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über Gewalt(folgen) berichten

Über sexualisierte, organisierte (rituelle/ritualisierte) Gewalt zu berichten, ist wichtig. Es geht immer wieder besonders um Aufklärung und Enttabuisierung; darum, aufzuzeigen, dass Gewalt keine Randerscheinung in einer Parallelwelt ist, sondern Teil des gesellschaftlichen Lebens, in dem wir uns alle befinden. Täter*innen und Opfer sind Kolleg*innen, Freund*innen, Nachbar*innen, Familienmitglieder, Personen in machtvollen Positionen, u.a. Verschiedene Gewaltformen sind alltäglich: Kinder, Jugendliche und Erwachsene werden misshandelt, ausgebeutet, emotional vernachlässigt, gefoltert, verkauft, u.a. Politik, Justiz und Gesellschaft tragen aus verschiedenen Gründen dazu bei, dass all das immer wieder und immer weiter passieren kann und die Opfer viel zu häufig alleingelassen werden- und haben auch die Möglichkeiten, Veränderungen zu erwirken.

Das sind die grundlegenden Fakten, die inzwischen unserer Einschätzung nach gar nicht mal so unbekannt sind. Vor zwanzig, dreißig Jahren bestand „Aufklärung“ noch darin, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, was sog. „sexueller Missbrauch“ ist und wie häufig er im sozialen, familiären Nahbereich stattfindet. Inzwischen dürfte das vielen Menschen klargeworden sein. Dennoch gibt es natürlich weiterhin den (menschlichen) Impuls, an einer Bullerbü-Vorstellung festzuhalten und das Thema „Gewalt“ aus dem eigenen Weltbild auszulagern, genauso wie Krieg, Flucht, Armut, Klimawandel und andere Katastrophen, die bitte woanders stattfinden sollen, nur nicht vor der eigenen Haustür.

Berichte über strukturelle Gewalt, zum Beispiel in organisierten, rituellen/ritualisierten Kontexten, beinhalten meistens auch Statements von Betroffenen oder sind als Portraits über sie aufgebaut. Häufig wird zwischen „Fachperson“ und „Betroffene*r“ sehr unterschieden: Die „Opfer“ erzählen Teile ihrer Geschichte, ihres „Leidens-“ oder auch „Heilungsweges“ und die „Profis“ bringen die wissenschaftlichen, psychologischen, sachlichen oder wie auch immer gearteten „Fakten“ und Analysen. Für den „emotionalen Zugang“ zum Thema sorgen die Erfahrungsberichte, für die Sortierung und „Aufklärung“ die „Fachleute“.

Wir finden es gut, wenn es Raum für Erfahrungen, Gedanken, Sichtweisen und Forderungen von Betroffenen gibt und sie sich selbst vertreten können. Wir wünschen uns, dass Betroffene in medialen Darstellungen, auf Kongressen und Tagungen, in Diskussionen oder Fortbildungen nicht nur „geduldet“ oder freundlich lächelnd „akzeptiert“ werden, sondern gleichwertig, auf Augenhöhe mit ihrer Expertise anerkannt werden. Viele Gewaltbetroffene bringen neben ihrer Erfahrungsexpertise auch Fachwissen mit und gestalten Vorträge, Workshops, Kunstaktionen, Seminare u.a. sehr professionell, wenn Veranstalter*innen sie „buchen“. Die Unterscheidung zwischen „Betroffene*r“ und „Fachmensch“ ist oft unstimmig und gar nicht nötig- und hält das Weltbild von „weit entfernter Täter*innen- und Opferschaft“ aufrecht, statt es zu verändern.

„Aufklärung“ und „Enttabuisierung“ im Bereich sexualisierter, organisierter (ritueller/ritualisierter) Gewalt kreist immer noch viel zu oft um die Grundsatzfrage der Glaubhaftigkeit von Betroffenenschilderungen (und/oder um die Anzweiflung oder Anerkennung der Kompetenz mancher Fachleute oder Fachrichtungen):

Ist das, was die gezeigte Person sagt, nachvollziehbar, vorstellbar, plausibel- wirkt sie ausreichend emotional berührt oder viel zu „cool“, für das, was sie „behauptet“, erlebt zu haben? Kommt sie „sympathisch“ rüber? Erscheinen ihre Gesten, ihr Stimmklang, ihr Ausdruck, ihre Haltung authentisch, übertrieben, irritierend, ambivalent, o.a.? Ist sie „zu viel“ Opfer oder „zu wenig“? Wie äußern sich Fachpersonen dazu, die ggf. einen „Autoritätsfaktor“ innehaben und per se schon als „fundiert“ wahrgenommen werden, weil sie Mediziner*innen, Jurist*innen, Politiker*innen, männlich, weiß oder sonst wie etabliert sind?

In Berichterstattungen wirkt so viel zusammen: Bildsprache, Kameraeinstellungen und Schnitt, Äußerungen anderer Interviewpartner*innen, Kommentare, Titel, Format, Zusammenstellung verschiedener inhaltlicher Aspekte, Veröffentlichungswege, Werbung, usw. Es wird Haltung transportiert, auch dann, wenn sich die Medienschaffenden um Neutralität bemühen, und zwar indem sie ihr Format so gestalten, wie sie es eben gestalten.

Wir wünschen uns, dass Berichterstattung nicht nur im Sinne neuer, tiefergehender Erkenntnisse „investigativ“ arbeitet, sondern auch auf Anregungen, Ideen, Veränderungen und Lösungsorientierung bezogen aufdeckend aktiv ist. Was kommt nach und neben der „Glaubhaftigkeitsdiskussion“? Wie geht es weiter, wenn man ausreichend fundiert dargestellt hat, dass es sexualisierte, organisierte (rituelle/ritualisierte) Gewalt gibt, welches Ausmaß bisher bekannt und belegt ist und welche Folgen diese Traumatisierungen für die Betroffenen bedeuten können?

Wir wünschen uns Raum und Aufmerksamkeit für „gute Nachrichten“. Es gibt Hilfsangebote, z.B. das Hilfetelefon, Beratungsstellen und andere Institutionen, Ausstiegsberatung und engagierte Personen im „Hilfesystem“, es gibt politische Bewegungen (siehe z.B. UBSKM, Betroffenenrat, Aufarbeitungskommission, Nationaler Rat, u.a.), verschiedene Akteur*innen in der Betroffenenselbstvertretung, u.a. Komplextraumatisierung durch Gewalterfahrungen bedeutet nicht zwangsläufig lebenslanges Leid oder totale innere Zerstörung, es gibt Behandlungs-, Begleitungs-, Unterstützungsmöglichkeiten, und viele Betroffene finden einen Umgang mit den Folgen der Gewalt.

