Die Kriminalkommissarin, die uns während unserer Strafanzeige im Jahr 2003 zu Beginn begleitete, war für uns eine sehr kompetente und menschlich-herzliche Hilfe. Die Vernehmungen gestaltete sie achtsam und behutsam, aber auch sehr genau. Sie führte uns während der Befragungen immer wieder in heftige Themengebiete und ermutigte uns, so zu erzählen, wie es gut für uns war. Wir durften schweigen und malen/zeichnen, durften flüstern und Schimpfworte oder eine derbe Formulierung gebrauchen. Es lag in unserer Verantwortung und unserer Entscheidung, wer von uns worüber sprach und worauf antwortete- aber wir wurden damit nicht alleine gelassen. Die Beamtin war gut informiert über Hintergründe, Symptomatik und Schwierigkeiten einer Dissoziativen Identitätsstruktur. Und sie hatte ein Bewusstsein dafür, dass Widersprüchlichkeiten, Täterloyales oder Amnesien in diesem Zusammenhang recht typisch sind und keineswegs Anzeichen einer Falschaussage sein müssen.
Wir wurden insgesamt fünf Mal von der Kommissarin vernommen und standen auch zwischendurch in einem regelmäßigen Austausch. Wir spürten, dass es ihr nicht egal war, wie es uns vor und nach den Befragungen ging. Und dass sie an mehr interessiert war, als nur an gerichtsverwertbaren Aussagen. Wir erlebten sie sehr engagiert und motiviert und wir denken heute, dass aus unserer Strafanzeige vermutlich mehr geworden wäre, wenn sie bis zum Schluss zuständig geblieben wäre. Leider musste unsere Ermittlungsakte an eine andere Staatsanwaltschaft weitergeleitet werden und ab diesem Zeitpunkt hatte die Kriminalkommissarin keine Handlungsbefugnis mehr. Das Verfahren endete gut 10 Jahre später ohne Gerichtsprozess oder Verurteilungen.
Die Polizistin hatten wir einige Jahre später telefonisch kontaktiert, um ihr eine akute Frage zu unserer äußeren Sicherheit zu stellen und wir kamen weiter ins Gespräch, wobei wir auch noch mal unsere gemeinsamen Begegnungen Revue passieren ließen. Sie bestätigte unsere Wahrnehmung, dass unser Verfahren sehr verdächtig im Sande verlief, als die Ermittlungsakte „woanders“ landete. Ich traute mich zu sagen, dass ich nicht an einen Zufall glaube, sondern Hinweise für eine Einflussnahme des Täterkreises habe.
Daraufhin schwieg die Kommissarin erst einmal. Dann antwortete sie: „Das kann sein. Vielleicht. Wahrscheinlich. Aber ich muss dazu sagen, dass ich mittlerweile nicht mehr von so einer großen Unterwanderung durch Täterkreise ausgehe, wie das manche Therapeut*innen behaupten. Ich denke nicht, dass überall, an allen wichtigen Stellen, Täter*innen sitzen und die Dinge lenken und deshalb die Strafverfahren scheitern. Das hat häufig andere Gründe.“
Nach dieser Aussage waren wir erst mal erschrocken. Das klang für uns wie eine grundlegende Änderung ihrer opferfreundlichen Haltung. Es klang nach grundsätzlicher Skepsis oder Unglauben.
Im weiteren Gespräch habe ich aber verstanden, was sie konkret meinte und dass ihre Einschätzung ganz sicher keinen grundlegenden Zweifel an der Glaubhaftigkeit von Opfern ritueller/ritualisierter Gewalt darstellt. Ich stimme der Polizistin sogar zu: Auch ich stehe Aussagen von Hilfsinstitutionen, Therapeut*innen, Journalist*innen, Betroffenen u.a. kritisch gegenüber, in denen behauptet/verbreitet wird, Täter*innen seien überall an machtvollen Stellen, würden alle wichtigen Entscheidungen lenken- und es gäbe im Grunde keine Chance dagegen. Ohne Zweifel glauben und wissen wir, dass vor allem organisierte Täter*innenkreise ihre Macht ausüben können, weil sie an bestimmten Positionen die Fäden in der Hand haben und weil niemand sie daran hindert. Aber dass Strafverfahren von Überlebenden ritueller Gewalt / organisierter Kriminalität immer (! oder ausschließlich!) deshalb scheitern, weil der Täter*innenklüngel dafür sorgt- das halte ich für eine unstimmige Verallgemeinerung und für eine Verschleierung anderer Problematiken, die z.B. eine Dissoziative Identitätsstruktur mit sich bringt.
Ich finde es unverantwortlich und übergriffig, wenn Therapeut*innen oder andere Hilfspersonen Betroffene dazu drängen oder gar unter Druck setzen, Strafanzeige zu erstatten. Und ebenso grenzwertig empfinde ich es, wenn innerhalb einer Therapie (ambulant oder stationär) der Fokus darauf gelegt wird, den/die Betroffene(n) „aussagefähig zu stabilisieren“, oder gar aufdeckend zu arbeiten, so dass das Ziel „Strafverfahren“ näher angepeilt werden kann. Eine Anzeige sollte meiner Meinung nach immer in der alleinigen Entscheidungsmacht der/des Betroffenen stehen und nicht als „erlösendes Licht am Ende des Tunnels“ von Therapeut*innen missbraucht werden, die in ihrer Hilflosigkeit und Ohnmacht nicht wissen, wie sie „das“ aushalten können. Besonders schlimm fände ich es, wenn in bestimmten Helfer*innen-Kreisen es beinahe zur Mode würde, die Erstattung einer Strafanzeige oder die OEG-Beantragung zu „erreichen“. Nach dem Motto: „Nur wer sich so wehrt, wehrt sich richtig.“ Das würde ich für sehr gefährlich halten.
