Viele Gewaltüberlebende kennen die Angst, sich selbst und den Kontakt zum Hier und Jetzt zu verlieren, wenn sie erst mal in Kontakt mit Emotionen kommen. Und in der Tat ist es ein Risiko, das mitschwingt, sobald man sich tiefergehend mit dem inneren Erleben beschäftigt. Nähert man sich alten, traumatischen Minenfeldern, oder arbeitet man an der Auflösung dissoziativer Barrieren, ist das eine Gratwanderung: Es kann ein heilsames Loslassen in Gang kommen, man kann sich handlungsfähig erleben und feststellen, dass man aktiv etwas am/im eigenen Fühlen, Denken und Handeln „tun“ kann. Man kann aber auch in ein Trauma-(Wieder-)Erleben rutschen, sich vollkommen überflutet und ohnmächtig fühlen oder auch „alleingelassen von der ganzen Welt“.
Die Grenze zwischen diesen beiden Wahrnehmungsbereichen ist oftmals hauchdünn- und der Übergang zwischen „okay, Tränen steigen auf, damit komme ich klar“ und „ich bin so verzweifelt, dass ich sterben möchte“ kann innerhalb kürzester Zeit stattfinden. Ebenso das innere „Wegpacken“ der Verzweiflung, zurück zu „War was? Mir geht’s gut!“. Die Geschwindigkeit, mit der Gefühlszustände wechseln und sich „ein-„, bzw. „ausschalten“, kann sehr hoch sein.
Verschiedene Innenpersonen oder -anteile können mit verschiedenen Emotionen eng verknüpft sein. Damit meine ich nicht die schubladenhafte Einsortierung in „Alex ist der Ängstliche, Wanja ist die Wütende, Frieda ist die Fröhliche, etc.“ (denn zumindest bei Menschen mit Dissoziativer Identitätsstruktur sind die Persönlichkeiten nicht so eindimensional zu sehen, sondern vielschichtiger).
Ich meine damit die Nähe der Innenleute zu bestimmten Gefühlszuständen: Manche können „leichter“ Wut empfinden und schwieriger Trauer, oder andersherum. Manche schaffen es besser als andere, einzelne Aspekte eines Gefühls wegzupacken, fernzuhalten, zu „entdramatisieren“:
Zum Beispiel, indem sie beim Entstehen einer sehr niedergeschlagenen Stimmung im Innern (evtl. unklar, zu wem sie gehört und weshalb sie da ist) eine Distanz einnehmen oder die körperlichen Begleitsymptome „ertragen“ oder Suizidimpulse „kompensieren“.
Wanja wäre also in dem Blickwinkel nicht „die Wütende“, sondern eher „diejenige, für die der Umgang mit Wut typisch ist“.
Personenbezogene Verknüpfungen mit Emotionen können Flexibilität und Schwingungsfähigkeit im Gesamtsystem erschweren und so immer wieder alte, vermeidende, dekompensierende Mechanismen auslösen, bzw. verhärten.
Wenn wir uns damit beschäftigen, näher in Kontakt mit Emotionen zu kommen und sie auszudrücken, mit dem Vorhaben, Belastendes loszulassen und uns im Idealfall insgesamt „erleichtert(er)“ zu fühlen, dann sind uns folgende Aspekte dabei wichtig:
– klären, um wen und was es geht:
Wer will was? Fühlt sich ein*e Einzelne*r so oder geht es um mehrere? Fühlt jemand Bestimmtes „nichts“ und sucht Kontakt zu seinen eigenen Gefühlen, oder ist dieser „Leere-Zustand“ übergreifender? Gibt es überhaupt jetzt in diesem Moment ein Bewusstsein dafür, wer wer ist, wer „ich bin“? Ist das jetzt gerade egal oder muss das genauer (wofür?) geklärt werden? Ist schon so viel Chaos innen, dass es gerade nur ums „Aushalten“ geht?
– vorher ein bisschen „üben“:
Wenn wir schon in einen Hochstresszustand kommen, sobald die Tränen beim Anschauen eines berührenden Films laufen, dann scheint uns möglicherweise das Weinen bereits zu triggern. Wie können wir uns dem vorsichtiger nähern? In welchem Kontext fühlen sich Tränen ungefährlich und „normal“ an? Wo geht „ein bisschen traurig oder bewegt sein“, inklusive eines selbstfürsorglichen, sich selbst tröstenden Umgangs? Wer im Innen reagiert wie auf weinen? Ist es für alle erlaubt? Gibt es Grund (immer noch) zu glauben, es sei verboten? Ist es in irgendeiner Form „logisch“ und schlau, sich an so ein Verbot zu halten? Wie sieht es mit anderen Gefühlen in „handelsüblichen Dosierungen“ aus? Ist Wut im Alltag händelbar? Können Aggressionen und Grenzen verbalisiert werden?