Dass der Zugang zu den ohnehin zu wenigen Hilfsangeboten viel zu schwer gemacht wird, ist dramatisch und muss Teil der Berichterstattung sein- dass viele Überlebende trotzdem weitergehen, weitermachen, weiterprobieren und bemerkenswerte Wege für sich finden, ist jedoch genauso berichtenswert. „Enttabuisierung“ beinhaltet auch die Benennung alltäglicher Hürden, Herausforderungen und Hilfen erwachsener Überlebender: Wie lebt man mit den Folgen der Gewalt (möglichst gut) weiter und was wird dazu innerlich und äußerlich gebraucht und entwickelt?- Wir finden, das ist eine sehr spannende Frage, die auf verschiedene Arten beleuchtet und beantwortet werden kann.

Strukturelle Dissoziation findet innerhalb eines Individuums und innerhalb einer Gesellschaft statt. Menschen nutzen diesen Automatismus (diese Strategie) für sich selbst und miteinander, um sich an (vermeintlich oder tatsächlich) unlösbare, unbeeinflussbare Gegebenheiten anzupassen. Was sich als zu viel, zu schlimm, zu groß, zu schwer, zu kompliziert anfühlt, wird innerlich und auch äußerlich „weggeschoben“. Es wird getrennt zwischen gesund und krank, gestört und normal, gut und schlecht, etc. Es gibt die eigene, mehr oder weniger vielfältige „Bubble“, die eigene Wohlfühlzone, den eigenen Horizont, die eigenen Belastungsgrenzen. Daneben, davor, dazwischen, danach kommt „Fremdes“, was sich integrieren, inkludieren oder im Zweifelsfall auch eliminieren lässt.

Soll das alles so sein und bleiben?! Wie eng gefasst man sein Leben gestalten kann oder möchte, wie leicht es einem fällt, über den Tellerrand zu schauen, sich auf Neues einzulassen, sich weiterzubewegen, hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab. Manchmal ist es Angst, die den Radius sehr klein sein und bleiben lässt. Manchmal ist es auch Bequemlichkeit, Ignoranz, Arroganz, Machtstreben, o.a.

Den Blick zu öffnen; darauf zu schauen, welche Entwicklungen und Ergänzungen es gibt, die man noch gar nicht wahrgenommen hat, erfordert neben Mut und Neugier auch die Bereitschaft, das eigene Ego auch mal zur Seite zu stellen. Mediale Berichterstattung über Gewalt kann sehr verschiedene Motivationen haben. Aufklärung und Enttabuisierung sind ehrenwerte Absichten, sich für eine „gute Sache“ einzusetzen fühlt sich wunderbar sinnhaft an. Sich als Sprachrohr für eine marginalisierte Gruppe anzusehen, empfinden wir als schwierige, eher schädliche Position. Wir lehnen sie für uns in der Öffentlichkeitsarbeit klar ab. Wir können und wollen nicht „für andere Betroffene sprechen“, sondern unsere Erfahrungen und Erkenntnisse teilen, die wir z.B. durch Peerkontakte, Vernetzung und eigene, persönliche Innenarbeit gewonnen haben.

Wem dient das, was ich tue, kurz-, mittel- und langfristig? Was ist meine Antriebsfeder? Wie variabel bin ich mit meiner Komfortzone? Um wen oder was geht es mir fachlich – und persönlich?

Das sind Fragen, von denen wir uns wünschen, dass sie sich Medienschaffende auch immer wieder ehrlich selbst stellen.

Wir tun das auch.

„Blinder Fleck“: Wenn Fragezeichen bleiben, die aufgelöst werden könnten

Im aktuellen Film „Blinder Fleck“ von Liz Wieskerstrauch geht es um rituelle Gewalt. Zu sehen ist er in diversen kleineren und größeren Kinos, inklusive anschließender Diskussions- und Fragerunde mit der Regisseurin.

Die Filmautorin schreibt auf ihrer Homepage: „Dieser investigative Film zeigt das Ausmaß organisierter ritueller Gewalt in Deutschland und wirft die drängende Frage auf, warum die Ermittlungen bislang in keinem einzigen Fall zu einer Anklage, geschweige denn zu einer Verurteilung geführt haben.

Betroffene, Ärzte, Therapeutinnen/Beraterinnen, Jurist*innen, Polizisten/Kriminalisten kommen in verschiedenen Interviews zu Wort und beleuchten das Thema „rituelle Gewalt“ aus ihren jeweiligen Hintergründen heraus.

Von den Betroffenen wird hauptsächlich aufgezeigt, wie diese Gewalt inhaltlich und in ihren Auswirkungen konkret aussehen kann. Die Dissoziative Identitätsstruktur als eine Folge solcher Komplextraumatisierungen wird sicht- und spürbar. So werden die Zuschauenden emotional sehr angesprochen.

Die Fachpersonen, die in ihren Berufsfeldern mit der Thematik zu tun haben, äußern sich unter anderem zum Aspekt des Zweifelns: Immer wieder wird die Glaubhaftigkeit der Schilderungen von Betroffenen medial, gesellschaftlich, juristisch, politisch in Frage gestellt- ist „rituelle Gewalt“ nun real existent oder nicht? Hierzu teilen die Fachpersonen ihre individuellen Meinungen mit.

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Meinungen und offene Fragen, statt wissenschaftlicher Erkenntnisse und Antworten.

Uns fehlt in der Dokumentation die (internationale) Traumaforschung der letzten Jahre, die es überflüssig macht, sich immer wieder (nur) auf die „Glaubensfrage“ zu beziehen. Wenn die thematische Auseinandersetzung ausschließlich davon abhängt, wer in welcher Position welche Darstellungen und Zusammenhänge persönlich für (un)möglich oder (un)wahrscheinlich hält, wer damit wo wieviel Einfluss und Reichweite hat- dann bleibt es für Betroffene ein „Glücksspiel“, an wen man wo gerät und wie die Unterstützung dann aussieht, falls man welche bekommt.

Anzuzweifeln, dass es rituelle Gewalt als eine von vielen möglichen Gewaltformen gibt, ist Bestandteil einer ignoranten, persönlichen Komfortzone. Die Dissoziative Identitätsstruktur als eine von vielen möglichen Gewaltfolgen zu negieren, ist schlicht unwissenschaftlich. Man kann sich inzwischen auf Belege beziehen und muss gar nicht mehr in der Grundsatz-Glaubensfrage herumdümpeln.

Die Dissoziative Identitätsstörung (DIS) ist eine belegbare Diagnose, die in der „internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme“ (engl. ICD) aufgeführt wird. Die Diagnosekriterien und -standards sind klar. Wie bei allen anderen „Erkrankungen“ kann es auch hier zu Fehldiagnosen und -behandlungen kommen, die für die Betroffenen mit sehr viel Leid verbunden sind.

