über Gewalt(folgen) berichten
Über sexualisierte, organisierte (rituelle/ritualisierte) Gewalt zu berichten, ist wichtig. Es geht immer wieder besonders um Aufklärung und Enttabuisierung; darum, aufzuzeigen, dass Gewalt keine Randerscheinung in einer Parallelwelt ist, sondern Teil des gesellschaftlichen Lebens, in dem wir uns alle befinden. Täter*innen und Opfer sind Kolleg*innen, Freund*innen, Nachbar*innen, Familienmitglieder, Personen in machtvollen Positionen, u.a. Verschiedene Gewaltformen sind alltäglich: Kinder, Jugendliche und Erwachsene werden misshandelt, ausgebeutet, emotional vernachlässigt, gefoltert, verkauft, u.a. Politik, Justiz und Gesellschaft tragen aus verschiedenen Gründen dazu bei, dass all das immer wieder und immer weiter passieren kann und die Opfer viel zu häufig alleingelassen werden- und haben auch die Möglichkeiten, Veränderungen zu erwirken.
Das sind die grundlegenden Fakten, die inzwischen unserer Einschätzung nach gar nicht mal so unbekannt sind. Vor zwanzig, dreißig Jahren bestand „Aufklärung“ noch darin, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, was sog. „sexueller Missbrauch“ ist und wie häufig er im sozialen, familiären Nahbereich stattfindet. Inzwischen dürfte das vielen Menschen klargeworden sein. Dennoch gibt es natürlich weiterhin den (menschlichen) Impuls, an einer Bullerbü-Vorstellung festzuhalten und das Thema „Gewalt“ aus dem eigenen Weltbild auszulagern, genauso wie Krieg, Flucht, Armut, Klimawandel und andere Katastrophen, die bitte woanders stattfinden sollen, nur nicht vor der eigenen Haustür.
Berichte über strukturelle Gewalt, zum Beispiel in organisierten, rituellen/ritualisierten Kontexten, beinhalten meistens auch Statements von Betroffenen oder sind als Portraits über sie aufgebaut. Häufig wird zwischen „Fachperson“ und „Betroffene*r“ sehr unterschieden: Die „Opfer“ erzählen Teile ihrer Geschichte, ihres „Leidens-“ oder auch „Heilungsweges“ und die „Profis“ bringen die wissenschaftlichen, psychologischen, sachlichen oder wie auch immer gearteten „Fakten“ und Analysen. Für den „emotionalen Zugang“ zum Thema sorgen die Erfahrungsberichte, für die Sortierung und „Aufklärung“ die „Fachleute“.
Wir finden es gut, wenn es Raum für Erfahrungen, Gedanken, Sichtweisen und Forderungen von Betroffenen gibt und sie sich selbst vertreten können. Wir wünschen uns, dass Betroffene in medialen Darstellungen, auf Kongressen und Tagungen, in Diskussionen oder Fortbildungen nicht nur „geduldet“ oder freundlich lächelnd „akzeptiert“ werden, sondern gleichwertig, auf Augenhöhe mit ihrer Expertise anerkannt werden. Viele Gewaltbetroffene bringen neben ihrer Erfahrungsexpertise auch Fachwissen mit und gestalten Vorträge, Workshops, Kunstaktionen, Seminare u.a. sehr professionell, wenn Veranstalter*innen sie „buchen“. Die Unterscheidung zwischen „Betroffene*r“ und „Fachmensch“ ist oft unstimmig und gar nicht nötig- und hält das Weltbild von „weit entfernter Täter*innen- und Opferschaft“ aufrecht, statt es zu verändern.
„Aufklärung“ und „Enttabuisierung“ im Bereich sexualisierter, organisierter (ritueller/ritualisierter) Gewalt kreist immer noch viel zu oft um die Grundsatzfrage der Glaubhaftigkeit von Betroffenenschilderungen (und/oder um die Anzweiflung oder Anerkennung der Kompetenz mancher Fachleute oder Fachrichtungen):
Ist das, was die gezeigte Person sagt, nachvollziehbar, vorstellbar, plausibel- wirkt sie ausreichend emotional berührt oder viel zu „cool“, für das, was sie „behauptet“, erlebt zu haben? Kommt sie „sympathisch“ rüber? Erscheinen ihre Gesten, ihr Stimmklang, ihr Ausdruck, ihre Haltung authentisch, übertrieben, irritierend, ambivalent, o.a.? Ist sie „zu viel“ Opfer oder „zu wenig“? Wie äußern sich Fachpersonen dazu, die ggf. einen „Autoritätsfaktor“ innehaben und per se schon als „fundiert“ wahrgenommen werden, weil sie Mediziner*innen, Jurist*innen, Politiker*innen, männlich, weiß oder sonst wie etabliert sind?
In Berichterstattungen wirkt so viel zusammen: Bildsprache, Kameraeinstellungen und Schnitt, Äußerungen anderer Interviewpartner*innen, Kommentare, Titel, Format, Zusammenstellung verschiedener inhaltlicher Aspekte, Veröffentlichungswege, Werbung, usw. Es wird Haltung transportiert, auch dann, wenn sich die Medienschaffenden um Neutralität bemühen, und zwar indem sie ihr Format so gestalten, wie sie es eben gestalten.
