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Leid(en) zulassen

Ich glaube, der Moment, in dem man das Leid(en) zulässt, statt es verhindern, verstecken oder vermeiden zu wollen, ist bahnbrechend.

Immer wieder höre, lese, erfahre ich den äußeren und inneren Fokus auf „Genesung“ (unterschiedlich definiert): Traumafolgen mögen idealerweise aufgelöst (oder abgemildert) werden, der Mensch möge die erlebte Gewalt als Teil seiner Biographie anerkannt und integriert (verabschiedet?) haben. Überleben, weiterleben, trotzdem und mit allem leben. Hauptsache, es tut nicht mehr (so) weh.

Wir wissen und beschäftigen uns schon seit fast 25 Jahren von/mit unserem Vielesein und den zugrundeliegenden Traumata. Was uns immer wieder bei beruflich und privat Unterstützenden / Begleitenden und auch bei uns selbst begegnet (ist), ist die Scheu vor dem Leid. Die Angst vor dem „Unaushaltbaren“ oder vor heftigen Gefühlen.

Manchmal wirkt(e) es so, als würde die Abwesenheit von Schmerz, Trauer, Wut, Rachegelüsten, Entsetzen, Ekel, körperlichen Beschwerden usw. als Zeichen des Fortschritts, einer Heilung oder einer besonderen Stärke angesehen werden.

„Es hat mir damals nichts ausgemacht“ klingt vielleicht typisch dissoziativ und ungesund (denn die Gewalt/der Kontext war doch schlimm!). „Es macht mir heute nichts mehr aus“ soll hingegen quasi ein Schlachtruf der/des konstruktiven, wehrhaften und starken Überlebenden sein?? Daran stimmt etwas nicht!

Damit das Leiden nachlässt, muss es erst mal gespürt werden dürfen und seinen Ausdruck finden. Zurückgehaltenes, unterdrücktes, bekämpftes Leid macht nicht gesünder, sondern schwächt, zermürbt, zerfrisst.

Gewalt trifft und schädigt den Körper und die Psyche. Um sie ggf. jahrelang überleben zu können, dissoziiert der Mensch. Je länger, desto automatischer und tiefgreifender. Die Gewalt wird letztlich nicht ausgehalten, sondern vielmehr vom Bewusstsein weg-gehalten. Die Belastungen (zum Beispiel in Form von körperlichem und seelischem Schmerz, Verletzungen, Wunden, Isolation, Hilflosigkeit und Ohnmacht) sind vorhanden, finden aber als bewusst er- und gelebtes Leid keinen Raum. Es geht in erster Linie um „Anpassung an die Umstände“, um Kompensation, Unauffälligkeit.

Erwachsen zu werden in einem gewaltvollen Umfeld bedeutet, an verschiedenen inneren und äußeren Stellen verhärten zu müssen und Schutzschichten zu entwickeln. Die (emotionalen) Wunden werden quasi zugespachtelt, das brüchige Fundament und die „Identitätssäulen“ (notdürftig) fixiert. Irgendwie muss, soll, will und kann der Mensch „halten“.

Jene Orte am/im „Ich“, auf die die Gewalt getroffen ist, bleiben aber auch im Erwachsenenalter noch besonders sensible Bruchstellen. Ich denke nicht, dass es wertschätzend ist, Tapferkeitsorden zu verteilen, wenn sie vorbildlich unsichtbar oder unkompliziert sind.

Ein Trauma hinterlässt Eindrücke, und zwar auf überwältigende und massive Weise. Es ist logisch, dass an dieser Stelle ein Leid ensteht und bleibt (auch wenn man es nicht sieht). Wo soll es denn sonst hin? Und es ist unlogisch zu glauben, es würde sich über die Jahre von selbst in Luft auflösen („Zeit heilt alle Wunden“). Noch unlogischer ist es, davon auszugehen, dass vielzählige Traumata den Menschen besonders widerstandsfähig werden lassen- nach dem Motto: „Je öfter, desto dissoziativer, desto abgehärteter.“ (oder auch: “Die Gewalt hat mich stark gemacht.“)

Am Leben geblieben zu sein, ist kein Beweis für lebendig sein!

„Es“ darf weh tun. Es darf sein, dass du dich nicht mehr wieder einkriegst. Du darfst etwas „nicht können“. Du musst nicht mithalten, gleichziehen oder „immer besser werden“. Du darfst untröstlich sein. Dein Körper darf „schwächeln“ und zeigen, wo und wie die Gewalt ihm begegnet ist. Das Leid ist und war real und existent und bedeutsam!

Wenn dich jemand zu beruhigen, zu trösten, zu ermutigen versucht und du merkst, dass es dich nicht berührt, dir nicht hilft, dir unangenehm oder lästig ist, dann darfst du dich abwenden. Du hast das Recht, dich nicht unterstützen zu lassen und nicht die Pflicht, „dankbar für alles zu sein“. Du hast das Recht, deine Meinung und Haltung immer wieder zu verändern, Dich zu verändern.