Die Möglichkeit, in einem therapeutischen/beraterischen oder polizeilichen Setting Suggestion und Manipulation zu erleben, ist für psychisch belastete Menschen sehr hoch. Die Wahrscheinlichkeit, dass Betroffenen von sexualisierter Gewalt in der Kindheit nicht geglaubt wird, ist weitaus größer, als dass jemandem falsche Gewalterinnerungen „eingeredet“ werden. Natürlich ist es möglich, Erinnerungen zu manipulieren- und zwar in jede Richtung. Therapeut*innen, die suggestiv auf ihre Klient*innen einwirken, sind keine verrückten „Psychos“ (wie im Film von einem Facharzt geäußert): Sie begehen dabei ethische und fachliche „Kunstfehler“, die unbedingt vermieden werden müssen (und können!). Behandlungs- und Beratungsrichtlinien sollten auch in diesem Zusammenhang keine „persönliche Präferenz“, individuelle Meinung oder „nice to have“ sein, sondern einen klaren, schützenden Rahmen für (besonders vulnerable) Menschen bieten.  Diagnostik ist für kompetente Behandler*innen inzwischen kein Hexenwerk mehr; Psychotraumatologie wurde und wird erforscht, überdacht, findet neue Wege und Methoden- und trotzdem hält man sich immer wieder mit „false memory“-Geschwurbel auf, verschwendet Ressourcen, Zeit und Raum, der lösungsorientierter genutzt werden könnte.

Die Existenz organisierter, ritueller Gewalt wird immer wieder daran festgemacht, wie viel davon juristisch beweisbar ist. Die Schilderungen der Betroffenen über größere Täter*innenkreise, mehrere andere Opfer und massive Straftaten steht im Widerspruch zur Verurteilungsrate: Über gefasste Täter*innen ist nur wenig bekannt, die in „Blinder Fleck“ und anderen Beiträgen gezeigten  Ermittler*innen haben nie entsprechende Fälle aufklären können. Keine gerichtsverwertbaren Beweise, also auch keine Urteile- also auch keine Täter*innen? Und somit auch keine Opfer? Man glaubt nichts, was man nicht sieht. Die Schilderungen über rituelle Gewalt bleiben so viel zu oft konsequenzlos in der Luft hängen, werden vergessen. Gut, dass sie zumindest in der Dokumentation ihren Platz bekommen und behalten.

Dass Ermittlungsverfahren so oft (aber nicht immer, siehe Infoportal Rituelle Gewalt) scheitern, bedeutet in erster Linie, dass nicht genügend Material für einen Gerichtsprozess gefunden wurde. Was als juristisch ausreichender Beleg oder Beweis gilt, ist gesetzlich vorgegeben. Aussagen von Betroffenen werden mit polizeilich und gutachterlich zur Verfügung stehenden Mitteln überprüft und untersucht. Die forensischen Standards der sogenannten „Glaubhaftigkeitsbegutachtung“ wurden bisher nicht an die Erkenntnisse der Traumaforschung der letzten Jahre/Jahrzehnte angepasst. Es gilt in dem Zusammenhang weiterhin auch die „Nullhypothese“: Es wird davon ausgegangen, dass die Aussage unwahr ist – so lange, bis genügend Beweise für die Glaubhaftigkeit vorliegen. Alles, was die Grundannahme der „falschen Behauptung“ untermauern kann, wird gesammelt und führt schließlich zu einer gutachterlichen Stellungnahme, die sowohl ein Ermittlungsverfahren als auch einen Gerichtsprozess (und somit auch ein Urteil) maßgeblich beeinflusst und steuert.

Ob polizeiliche Tätigkeiten erfolgreich verlaufen, hängt von vielen Faktoren ab. Ein Aspekt sind Zeugenaussagen. Auch im Film „Blinder Fleck“ wird darauf eingegangen: Dissoziativ strukturierte Menschen haben eben häufig keinen bewussten, kontinuierlichen Zugang zu Erinnerungsmaterial. Schilderungen sind oft bruchstückhaft und in sich zum Teil widersprüchlich. Verschiedene Persönlichkeitsanteile erinnern und äußern Verschiedenes- und es braucht Mühe, Zeit, Unterstützung, das Ganze zusammenzusetzen. Eine polizeiliche Vernehmungssituation ist hochgradig stressig, die Betroffenen sind psychisch belastet- und es wird gefordert, konstant, in sich schlüssig, nachvollziehbar und rekonstruierbar auszusagen, was passiert ist. Logischerweise findet auch (gerade) in solchen Momenten Dissoziation statt- und wenn die vernehmenden Beamt*innen keine Ahnung von Psychotrauma haben, überfordert oder überlastet sind, dann kann so eine Ermittlung im Grunde nur mit viel Glück oder Zufall gerichtsverwertbares Material hervorbringen.

Im Film bleibt die Problematik der Aussage(un)fähigkeit bei Dissoziativer Identitätsstruktur als (ein) Grund für im Sande verlaufene Ermittlungen stehen. Es wird nicht benannt, was hilfreich sein könnte. Menschen mit DIS sind nicht per se „schlechte Zeug*innen“- bedeutend sind unserer Erfahrung nach vor allem die Zeitpunkte und Umstände, wann und wie sie bei der Polizei landen. Erinnerungsmaterial kann im Laufe der Zeit klarer zur Verfügung stehen und auch deutlicher benannt werden, Fehlerinnerung können innersystemisch aufgespürt und korrigiert werden- sofern Betroffene dabei auch therapeutisch kompetent unterstützt werden. Und auch hier zeigt sich wieder die Hürde der Glaubhaftigkeitsbegutachtung: Langjährige Psychotherapie gilt als ein Argument, dass für eine Falschbehauptung spricht (Stichwort Suggestion) und wird nicht als Beleg für Wahrheit angesehen. Dass viele komplextraumatisierte Menschen überhaupt erst mit therapeutischer Hilfe in die Lage kommen, ein Strafverfahren angehen und durchstehen zu können, wird ignoriert.

Kinder, die organisierter und/oder ritueller/ritualisierter Gewalt ausgesetzt sind, werden immer noch viel zu selten und zu spät als Opfer erkannt. Traumafolgesymptome werden von Umfeld, Kita, Schule, Erzieher*innen, Institutionen oft nicht als solche identifiziert- obwohl das mit Fachwissen und Aufmerksamkeit durchaus möglich ist. Hier trifft der Film einen wichtigen Punkt: Man muss Gewalt eben auch für möglich halten. Wer weiß, welche Gewaltformen es geben kann, der/die schaut anders hin. Wir hätten uns gewünscht, dass die Dokumentation mehr Handlungsoptionen aufzeigt: Was brauchen betroffene Kinder und Erwachsene? Wie kann Schutz aussehen und gewährleistet werden? Was braucht es gesellschaftlich und politisch? Wie können Menschen, die helfen wollen, dazu befähigt werden, auch helfen zu können?

Betroffene Erwachsene haben überlebt. Sie nicht als komplett zerbrochen, bis ans Lebensende leidend und psychisch zwangsläufig am Ende anzusehen, sondern es für möglich zu halten, „trotzdem“ Lebensfreude und „persönliche Freiheit“ entwickeln zu können, finden wir eine sehr wichtige Haltung, die für uns im Film gerne noch mehr hätte transportiert werden können.