Wir wünschen uns, dass Berichterstattung nicht nur im Sinne neuer, tiefergehender Erkenntnisse „investigativ“ arbeitet, sondern auch auf Anregungen, Ideen, Veränderungen und Lösungsorientierung bezogen aufdeckend aktiv ist. Was kommt nach und neben der „Glaubhaftigkeitsdiskussion“? Wie geht es weiter, wenn man ausreichend fundiert dargestellt hat, dass es sexualisierte, organisierte (rituelle/ritualisierte) Gewalt gibt, welches Ausmaß bisher bekannt und belegt ist und welche Folgen diese Traumatisierungen für die Betroffenen bedeuten können?
Wir wünschen uns Raum und Aufmerksamkeit für „gute Nachrichten“. Es gibt Hilfsangebote, z.B. das Hilfetelefon, Beratungsstellen und andere Institutionen, Ausstiegsberatung und engagierte Personen im „Hilfesystem“, es gibt politische Bewegungen (siehe z.B. UBSKM, Betroffenenrat, Aufarbeitungskommission, Nationaler Rat, u.a.), verschiedene Akteur*innen in der Betroffenenselbstvertretung, u.a. Komplextraumatisierung durch Gewalterfahrungen bedeutet nicht zwangsläufig lebenslanges Leid oder totale innere Zerstörung, es gibt Behandlungs-, Begleitungs-, Unterstützungsmöglichkeiten, und viele Betroffene finden einen Umgang mit den Folgen der Gewalt.
Dass der Zugang zu den ohnehin zu wenigen Hilfsangeboten viel zu schwer gemacht wird, ist dramatisch und muss Teil der Berichterstattung sein- dass viele Überlebende trotzdem weitergehen, weitermachen, weiterprobieren und bemerkenswerte Wege für sich finden, ist jedoch genauso berichtenswert. „Enttabuisierung“ beinhaltet auch die Benennung alltäglicher Hürden, Herausforderungen und Hilfen erwachsener Überlebender: Wie lebt man mit den Folgen der Gewalt (möglichst gut) weiter und was wird dazu innerlich und äußerlich gebraucht und entwickelt?- Wir finden, das ist eine sehr spannende Frage, die auf verschiedene Arten beleuchtet und beantwortet werden kann.
Strukturelle Dissoziation findet innerhalb eines Individuums und innerhalb einer Gesellschaft statt. Menschen nutzen diesen Automatismus (diese Strategie) für sich selbst und miteinander, um sich an (vermeintlich oder tatsächlich) unlösbare, unbeeinflussbare Gegebenheiten anzupassen. Was sich als zu viel, zu schlimm, zu groß, zu schwer, zu kompliziert anfühlt, wird innerlich und auch äußerlich „weggeschoben“. Es wird getrennt zwischen gesund und krank, gestört und normal, gut und schlecht, etc. Es gibt die eigene, mehr oder weniger vielfältige „Bubble“, die eigene Wohlfühlzone, den eigenen Horizont, die eigenen Belastungsgrenzen. Daneben, davor, dazwischen, danach kommt „Fremdes“, was sich integrieren, inkludieren oder im Zweifelsfall auch eliminieren lässt.
Soll das alles so sein und bleiben?! Wie eng gefasst man sein Leben gestalten kann oder möchte, wie leicht es einem fällt, über den Tellerrand zu schauen, sich auf Neues einzulassen, sich weiterzubewegen, hängt von vielen verschiedenen Faktoren ab. Manchmal ist es Angst, die den Radius sehr klein sein und bleiben lässt. Manchmal ist es auch Bequemlichkeit, Ignoranz, Arroganz, Machtstreben, o.a.
Den Blick zu öffnen; darauf zu schauen, welche Entwicklungen und Ergänzungen es gibt, die man noch gar nicht wahrgenommen hat, erfordert neben Mut und Neugier auch die Bereitschaft, das eigene Ego auch mal zur Seite zu stellen. Mediale Berichterstattung über Gewalt kann sehr verschiedene Motivationen haben. Aufklärung und Enttabuisierung sind ehrenwerte Absichten, sich für eine „gute Sache“ einzusetzen fühlt sich wunderbar sinnhaft an. Sich als Sprachrohr für eine marginalisierte Gruppe anzusehen, empfinden wir als schwierige, eher schädliche Position. Wir lehnen sie für uns in der Öffentlichkeitsarbeit klar ab. Wir können und wollen nicht „für andere Betroffene sprechen“, sondern unsere Erfahrungen und Erkenntnisse teilen, die wir z.B. durch Peerkontakte, Vernetzung und eigene, persönliche Innenarbeit gewonnen haben.
Wem dient das, was ich tue, kurz-, mittel- und langfristig? Was ist meine Antriebsfeder? Wie variabel bin ich mit meiner Komfortzone? Um wen oder was geht es mir fachlich – und persönlich?
Das sind Fragen, von denen wir uns wünschen, dass sie sich Medienschaffende auch immer wieder ehrlich selbst stellen.