen Komplettausfall zu erleben (im schlimmsten Fall umkippen und komplett „weggebeamt“ sein), oder später zu Hause mit Reizüberflutungssymptomatik kämpfen zu müssen: „Schlechte Laune“, Aggression, Schwindel, Schmerzen, Übelkeit, Herzpochen, in Tränen ausbrechen, nicht mehr sprechen können, sofort schlafen müssen; oder auch latente „Verpeiltheit“, Zittrigkeit, „nicht mehr denken können“, usw.

Ich zücke unser Handy, um unsere Frau kurz zu fragen, ob sie noch etwas aus dem Supermarkt braucht- und sehe einen Anruf in Abwesenheit. Vor einer halben Stunde. Es war also unser Handy, das ewig lange vor sich hin geklingelt hat in der Drogerie. Ich habe vor lauter Stress unseren Klingelton nicht erkannt. Peinlich. Ich sehe, woher der Anruf kam und dass es wichtig wäre, möglichst schnell zurückzurufen. Eigentlich ist mir das zu viel, wie alles andere in diesem Geschäft auch- aber naja, es wird ja vielleicht keine große Sache sein, ich will das erledigen und zu Hause dann einfach nur Ruhe haben und überhaupt… eigentlich ist ja gar nichts los.

Ich schiebe den Einkaufswagen Richtung Kasse und rufe die Nummer- entgegen all meiner Prinzipien und Abneigungen, was das Telefonieren in der Öffentlichkeit angeht- zurück. Das Gespräch ist tatsächlich wie erhofft kurz und knapp und effizient- also prima, die Sache kann ich abhaken. An der Kasse lächle ich der Person freundlich zu, die immer noch milde und ruhig mit ihrem sehr laut protestierenden Kind kommuniziert und überlege, ihr vielleicht gleich draußen vor der Tür zu sagen, wie toll ich das finde, wie sie das gemacht hat, denn das tut ja auch gut, wenn man das mal hört von jemandem, statt nur angemeckert zu werden von Leuten, die meinen, es besser zu wissen, denn „früher hätte es das so nicht gegeben, diese Schreierei von Kindern“.

Ich sehe beim Bezahlen, dass „ich“ andere Sachen gekauft habe, als auf dem Einkaufszettel vermerkt sind. Ich sehe auch, dass mein Shirt durchgeschwitzt ist und meine Knie zittern. Ich sehe, dass mein Blick Scheuklappenform angenommen hat und die Menschen um mich herum nun sehr weit weg und irgendwie „geschrumpft“ wirken. Ich sehe das, aber ich fühle nichts (mehr). Ich komme zu Hause an, räume die Einkäufe weg und bin nicht mehr „reizüberflutet“, sondern „stillgelegt“. Emotional stillgelegt. Das Gefühl, dass alles viel zu viel ist, ist weg. Für den anderen, neuen Zustand habe ich keine Begrifflichkeiten. Ich bin nicht ganz weg, sondern nur meine Überforderung ist weg. Und alles, was man sonst noch so fühlen könnte.

So ist das manchmal, wenn es um Funktionalität im Alltag geht.

Mit einer Dissoziativen Identitätsstruktur Alltag zu leben und zu schaffen, bedeutet nicht immer, dass sich die verschiedenen Innenpersonen permanent die Klinke in die Hand geben und sich eindeutig erkennbar abwechseln. Wenn die/der Eine nicht mehr kann, übernimmt der/die Andere- ja und nein. Zum Teil findet das vielleicht so statt und bestimmte Aufgaben sind auch mit bestimmten Innenpersonen verknüpft. Es kann aber auch so sein, wie oben beschrieben: Dass da innerlich was passiert, was Dissoziation ist, aber mit etwas Fließendem, Diffusem verbunden ist und weniger mit einem „schlagartigen Wechsel“.

In einem „Funktionsmodus“ zu agieren, kann bedeuten, dass es sich nicht um eine „Alltagsperson“ handelt, die eben solche Aufgaben wie Einkauf, Behördenkram, soziale Kontakte o.a. übernimmt, weil sie es am besten gehändelt bekommt- sondern dass sich innen etwas situationsbedingt zusammensetzt: Aspekte, Eigenschaften, Fähigkeiten, Möglichkeiten zur Abschirmung, Sprachfähigkeiten, usw., vielleicht von verschiedenen Innenpersonen beigetragen und in einen „Modus“ gepackt, der dann in der Lage ist, zu (re-)agieren. Und dieser Modus hat vielleicht auch einen Namen und einen Hauch von „Ich-Gefühl“ (vielleicht auch nicht), ist orientiert und klar- aber er ist auch fragil. Das klingt widersprüchlich: Einerseits kann dieser Modus unumstößlich stabil sein in seiner Funktion (und möglicherweise so „hart“, dass andere Innenpersonen es schwer haben, an ihm „vorbeizukommen“), andererseits in seinem „Wesen“ auch sehr zerbrechlich.
Der „Funktionsmodus“ ist vielleicht keine einzelne „Person“. Es ist viel eher ein „Zustand“, ein Anpassungs-Status, eine Art zu „sein“, zu denken oder (nicht) zu fühlen.