Die Auswahl der Kulissen (Lagerhallen, verlassenes Schwimmbad, leere Bar, „Schlüssellochperspektive“ in ein Büro, u.a.) für die Interviews können wir an einigen Stellen nicht nachvollziehen, die Bildsprache und Kameraeinstellung erscheint uns zum Teil auch als „leider typisch“ für Berichterstattungen über sexualisierte Gewalt (Spielplatz, Clown, u.a.)

Ein dunkler Punkt (blinder Fleck?) wird im Verlauf des Filmes größer, statt kleiner.

Schade, wir hätten es uns andersherum gewünscht.

Zum Namenstag

Unser Namenstag bedeutet uns emotional mehr als unser körperlicher Geburtstag. Uns zu entscheiden, den von den Eltern bestimmten Vor- und Nachnamen abzulegen, selbst zu bestimmen, wie wir angesprochen werden möchten – das wurde damals möglich durch jahrelange Therapie-, Ausstiegs- und innere und äußere Beziehungsarbeit.

Eine öffentlich-rechtliche Namensänderung ist ein behördlicher Vorgang, bei dem Unterstützung sinnvoll ist: Zum Beispiel durch eine medizinische oder psychotherapeutische Fachperson, die eine Stellungnahme dazu schreibt, weshalb diese Namensänderung nötig ist, oder auch durch rechtlichen Beistand und Finanzierungshilfe.

Wir haben den neuen Namen damals zeitgleich mit der Strafanzeige gegen Täter*innen beantragt. Neben dem vorrangigen Aspekt der inneren Distanzierung zu unserer Herkunftsfamilie hatten wir auch die Hoffnung, inklusive einer Auskunftssperre etwas mehr äußeren Schutz durch die Namensänderung erreichen zu können.

Leider mussten wir die Erfahrung machen, dass unsere Eltern innerhalb weniger Wochen bereits über den neuen Namen informiert waren, weil eine Mitarbeiterin der Kindergeldkasse am Telefon „geplaudert“ hatte. Auch die Auskunftssperre und somit der Schutz unserer Wohnung hielt sich auf Behördenebene (und somit auch im Täterkontext) nur kurz.

Was uns aber seit inzwischen 22 Jahren mit selbst gewählter „Benennung“ geblieben ist, ist die Ruhe, wenn wir gerufen werden. Die Angstfreiheit, wenn wir unterschreiben. Das Lächeln, wenn wir unsere Adresse sehen. Der Stolz auf unseren bisherigen Weg.

Happy Paula-Day to ourselves! 🙂

Sie und die Bank

Das feuchte Holz der Rückenlehne fühlt sich etwas nachgiebig an. Mit einer Hand hält sie sich daran fest und überlegt, ob sie sich hinsetzen soll. Die alte Bank ist etwas wackelig.

Im Grunde bräuchte sie jetzt Stabilität.

Zu Beginn war sie bunt und strahlend. Inzwischen wirkt sie matter und an manchen Stellen auch ziemlich blass. Sie hat Macken, Ecken und Kanten. Es gibt sie kein zweites Mal. Natürlich nicht.

Sie streicht über die Leisten, von der feine Splitter abstehen. So ist das, wenn Sonne, Regen, Hitze, Kälte, Leben und Zeit passieren. Es bleibt nichts für immer glatt und unversehrt. Manche Splitter sind beinahe unsichtbar. Manche stören auch. Wenn man sich die Mühe machen will, die Basis zu bearbeiten, braucht es Achtsamkeit und Feingefühl. Vielleicht reicht einfach ein wenig Pflege? Eine Lasur, ein liebevolles Hinwenden- keine groben Maßnahmen, kein Austausch oder Ersatz.

Sie ist ein Blickfang im Garten. Sie ist einfach da und strahlt Ruhe und Freundlichkeit aus. Ein Blick, ein Moment, eine Pause; eine Katze, die um sie herumstreift. Neben ihr ein Lavendelstrauch, über ihr die große Kletterhortensie mit dem Vogelnest, unter ihr verblühter Löwenzahn. Mit ihr ist alles gut. Sie ist zu Hause.

Irgendwann hatte man sie einfach von irgendwo mitgenommen. Und dann war sie eine Zeit lang zerteilt, beinahe vergessen. Bis sich plötzlich etwas Neues entwickelte und sie zum Projekt wurde. Es haben sich einige um sie gekümmert, sich Mühe gegeben, Ausdauer, Geduld und Mut bewiesen. Das hat sich gelohnt.

Sie setzt sich schließlich doch. Die Stabilität, die ihr fehlt, ist der Ermüdung geschuldet. „Von nichts kommt nichts“, denkt sie.

Das Wichtigste ist, dass sie ihren Platz in diesem Garten gefunden hat.

Über Rettung und Dich

„Es kommt niemand, um Dich zu retten.“

Das zu fühlen und zu wissen, ist eine der schmerzhaftesten Erkenntnisse, die man so haben kann.

Als Kind erlebst Du genau das: Du bist der Gewalt schutzlos ausgeliefert. In Deinem Umfeld gibt es auch Erwachsene, die Dich zwar nicht misshandeln, aber gleichzeitig auch nicht dafür sorgen, dass die Gewalt aufhört. Dir begegnen vielleicht Menschen, die freundlich zu Dir sind. Die „anders“ sind als prügelnd, strafend, bedrohend, o.a.. Bei denen Du Dich wohl oder zumindest nicht panisch fühlst. Kleine Auszeitinseln.

Vielleicht ist Dir als Kind gar nicht bewusst, dass es Alternativen zur Gewalt geben kann. Dass andere Kinder anders aufwachsen. Dass das, was Du erlebst, Gewalt ist- und Du ein Recht darauf hast, dass Dir das nicht angetan wird. Dass es richtig und wichtig ist, ein Kind liebevoll und zuverlässig zu versorgen, zu pflegen, zu fördern, zu begleiten- und dass das keine Dinge sind, die Du Dir erst erarbeiten oder verdienen musst.

Vielleicht hast Du als Kind permanent das Gefühl, falsch zu sein. Zu viel, zu anstrengend, zu dumm, zu fordernd, zu unverschämt, zu seltsam, zu nervig. Du denkst, Du bist Schuld daran und es liegt an Dir, dass Erwachsene „so“ mit Dir umgehen- denn wenn es anders wäre, müsste doch jemand kommen und Dir helfen?

Die Jahre vergehen und die Rettung im Außen bleibt aus.

Das, was Du selbst tust -was Dein psychisches und physisches System automatisch tut, weil es um Anpassung und Überleben geht, ist strukturelle Dissoziation. Rettung im Innern.