– probieren, was hilft:
„Ein bisschen traurig oder wütend, ein kleiner Schmerz“- und dann? Was tun wir im Alltag, wenn jemand von uns betrübt ist? Wer tröstet wen wie? Wie beruhigen wir uns? Was erdet wen? Wann gehen wir in Bewegung mit Wut um, wann brauchen wir eher Rückzug, liegen, schlafen, sprechen? Wann gab es mal einen etwas größeren Schmerz, einen Verlust o.a., den wir rückblickend betrachtet „gut verarbeitet“ haben und an den wir heute zurückdenken können, ohne „abzurutschen“? Wie haben wir das gemacht?
Wenn wir uns im Kleinen recht klar, handlungsfähig und selbst-sicher fühlen, trauen wir uns evtl. auch härtere Kaliber zu.
– Spannungsregulation:
Ist die Amygdala in Fahrt, kann man nicht von sich erwarten, vernünftig, durchdacht und konstruktiv handeln zu können. Dann geht es um Kampf, Flucht oder Erstarrung. Das ist kein persönliches Versagen, sondern einfach vollkommen normale „Traumagehirnfunktionalität“.
Auch die Wahrnehmung von Gefühlen kann triggern und einen bewussten Umgang damit verunmöglichen. Insofern nützt es uns, wenn es Innenleute gibt, denen es leicht fällt, eine Meta-Ebene einzunehmen und zu halten, während andere sich mit Belastendem befassen. Beobachter*innen sind wertvoll, die es schaffen, die Spannung im Blick zu behalten und frühzeitig Mechanismen zur Regulation zu initiieren: In Bewegung kommen, Atmung beruhigen, Reorientierung, frische Luft schnappen, etwas trinken, Pause machen, individuelle Skills anwenden.
– Automatismen/Konditionierungen identifizieren:
Gefühlszustände/Emotionen können bei Menschen mit mind control-Erfahrung an Programmierungen gebunden sein: „Immer wenn du dich so und so fühlst / immer wenn du bei Innenperson XY dies und jenes wahrnimmst, reagierst du *täterdefiniert*“ Hier ist also besondere Vorsicht geboten. Und auch bei Menschen ohne Erfahrungen mit Bewusstseinskontrolle können verschiedene Anteile ihres Selbst zumindest „alarmiert“ auf Emotionen reagieren. Selbstverletzung kann eine Folge sein. Deshalb ist es gut, so viel Selbstwahrnehmung wie möglich zu etablieren.
– Langsamkeit zulassen und aushalten:
Das Motto „Augen zu und durch“ bewährt sich nicht immer. „Einmal voll rein in den Schmerz, die Verzweiflung, die Angst- und dann ist es gut!“- das ist ein Trugschluss. Gefühle verändern sich- man kann sich nicht ein für alle Mal durcharbeiten. Am Beispiel der Trauer erleben wir, dass sie eher wellenförmig ist, nicht linear. Mal schwappt sie in Form eines Tränenschwalls plötzlich hoch, will durchgeweint werden bis keine Flüssigkeit mehr kommt und ist dann ruhiger und friedlicher. Mal umgreift sie uns und hält uns ein paar Tage fest, in denen wir uns einigeln wollen, nicht viel sprechen mögen, Kopfschmerzen haben und ständig frieren. Und mal kriecht sie uns (oder jemandem) in die Kehle und will in einem Schrei nach draußen.
Wenn wir verstehen, dass Langsamkeit einen heilsamen Prozess „haltbarer“ macht, gelingt es uns besser, geduldig zu sein. Wenn etwas „schon so lange weh tut“, oder „der Körper einfach nicht wieder fit wird“, oder „man schon seit Wochen oder Monaten nicht aus dem Quark kommt“, oder „ständig wütend ist“, dann ist es ganz schön schwer, sich selbst zu sagen: „Es dauert so lange, wie es eben dauert.“ Ja, es ist schwer. Punkt.