Manchmal stellen sich außenstehende Menschen das Vielesein so vor wie ein Wunschkonzert: „Wenn dir was zu viel wird, macht halt jemand anderes weiter. Wenn du was nicht kannst, kann es jemand anderes. Wenn du keine Lust mehr hast, übernimmt eben ein*e Andere*r…“ Vielesein als praktischer Lifestyle, den man sich so gestalten kann, wie man will? DIS als perfekte Form, es sich einfacher zu machen im Leben und auch nie wirklich alleine zu sein, juchhu?

Sorry for disappointing you, aber Traumafolgerealität sieht anders aus. Komplexe Gewalterfahrungen hinterlassen Spuren, die für die Betroffenen auf so vielen Ebenen wirken, dass sie jeden Tag, immer und immer wieder damit konfrontiert sind- und zwar manchmal auch, ohne ein Bewusstsein dafür zu haben. Davon auszugehen, dass Dissoziation vor allem eine himmlische Rettung in einem „Zuviel“ ist und der Mensch dank ihrer vor allem überlebensfähig bleibt- das beachtet nur die eine Seite der Medaille. Die andere Seite ist, dass der Mensch chronischem Stress ausgesetzt ist- und auch dissoziative Symptome hinterlassen „Stressabdrücke“! Sich wegzubeamen, nichts mehr zu fühlen, mit verschiedenen Persönlichkeitsanteilen zu leben, innerlich zu vernebeln, usw.- all das ist zum Einen eine mentale „Rettung“ oder Hilfe, ja, zum Anderen aber auch sehr anstrengend. Dissoziative Vorgänge sind kein seliges Wegdämmern nach Wolkenkuckucksheim, aus dem man anschließend frisch gestärkt und entspannt wieder erwacht- sondern für Körper und Psyche hochgradig anstrengende, stressbelastete Mechanismen.

Also: Nein, der Mensch ist nicht zwangsläufig erholt, wenn er nach dem Wegkippen wieder aufsteht oder nach einem Persönlichkeitswechsel wieder zurückkommt. Nein, er ist nicht zufrieden und gelassen, wenn die Emotionen zugunsten einer Funktionalität im Alltag „abgeschaltet“ wurden. Stattdessen ist da wahrscheinlich erst mal eine tiefgreifende Erschöpfung zu merken. Die Frage ist, ob sie Zeit und Raum und Anerkennung bekommt- oder ob auch darüber wieder hinweggegangen wird (werden muss).

Und wann ist die Grenze erreicht?

14 Kommentare

  1. Danke! Wir wissen nicht warum deine Beiträge uns so oft zum richtigen Zeitpunkt erreichen aber es ist schon sehr oft so gewesen.
    Sie helfen uns uns besser zu verstehen und du findest Worte, die wir nicht haben.
    Danke dafür.

    1. Danke! Ich habe mich da auch gerade in der Beschreibung wiedergefunden. Es fehlt noch die Eistruhe auf dem Weg zur Kasse, um die ich einen Umweg mache. Dann könnte ich’s ausdrucken und direkt so in mein Tagebuch kleben. 😄😎

  2. Worte für etwas zu finden, um dem inneren Erleben Ausdruck zu verleihen kann einen Beitrag zur inneren Entlastung und damit zur Regulation leisten. Uns gelingt das gerade nicht wirklich gut. Umso dankbarer sind wir euch, dass ihr immer wieder so treffende Worte findet und auch etwas in uns damit eine Stimme gebt.
    Danke dafür und euer Engagement!

    1. Oh, danke Sanne! Für uns ist das auch nicht selbstverständlich, Worte zu finden – oder überhaupt Ausdruck zu finden. Aber wenn’s dann geht, ist es hilfreich und entlastend. Danke, dass Ihr hier lest und kommentiert.

  3. Danke für diesen Text, bringt uns ein Stückchen Lebendigkeit zurück, weil er so genau beschreibt, was wir gerade fühlen. Und danke auch für den Text zum 1. Mai, plötzlich wurde unsere Lebensleistung gewürdigt, so schön und nachdrücklich und ungewohnt.
    Wir können diesen Blog erst seit Kurzem lesen, seit wir die inneren Gespräche und Bewegungen zulassen können, die Eure Texte auslösen. Und seitdem holen sie uns immer wieder ab.

  4. Ganz lieben Dank für deinen Text Paula !
    Also gibt es noch viele andere die diese “ Overloads“ auch kennen .. Auf deine Frage am Ende fällt mir ein, das es vielleicht nie zu spät ist eine Grenze (versuchen) zu setzen (erst einmal bei sich selbst). Wenn man zu Grenzenlosigkeit „trainiert“ wurde, ist es denke ich sehr schwer – ohne Hilfe – diese überhaupt zu spüren und dafür einzutreten. Austausch in jeglicher Form konnte mir (Teilen von mir) viel helfen 🙂 thank you 🌸

  5. Ein ganz liebes Danke für eure Zeilen, sie haben ein „ja, genau so ist es“ und ein Verstandenwerden entlocken können.
    Danke fürs abgeholt werden ☺️

    Es ist so toll, dass ihr Worte finden könnt.
    Wir lesen gern bei euch.
    Liebe Grüsse

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