Wenn ein Mensch in einer organisierten Gruppierung oder einem in sich geschlossenen familiären Gewaltkontext aufwächst, gelingt eine Befreiung im Erwachsenenalter meistens nicht „von ganz allein“. Sich zu entscheiden, etwas anderes (er-)leben zu wollen, als das, was bisher zur Biographie gehörte- das braucht „gute Gründe“. Es braucht neue Erfahrungen und Begegnungen, Ideen und Anregungen, Spiegelung, Beziehungen innen und außen. Wenn man kein Bild dazu hat, wie es „anders“ sein könnte, wie es aussehen und sich anfühlen könnte- wieso sollte man sich dann für einen neuen Weg entscheiden? Wieso sollte man alte Verbindungen kappen, wenn man dann Schritte ins Bodenlose macht? Wie soll man dafür Mut, Motivation, Kraft, Willen, Energie aufbringen können- wenn da erst mal nur Angst ist?

Unsere Entscheidung, uns räumlich weit weg zu bewegen aus dem Täter*innen-Dunstkreis, ist einer Entscheidung von Außenpersonen gefolgt, die uns gesichert untergebracht haben. Wir haben Menschen gebraucht, die in Bewegung gekommen sind, während wir erstarrt waren. Uns hat das bis in die Haarspitzen überrascht. Wir hätten es auch als furchtbare Grenzüberschreitung empfinden können. Stattdessen waren wir „nur“ überfordert und irritiert und standen mit einem großen Fragezeichen im Kopf da: „Warum machen die so einen Aufriss? Es ist doch (eigentlich) egal? Es ist doch alles wie immer?“

Wir waren zu dem Zeitpunkt Anfang 20. Wir hatten ein Studium begonnen und bereits Therapieerfahrung, lebten in einer eigenen Wohnung, konnten unsere Erlebnisse als Gewalterfahrungen und die Diagnose „DIS“ an sich einsortieren- und waren weiterhin Übergriffen ausgesetzt, für die wir teilweise amnestisch waren. Das war unser „Normal“. Dass wir auf Menschen trafen, die das so nicht hinnehmen wollten, half uns dabei, unser eigenes Bild, unsere Haltung, unsere Vorstellungen u.a. Schritt für Schritt zu reflektieren und zu verändern.

Den Rahmen boten zeitweise Außenpersonen- was wir damit und darin taten, lag in unserer Verantwortung. Es hat uns niemand aus der Gewalt herausgetragen. Als Kind nicht und als Erwachsene auch nicht.

Den Wunsch, es möge jemand oder etwas kommen und einen einfach mitnehmen, weg aus dem Furchtbaren (das Furchtbare beenden)- den kennen wir gut. Er begleitet uns heute noch. Immer wieder zu realisieren, dass da niemand war und auch jetzt und in Zukunft niemals jemand sein wird, der sich so schützend und befreiend vor/neben uns stellt- das ist mit einem großen Schmerz verbunden. Damals rettete uns niemand- das ist nicht mehr änderbar. Und jetzt und in Zukunft liegt die „Rettung“ allein bei uns selbst- das ist der Punkt des Erwachsen(geworden)seins. Schrecklich und gut zugleich.

Der Schmerz der Hilflosigkeit, des Alleingelassenseins, ist für uns nicht (nur) irgendwo im Kindlichen verortet. Es ist nicht (nur) das kleine Kind, das in der emotionalen Erinnerung an diese furchtbare Hoffnungslosigkeit und die daraus entstehende „Ergebung“ (Unterwerfung) feststeckt; es sind keine ausschließlich jungen Bindungsschreie, die einem in der Auseinandersetzung begegnen:

Die (erfolglose) Suche nach Rettung im Außen kann auch auf der erwachsenen Ebene gefühlt und ausagiert werden.

Es gibt keine Therapieplätze. Es gibt keine Schutzeinrichtungen. Niemand hilft. Niemand ist in der Lage, gut zu helfen. Es gibt keine Auswege. Alle machen es falsch. Ich bin und bleibe alleine. Niemand nimmt mich ernst. Keiner glaubt mir. Alle ignorieren mich. Ich bin es nicht wert, dass man mir hilft. Ich habe keine Chance.

Stimmt das alles (so)?

Kontakt zu Menschen im Hilfesystem zu haben, bedeutet nicht zwangsläufig, die Hilfe zu bekommen, die man will oder die man braucht. Und es bedeutet auch nicht, gerettet zu werden.

Kontakt zu Menschen im Hilfesystem zu haben, stellt Chancen dar. Ein Mensch im Hilfesystem zu sein, bringt Möglichkeiten mit sich: Einen Rahmen anzubieten, eine Begleitung, Unterstützung, ein anderes „Normal“. Nicht mehr und nicht weniger.

Da, wo nie gerettet worden ist, als es an der Zeit war, zu retten, ist Schmerz übriggeblieben, der fast wortlos ist. Der kaum Sprache findet, wohl aber Ausdruck. Schutzlosigkeit kann man bei einem Menschen auch nach zwanzig, dreißig, vierzig Jahren noch sehen, wahrnehmen, spüren, mitfühlen- wenn man sich darauf einlässt.

Ich kann nichts tun. Es gibt keine Hilfe. Ich reiche nicht aus. Es ist ein lebenslanges Leid. Betroffene haben keine Chance. Sie tun mir so leid. Täter*innen sind immer stärker. Ich muss mehr tun. Mein Angebot ist ungenügend.

Stimmt das (so)?

Damit in einem Hilfekontakt nicht beide-alle Personen unter dieser Last zerbrechen und eine Dynamik der beidseitigen Erstarrung entsteht, braucht es offene Kommunikation: „Ich wünschte, es hätte mich-uns damals jemand geschützt. Ich bin so sehr traurig, verletzt, erschüttert, dass das nie so war. Mir fällt es heute manchmal schwer, mich selbst gut zu versorgen.“ trifft auf „Ich wünschte, es hätte Dich-Euch damals jemand geschützt. Ich fühle die Traurigkeit mit. Ich wünschte, es wäre anders gewesen. Ich möchte Dich-Euch gerne unterstützen, dass Ihr Euch gut versorgen könnt.“ Oder so ähnlich. Zwei oder mehr Menschen, die miteinander in Bewegung bleiben, um Wege finden und gehen zu können.

Ein Kind, das geschützt wird. Ein Kind, das aus der gewaltvollen Situation herausgeholt wird. Ein Kind, das im Arm gehalten, getragen, getröstet, versorgt, gefüttert, geliebt wird. Ein Kind in Sicherheit.

Das sind innere Bilder, die wir uns zum Einen erst erlauben, zum Anderen auch erst mit Hilfe von außen entwickeln lernen mussten: Wie kann das aussehen, wenn die Gewalt aufhört? Was kann eine „Rettung“ sein? Was braucht dieses Kind? Was brauchen wir?