– Traumaverabeitung braucht Gefühlswahrnehmung:
Sich erinnern heißt nicht (gleichzeitig) loslassen. Wenn wir wollen, dass Traumata uns nicht mehr (so sehr) in unserem heutigen Leben behindern, belasten, blockieren, dann ist es unserer Erfahrung nach nicht unbedingt nötig, diverse Gewaltdetails hochzuholen und immer wieder durchzukauen, sondern vor allem auf die emotionalen Aspekte dabei zu schauen. Fallen diese hinten weg oder werden sie immer wieder vermieden, verhindert das ein (befreiendes) Loslassen. Wofür ist das gut/sinnvoll?
Gestatten wir uns, dass das Alleingelassenfühlen wieder hochkommt? Die Erniedrigung? Die Verzweiflung? Das Entsetzen? Der Hass? Die Sehnsucht nach Hilfe? Und wenn davon etwas wieder ins Wahrnehmbare gelangt: Schaffen wir es, dabei präsent zu bleiben, oder ist uns der gewohnte Mechanismus der Dissoziation (noch) näher? Wollen wir wirklich, dass etwas Altes, Quälendes gehen kann, oder suchen wir noch etwas darin? Haben wir die Idee, dass es eine „Heilung“ geben kann oder muss, oder erkennen wir an, dass manches „zerstört“ bleibt und sich immer wieder schlimm anfühlen wird- weil es eben damals schlimm war und nicht „verheilen“ kann (und muss)?
Erlauben wir uns Erholung, Pause, Ruhe, schwächeln? Wie viel Zeit nehmen wir uns, emotionale Prozesse zu durchlaufen, in denen vielleicht Berufstätigkeit; Alltagsfunktionalität, Kommunikationsfähigkeit, Sozialleben, u.a. schwieriger oder unmöglich werden?
– den Körper nicht vergessen:
Manchmal ist der Körper der Erste oder auch der Einzige, der eine Verbindung zu Gefühlen herstellt und sie ausdrückt. Er ist also ein wichtiger Freund und (Früh-) Anzeiger. Zum Teil finden Emotionen ihren Weg ins Sicht- und Fühlbare nur über den Körper. Dann ist es zum Beispiel der ständige Schwindel, über den sich eine weit innen versteckte Angst zeigt, die anders aber gar nicht fühlbar ist. Diese körperliche Sprache konsequent wertzuschätzen, ist eine große Herausforderung mit großen Chancen.
Frühkindliche Traumata verankern sich auf der Körperebene, sie hinterlassen da ihren (emotionalen) Fingerabdruck- und können am ehesten auch über den Körper integriert werden, nicht (ausschließlich) über die bewusste Wortsprache. Es kann also sehr heilsam sein, sich mehr mit der Wahrnehmung des Körper zu beschäftigen und immer mal wieder für ein paar Minuten (oder länger) eine Reise durch ihn hindurch zu machen: Wie fühle ich mich jetzt? Wie fühle ich mich, wenn ich mich zur Seite drehe/aufstehe/mich hinsetze, o.a.? Tut etwas weh? Gibt es einen anderen Bewegungsimpuls? Wie verändert sich meine Spannung? Will ich damit aufhören?
Als wir so etwas zum ersten Mal ausprobierten, wechselte es zwischen schamhaftem Lachen, Ermüdung, Langeweile, Unruhe und Wut („Was für ein Scheiß!“) hin und her. Es braucht vielleicht ein bisschen Übung, bis man sich wirklich auf so eine Selbstwahrnehmung einlassen kann- und bis man es im Griff hat, davon auch wirklich zu profitieren und sich nicht immer wieder in die Dissoziation zu katapultieren („Das hier ist so dämlich/peinlich/überflüssig/nichtsnutzig, da erstarre ich lieber!“ 😉 ).
– die positiven Aspekte erleben:
Sich mit dem bewusst auseinanderzusetzen, was an Schmerz und Verletzung u.a. innen ist und lange weggedrückt war, hilft dabei, traumatische Prägungen neu zu überschreiben. Es trägt auch dazu bei, positive Empfindungen zu vertiefen und „im Gedächtnis zu halten“. Nicht nur Horror und Schrecken können durch das Innensystem fluten, auch Glück, Entspannung, Geborgenheit, Faszination u.a. können Raum greifen. In jede Richtung kann das etabliert werden: Je mehr Innenpersonen an so einer inneren Auseinandersetzung teilhaben, je „gemeinsamer“ etwas Schweres getragen, betrauert, be-wütet wird, desto tiefer setzen sich die neuen, verbindenden Trampelpfade im Gehirn.