Die Definition von „Heilung“ oder „Genesung“ gehört allein dir. Was andere Menschen unter einer „Verarbeitung“ verstehen, oder wie für sie eine „Überwindung des Erlebten“ aussieht, ist kein Maßstab, nach dem du dich richten musst.

Das Leben nach langjähriger Gewalt und mit deren Folgen ist nicht einfach in ein „Davor“ und „Danach“ einsortierbar. Ich glaube nicht, dass wir irgendwann „fertig“ sind und ich erlebe unseren Weg nicht als „geradeaus“. Unser Damals und unser Heute begegnen sich in/an Schlenkern, Umwegen, Kreuzungen, Haltepunkten.

Ich erwarte nicht, dass unsere gewaltgeprägten Lebensjahre irgendwann „keine Rolle mehr spielen“. Ich hoffe, wir erhalten uns unsere Berührbarkeit und Verletzlichkeit, unsere Tränen inklusive Rotz, unseren Zorn und unsere ureigene „Hässlichkeit“- denn all das hat gute Gründe, Berechtigung und Geschichte!

Wir haben den Kontakt mit diesen Bruchstellen über viele Jahre wachsen lassen und sie gehören genauso zu uns, wie unser Durchhaltevermögen, unsere Lebensverbundenheit, unser „Ganzgebliebenes“. Ohne die Bereitschaft, Leid wahrzunehmen und es zuzulassen, dass uns immer wieder „das Herz bricht“, wären wir zwar weiterhin am Leben, aber eben nicht lebendig.

16 Kommentare

  1. Auch von uns ein Danke von Herzen.
    Auch wir dachten/glaubten früher immer, „wir haben das gut weg gesteckt und scheiß auf alle, die uns weh tun (wollen) – uns kriegt man nicht klein!!!“
    aber es ist *so* nicht ganz wahr.
    Seit wir von unserem Wir wissen (es tatsächlich als Solches begriffen haben und aufhören durften zu glauben, *ich* sei halt bissi banane und reden mit mir selbst,
    und seit wir uns also unserem Sosein nähern und unserem Fühlen, ändert sich vieles.
    Die Fassaden fallen und das Echte (Starke und Schwache; Liebevolle und Wutverzerrte, Heile und Vernarbte, …) kommt immer deutlicher hervor.
    Wir neigen dazu, dies auch per Tattoo auf unseren Körper und ins Sichtbare zu bringen.
    Und wir merken, wie gut es tut, sich selbst und anderen Menschen vertrauen zu lernen; sich zu zeigen wagen – in kleinen Häppchen oder Facetten – und ein Willkommen zu fühlen.
    Mut zu finden, wir selbst zu sein – in allem, das wir sind. Zumindest tatsten wir uns heran.
    Und ja, natürlich, da gehört auch all das Dunkle dazu.
    Es fällt uns leicht(er), dieses Dunkel anzusehen, da für uns Polarität nicht zu bezweifeln ist und durch das Fühlen vom Dunkel auch das Fühlen von Hellem in unser Leben zurück kehrt.
    Wir sind sehr dankbar, überhaupt wieder fühlen können zu können.

  2. Unsere Therapeutin sagt immer wieder: „und wenn diejenigen, die all das ‚mal eben so‘ erzählen, irgendwann vielleicht das Gefühl dahinter wahrnehmen können… dann ist das schon ein Schritt in eine gute Richtung.“ – Weil: „macht mir nix aus, macht nix mit mir, ist halt passiert“, das ist alles „schon“ da. Geheilt „wirken“ können wir gut. „Geheilt sein“? Äh……

    Man tastet sich langsam ran… 🖤

  3. „„Es macht mir heute nichts mehr aus“ soll hingegen quasi ein Schlachtruf der/des konstruktiven, wehrhaften und starken Überlebenden sein?? Daran stimmt etwas nicht!“

    Bei dem Absatz hat es in unserem Kopf Klick gemacht. Das ist schon länger unser Weg – einige hier im System sind der Meinung, dass es richtig ist, traurig zu sein, wenn traurige Dinge passiert sind, und wir anderen können das inzwischen mehr annehmen und wertvoll finden. Aber es war immer irgendwie *unsere* Haltung, und es schien so, als würde von außen erwartet, dass man „darüber hinweg“ ist. Dass das das Ziel sei. (Und wir machen halt egoistischerweise lieber das, was uns gut tut, als das, was „man machen soll“.)

    Aber es stimmt echt – vor sieben Jahren waren wir noch „viel robuster“ und „triggerfest“ – weil wir kaum Gefühle zugelassen haben. Das ist ja das, wovon wir uns weg bewegen wollen. Dann ist es ja völlig unsinnig, das als Ziel aufzustellen oder zu sagen, dass jeder Mensch so sein muss.

    Hier fühlen sich gerade einige echt bestätigt. Danke euch!!

    1. Oh, wie gut, dass Ihr diese Bestätigung und Bestärkung fühlt! Danke für’s Mitteilen! Und wie wichtig, dass Ihr lieber das macht, was Euch gut tut, als das, was “man machen soll“!

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