Hilfe von außen kann dabei sein, gespiegelt zu bekommen, was „Trost“ oder „Beruhigung“ eigentlich ist oder sein kann. Zu erleben, wie sich das anfühlen kann oder wo auch eine „Untröstlichkeit“ anerkannt werden will. Auch das kann in professionellen Unterstützungskontexten stattfinden, wenn sich beide-alle darauf einlassen wollen und genügend Vertrauen und Klarheit zu Grenzen vorhanden sind.

Es ist nicht Deine Schuld, dass Dich niemand geschützt hat. Es ist nicht Dein Fehler, dass Du heute noch den Wunsch fühlst, es möge jemand tun. Es ist nicht Dein Versagen, wenn Du merkst, dass Du immer wieder auf der Suche danach bist.

Es ist Dein Schmerz, der Dich begleitet.

In all dem bist Du Deine Rettung.

Mutter.Mund.Macht

©PaulaRabe

Kennst du dich gut mit deinem Körper aus?

Wählst du deine Sexualpartner*innen und den Zeitpunkt des Kontaktes selbstbestimmt?

Hast du freien Zugang zu Verhütungsmitteln, Informationen und Beratungen?

Wirst du medizinisch und therapeutisch kompetent und zuverlässig versorgt?

Weißt du, wo und wie du eine Abtreibung durchführen lassen kannst?

Hast du einen Kinderwunsch und fühlst dich dabei gut begleitet?

Konntest du eine Fehlgeburt so unterstützt betrauern, wie du es brauchtest?

Hast/hattest du eine bedarfsgerechte Betreuung durch eine Hebamme und ein traumafreies Geburtserlebnis?

Ist dein Uterus Teil von dir oder fremdes „Hoheitsgebiet“ von anderen?

Wer bestimmt über „Fortpflanzung“, Empfängnis, Schwangerschaft, Geburt?

Wer verschafft und gewährt Ressourcen, wer erlässt Gesetze und Verbote, wer klärt wie wann und wo auf?

Jene, die dir heute Blumen oder Pralinen reichen, können auch jene sein, die durch eine Vergewaltigung Schwangerschaft herbeigeführt haben. Oder die laut gegen Abbrüche brüllen. Oder die religiös, kulturell, faschistisch, patriarchal oder sonstwie motiviert davon überzeugt sind, dass du ihr Eigentum bist.

Und auch Freundinnen, mit denen du heute Kaffee oder Sektchen trinkst, während eure Kinder in der Sandkiste spielen, können sich als „tradwifes“ oder „supermommys“ entpuppen, deren Solidarität mit dir, deinen Bedürfnissen und Ängsten gleich Null geht. „Daddy first“ und „Feminismus: Igitt!“

Wir möchten dir sagen:

Wir denken an dich! Du bist nicht allein. Wir sind Viele!

Es geht um deine Rechte, deinen Körper, deinen Willen, deine Macht.

Und das ist keine Privatangelegenheit, sondern politisch.

Junge Pflege

Unterstützungsbedarf im Sinne einer anerkannten Pflegebedürftigkeit zu haben, betrifft manchmal vor allem die Alltagsstruktur, die (Selbst-)Versorgung, Begleitung, Assistenz- zum Beispiel im Zusammenhang mit schwerer Traumafolgesymptomatik.

Dissoziation kann verschiedene Ausprägungen, Formen und Schweregrade haben und Menschen in ihrem Lebensalltag mehr oder weniger stark beeinträchtigen, so wie z.B. auch Flashbacks, Ängste, psychosomatische Phänomene, Depressionen, u.a.

Psychiatrische (genauso wie körperliche) Erkrankungen können einen Pflegegrad begründen (auch hier gilt leider immer noch: Recht haben bedeutet nicht immer Recht bekommen.). Und häufig gibt es eben auch sogenannte „pflegende Angehörige“, die mit den Betroffenen zusammenleben.

(Ehe-)Paare, bei denen eine oder beide Personen mit psychischen Erkrankungen und Diagnosen leben und vielleicht eine*r von beiden als „pflegende*r Angehörige*r“ vermerkt wurde, haben häufig mit anderen Themen und Herausforderungen zu kämpfen:

Wer braucht wobei Begleitung, wie kann eine Krise aufgefangen werden, wie lässt sich gut (weiter-)leben, wenn kein Therapieplatz gefunden wird, was ist zu tun, wenn eine Essstörung eskaliert, wie kann man Sicherheit im Straßenverkehr gewährleisten, usw.

Kurse für „pflegende Angehörige“ und/oder Pflegeberatung orientieren sich meistens an Themen, die alte und/oder körperlich schwer beeinträchtigte Menschen betreffen: Hygiene, Dekubitusprophylaxe, Mobilitätstraining u.a.

Dass „Pflege(bedürftigkeit)“ auch „jung“ und „psychisch“ sein kann, wird noch zu oft „vergessen“, auch (immer wieder) von ambulanten Pflegediensten und/oder Pflegegutachter*innen.

Glücklicherweise gibt’s natürlich auch Ausnahmen und wirklich fachlich und menschlich fähige Assistenz- und Pflegedienstleister*innen, die über den Tellerrand schauen können/wollen.

Ein Schatz für Betroffene und Angehörige!

„Die Klappe halten“: Vom Singen, Öffnen und Schließen

Ich schaue mich im Spiegel an: Meine beiden Hände liegen rechts und links an meinen Kiefergelenken. Ich atme eher weit und weniger tief und aus meinem Mund kommen Töne, die unsere Gesangslehrerin jeweils als „angebunden“ und „unangebunden“ bezeichnet. Genau so soll das sein: Ich übe, bewusst zwischen Brust- und Kopfstimme zu wechseln, mit Intervallsprüngen, begleitet von der Lehrerin am Klavier. Verstanden habe ich das Prinzip und was der Kehlkopf dabei zu tun hat- aber mein Körper hat ein Problem: Das Loslassen.

Spannung halten kann ich (meistens). Gezielt den Atem in die Seiten des Brustkorbs fließen zu lassen, die seitlichen Bauchmuskeln zu „tonisieren“, stabil und aufrecht zu stehen, fällt mir inzwischen leichter. Das hilft, Töne größer und klangvoller werden zu lassen und entsprechend lange zu halten. Damit das Ganze aber nicht angestrengt, gepresst oder krampfig klingt, brauche ich die Fähigkeit, währenddessen auch loslassen zu können. Wie das gehen kann, übe ich. Wo „muss“ ich halten und wo bitte nicht? Mein Körper ist Schüler*in.

Mir hilft es, meine Hände an verschiedene Stellen zu legen. Zum Beispiel seitlich auf meinen Brustkorb, wenn ich mich auf meine Atmung fokussiere. Oder mittig auf die Brust, wenn es darum geht, etwas weniger kontrolliert zu singen. Oder auf die Hüften, wenn meine Beine und Knie dazu neigen, zu verhärten, statt „soft“ zu bleiben.

Meine Gesangslehrerin gibt mir den Tipp, mal meinen Kehlkopf anzufassen. Ich lege eine Hand vorsichtig an meinen Hals und sie beschreibt mir, wie der Kehlkopf aufgebaut ist, damit ich verstehe, was darin passiert, wenn ich zwischen Brust- und Kopfstimme in Intervallsprüngen wechsle. Ich taste ein bisschen und merke: „Das macht Stress, da will mein Körper nicht angefasst werden.“ Also lasse ich das und höre einfach nur zu.

Trauma sitzt im Körper, natürlich. An diversen Körperstellen sind Gewalterfahrungen gespeichert und es wundert mich nicht, dass der Halsbereich sensibel ist. Es geht nicht nur darum, dass „Erstickungserinnerungen“ angetriggert werden können, sondern auch ein Riesenpaket an Emotionen dort (und anderswo) „beheimatet“ ist.

Trauer, Tränen, Schmerz, Verlust.

Angst, Panik, Fluchtimpulse, Erstarrung.

Unterdrückung, Zwang, Druck, Beengung.

Ekel, Abwehr, Wut, Aggression.

Schweigen müssen. Nicht „darüber“ reden dürfen. Leise sein müssen. Runterschlucken. Nicht da sein dürfen. Ertappt werden. Zu viel sein. Nicht gehört werden (dürfen). Sich verstecken. „Falsch“ und „dumm“ sein. Albern, blöd, kindisch, jammerig, nervig, überflüssig sein. (Kein*e) Verräter*in sein (dürfen). Keinen Raum einnehmen dürfen. Keinen Platz haben. Weg müssen.

Ein Riesenpaket an alten und neuen Gefühlen, Gedanken, Überzeugungen, „Verinnerlichungen“, täterassoziierten Haltungen, u.a., das wir mit uns herumtragen, in und mit diesem Körper.

Und dann steht er -der Körper- im Musikschulraum und „macht auf“, weil sonst nämlich keine Töne rauskommen können. Er macht sich Luft und Platz und bestimmt selbst, was und wie viel nach außen darf. Er lernt, zwischen leisen und rufenden Tönen hin und her zu pendeln, in einen Fluss zu kommen, Muskeln gezielt anzusteuern und Spannung an anderen Stellen bewusst zu reduzieren. Er tut mehr, als „nur“ zu singen. Für uns ist das Ganze ein absolut emanzipatorischer Prozess.

Meine Hände liegen weiter seitlich an meinen Kiefergelenken und mir kommen die Tränen. Diese Geste, mein Gesicht so zu berühren, hat etwas liebevoll Tröstliches. Und gleichzeitig etwas Beschützendes. Der Kieferbereich hält so viel (aus), musste so oft die Zähne zusammenbeißen, sich zusammenpressen oder wurde gewaltvoll geöffnet- und jetzt halte ich ihn, um mehr Wahrnehmung dafür zu bekommen, wie ich ihn lockern kann. Ein „A“ zu singen geht auch mit verkrampftem Kiefer- aber ich höre inzwischen den Unterschied. Wenn ich es mir erlaube und mein Kiefer damit einverstanden ist, meinen Mund weiter zu öffnen, dann kommt da ein ziemlich anderes, weitaus klangvolleres „A“ heraus. Und ich mag das! Ich mag diese Stimme dann, die mir immer vertrauter wird. Aber ich zwinge weder mich, noch meinen Körper. Es geht um Schutz und das Austarieren von Grenzen, die je nach Tagesform und Gesamtsituation mal enger und mal weiter gefasst sind.

Nach dem Gesangsunterricht weinen wir manchmal. Erleichtert, berührt, bewegt, beeindruckt von mir-uns und dem, worauf wir uns da jede Woche einlassen. Der Körper braucht Pause zwischendurch. Den Mund schließen, nicht sprechen; das, was innen ist, geschützt und „unsichtbar“ im Innen behalten, ohne daran zu ersticken. Manchmal ist es gut, wenn nichts raus und nichts rein kommt. Sofern wir das selbst (autonom) entscheiden. Die Balance zwischen Öffnung und Schließung unserer verschiedenen „Kanäle“ ist ganz wesentlich wichtig für unsere Stabilität und unser Wohlbefinden im Leben.

Unsere Gesangslehrerin gibt die letzten zu singenden Töne für diese Stunde an. Meine Finger helfen dem Unterkiefer mit leichtem, ermutigendem Streichen nach unten dabei, dass der Mund noch ein Stückchen weiter geöffnet werden kann. „Fast wie Geburtshilfe,“ murmelt jemand innen.

Ich denke an einen bestimmten Täter, als ein ziemlich großes „A“ aus mir herauskommt. „So klingt das, wenn ich die Klappe halte, du Wichser!“, schmunzle ich innerlich.

Trauma-Daten und die Zeit davor und danach

Die Zeit davor und danach ist manchmal die, in der es am heftigsten brennt und am wenigsten davon außen bemerkt wird.

Sich bewusst zu sein, dass wieder Tage anstehen, die traumatisch belegt sind, ist wichtig, um sich gut schützen und versorgen zu können. Darüber hinweg zu gehen ist keine sinnvolle Option. Damit zu rechnen, dass es auf jeden Fall schlimm werden wird, auch nicht. In Stein gemeißelt ist nichts.

Manchmal fühlt es sich schrecklich an, weil es schrecklich ist. Manchmal fühlt es sich aber auch schrecklich an, wenn man wahrnimmt, dass es nicht mehr (so) schrecklich ist, wie es mal war. Dann ist jeder Sonnenstrahl, jede Herzberührung, jede Erleichterung oder Lebenslust zu viel, zu groß, zu unangemessen, angesichts der „Umstände“. Wie ein inneres Verbot, etwas loszulassen, wirkt ein inneres „Du darfst nicht fühlen, dass es vorbei ist!“- und es schwappt vielleicht noch ein „….weil es (für Andere) eben gar nicht vorbei ist!“ hinein.

Integration von traumatischen Erfahrungen in die jetzige Lebensrealität bedeutet nicht, dass man einen Haken hinter etwas machen können muss, ohne noch irgendetwas Belastendes dabei zu fühlen. Für uns bedeutet es, innere Klarheit über bestimmte Biographieaspekte und einen Zugang zu den dazugehörigen Emotionen zu finden und damit weiterleben zu können. Sich weniger abzuschalten, mehr im Innen wahrzunehmen und anzuerkennen, was, wo, wie betrauert, bewütet, bedacht, besprochen (…) werden möchte.

Die Anstrengung, die darin liegt, sich besonders in krisengefährdeten Zeiten „gut zu versorgen“, braucht Würdigung. Wenn jemand aus einem organisierten Gewaltzusammenhang kommt und sich daraus befreien möchte, sich schützen und in Sicherheit bringen möchte, kann es manchmal (aufgrund fehlender Schutzeinrichtungen) nötig sein, sich vorübergehend in eine geschlossene Psychiatriestation zu begeben. Im Idealfall (nun ja….) trifft man dort auf hilfreiche Menschen mit Fachexpertise und Herz und wird durch die „heißeste Phase“ begleitet. Aber/Und was ist mit dem „Danach“? Zurück zu Hause- und dann?

Nicht das zu befolgen, was einem gewaltvoll eingetrichtert wurde und sich entgegen aller „Täter*innen-Anweisungen“ fernzuhalten aus diesen Gewaltkontakten bedeutet innere Reaktionen und Automatismen. Es bedeutet Stress, der verschiedene Gesichter und verschiedene Kompensationsversuche haben kann: Schlafstörungen, Essstörungen, Panik, Selbstverletzungen, Schmerzen und andere Körpersymptome, Flashbacks, diverse Dissoziationsphänomene, u.a. Unserer Erfahrung nach hat dieser Stress häufig seine Hochphase vor und/oder nach besagten „Trauma-Daten“, weniger währenddessen. Wir kennen es, dass wir in der Zeit nach dem äußeren Ausstieg solche Daten einfach „durchfunktioniert“ haben. Anschließend wurde der Stress erst spür- und sichtbar, inklusive hohem inneren Druck, der aufkam, weil wir uns nicht „täter*innenkonform“ verhalten hatten.

Wir vermuten, dass das viele Betroffene so oder so ähnlich kennen. Vor allem die, die außen keiner Gewalt mehr durch die Gruppierung ausgesetzt sind und nicht mehr von einer akuten Lebensgefahr in die nächste fallen; die, die sich vielleicht auch schon länger mit „innerem Ausstieg“ befassen. Jene erleben es vielleicht ähnlich wie wir, dass eben die Trauma-Daten selbst nicht mehr das höchste Risiko für „Zusammenbrüche“ o.a. mit sich bringen, weil recht zuverlässig eine „Verhaltensänderung“ im Sinne des Selbstschutzes etabliert werden konnte, sondern die Vorlauf- und Nachlaufzeit.

Davor und danach kann es Stress machen, von sich zu erwarten, dass man keinen Stress hat. Dass man „jetzt endlich mal“ klarkommen müsste. Dass es „jetzt mal gut sein müsste“. Weil „es“ ja schon so lange „vorbei“ ist. Manchmal ist es sooo wichtig, sich die Tränen, den Schmerz, die Erinnerungen zu gestatten (!) und dem Raum zu geben, statt sich daran festzubeißen, die „schönen Seiten des Lebens“-verdammt noch mal!- genießen können zu müssen.

„Es hilft niemandem, wenn Ihr heute weiter leidet und Euch Vorwürfe macht!“- das hat mal jemand in wohlwollender Absicht zu uns gesagt, um uns davon abzuhalten, noch mal eine selbstzerstörerische Runde im Schuldkreislauf zu drehen. Uns hat diese Aussage verletzt und wütend gemacht. Für uns war und ist es schrecklich, uns hilflos zu fühlen. Es ist furchtbar, zu wissen, dass die Gruppierung weiter aktiv Gewalt ausübt und niemand sie davon abhält, auch wir nicht. Weil wir keine Möglichkeiten dazu haben. Diese grauenhafte Ohnmacht ist kaum auszuhalten und wird auch in der Zeit vor anstehenden „Trauma-Daten“ noch mal intensiv angetriggert. Wir wissen, dass es niemandem im Außen „hilft“ (im Sinne von „verhindert Schlimmes“), wenn es uns schlecht geht. Wir wissen, dass unsere Schuldgefühle keinerlei positiven Einfluss auf äußere Gegebenheiten haben. Aber es ist etwas, was wir „tun“ können. Wir halten so auch Erinnerungen an jene Opfer in unserer Gruppierung aufrecht, die gestorben sind. Uns ist es bisher noch nicht möglich, uns ohne Schuldgefühle an diese anderen Betroffenen zu erinnern und im Angedenken einfach ein Blümchen niederzulegen. Und wir erwarten das auch nicht von uns.

Sich zu erinnern muss nicht immer vermieden werden. Es gibt öffentliche Gedenk- und Jahrestage, an denen politisch und gesellschaftlich Aufmerksamkeit auf traumatische geschichtliche Geschehnisse gerichtet wird. Es wird zu Recht gewollt und gefordert, die Hintergründe nicht zu vergessen. Da findet (im besten Fall) Würdigung und Anerkennung statt und es darf sich schlimm anfühlen und zwischendurch auch leicht und alles zusammen.

Unterstützung von Menschen, die sich an Trauma erinnern und/oder in traumatisch belasteten Tagen/Zeiten befinden, kann nicht an der Stelle aufhören, wo das reine Überleben gesichert ist. Das ist wie „satt, sauber, trocken“- und das reicht eben nicht.

Ein Bewusstsein dafür zu haben, dass Trauma immer auch ein „Davor“ und ein „Danach“ hat, das individuelle Begleitung brauchen kann, finden wir total wichtig.

In diesem Sinne wünschen wir allen Betroffenen: Kommt gut gehalten durch die Zeit(en)!

Bewegung auf dem Trampolin = Bewegung im Innen

Unser Trampolin ist für uns nicht in erster Linie ein Fitnessgerät.

Es ist ein Ort, wo Lockerung, Entspannung, Leichtigkeit und Freude stattfinden kann.

Hier darf schmerzfreie, spontane Bewegung sein, mit Musik und manchmal auch singend.

Hüpfen und schwingen geht auch, ohne dass die Füße die Matte ganz verlassen müssen: „Bouncing“, ohne Abzuheben. Immer noch ein Stück Restsicherheit.

Oder, wer mag, darf auch in die Luft hüpfen, kurz schwerelos, mit einer sanften, gefederten Landung – besonders für Kinder, die gerne Seilspringen würden, aber nicht dürfen, weil das körperlich nicht geht, ist das prima.

Locker vor sich hinjoggen, vielleicht sogar mit Gewichten an den Unterarmen- auch das geht für uns dank des Trampolins. Anschließend sind wir durchgewärmt und haben eine gute Körperwahrnehmung. Das Gefühl in den Armen, wenn wir die Gewichtsmanschetten abnehmen, ist leicht und frei.

Leichtes wippen und gleichzeitig jonglieren? Eine Herausforderung, im Hier und Jetzt zu sein. Währenddessen zu dissoziieren ist für uns nicht möglich.

Schwingen, hüpfen, bouncen, wippen- und gleichzeitig singen? Eine wunderbare Methode, unseren Vokaltrakt zu entspannen und die Kontrolle abzugeben, loszulassen, lockerzulassen. Wenn alles leicht geschüttelt wird, nicht mehr so doll festgehalten wird, entspannt sich auch die Stimme.

Frei und unbeschwert sein, vielleicht sogar ausgelassen: Das wurde uns nicht in die Wiege gelegt, sondern gewaltvoll unterbunden.

Wir üben und lernen es, körperlich und psychisch.

Auch auf unserem Trampolin.