Außerdem finde ich es elementar wichtig, einen realistischen Blick auf das zur Verfügung stehende Aussagematerial zu werfen. Es nützt doch nichts, wenn Helfer*innen die Betroffenen zu einem Gang zur Polizei bestärken und ermutigen, nur weil sie es nicht wagen, klar auszusprechen, dass die Erinnerungen, Daten, Fakten, Details vermutlich nicht für ein Gerichtsverfahren ausreichen werden. Das hat meiner Ansicht nach nichts mit Schonung, Solidarität oder Parteilichkeit zu tun. Jemandem zu zeigen, dass man ihr/ihm glaubt, was sie/er über die erlebte Gewalt erzählt, braucht keine Unterstreichungen und Ausrufezeichen, wenn es ehrlich und authentisch ist.
Die Strafverfolgungsbehörden benötigen nicht nur eine gewisse Aussagetüchtigkeit, sondern auch eine gewisse Aussagequalität. Selbst bei noch so großem Engagement, Zugewandtheit, Kapazitäten, Wissen und Personalstärke können Kriminalbeamte*innen eben nicht aus schwammigen Hinweisen stichfeste Beweise zaubern. In dem Zusammenhang immer wieder auf die Unfähigkeit der Polizei zu schimpfen oder eine Verschwörungstheorie noch weiter auszuschmücken, halte ich für Augenwischerei.
Wir haben mit der vernehmenden Kommissarin großes Glück gehabt. Sie hat versucht, aus unserem gelieferten Vernehmungsmaterial das Beste herauszuholen. Jene Beamten, die unsere Ermittlungsakte nach ihr übernommen haben, waren anders gestrickt, als sie. Es war ihnen egal, ob wir dissoziativ sind, oder nicht. Es war unerheblich, ob wir durch die jahrelange Warterei im Verfahren psychisch belastet (retraumatisiert) wurden, oder nicht. Hätten sie uns vernommen, hätten wir vermutlich nicht mal eine einzige Aussage gut geschafft. Rein menschlich betrachtet wäre es wünschenswert, wenn Polizeibeamte*innen sich mit den Hintergründen der Opfer näher befassen und dann ggf. auch ein Verständnis für eine Dissoziative Identitätsstruktur entwickeln würden. Es geht hierbei ja nicht um die Anzeige eines Handtaschenraubes. Aber verlangen kann man eine solche Haltung nicht automatisch. Und ich finde es unfair und falsch, der Polizei grundsätzlich jedes (!) Scheitern eines Strafverfahrens in die Schuhe zu schieben, ohne dabei auf die eigene Verantwortung (nicht Schuld!) zu schauen. Nicht immer geht es darum, dass „die Polizei nicht will“ oder dass sie „das alles nicht glaubt“, oder sogar „selbst zum Täter*innenkreis gehört“. Nicht immer!
Wenn ich heute auf den Zeitpunkt unserer Strafanzeige schaue, erkenne ich, dass er zu früh gewählt war. Wir waren motiviert durch Helfer*innen, wollten „laut werden“ und uns wehren. Dabei haben wir zu kurz gedacht. Das Aussagematerial, das wir damals liefern konnten, war zwar nicht gerade „dünn“ , würde aber heute weitaus umfangreicher ausfallen und es den Strafverfolgungsbehörden leichter machen, daran anzuknüpfen und damit zu arbeiten. Wenn sie wollten und könnten…
Einen grundsätzlichen Schutz stellt ein Strafverfahren nicht dar. „Sich wehren“ vielleicht schon. Aber so eine Abgrenzung kann viele Gesichter haben. Es muss nicht immer der große Paukenschlag sein, bei dem einem hinterher die Ohren schmerzhaft scheppern, oder der vielleicht einfach ins Leere hallt. Sich von Täter*innen zu distanzieren oder öffentlich zu signalisieren, dass man ein freier, selbstdenkender Mensch ist, kann auch ohne Strafanzeige und OEG-Antrag funktionieren. Und Betroffene müssen niemandem beweisen, dass sie es wirklich ernst meinen.
In der Aufregung, Revolution oder Emanzipation während einer Strafanzeige kann zwischen Helfer*innen und Betroffenen eine Euphorie zu fühlen sein, die verbindet. Ein Machtgefühl. Stärker als die Täter*innen sein. Endlich! Endlich kann man was tun und muss nicht mehr nur zuschauen, wie Gewalt stattfindet.
Aber was passiert danach? Wenn eine Strafanzeige ohne Verurteilung scheitert? Ein OEG-Antrag nach vielen Jahren endgültig abgelehnt wird? Die erste Euphorie längst verpufft ist und zahllose, hart erarbeitete Papierseiten eine im Keller vor sich hin schimmelnde Gerichtsakte füllen? Wo ist die Gemeinsamkeit dann? Wie geht es weiter mit dem „Sich-Wehren“? Die Helfer*innen vom Anfang verarbeiten ihre Enttäuschung vielleicht professionell in einer Supervision (wenn sie denn nach der ganzen Zeit überhaupt noch an der Seite der Betroffenen sind) und wurden möglicherweise schmerzlich desillusioniert. Überlegen sich zukünftig vielleicht lieber zwei Mal, ob sie einer/einem Betroffenen zu einer Anzeige raten, oder nicht. Spüren eventuell, wie ihnen das Wort „Verschwörung“ den Nacken hinauf kriecht und leise flüstert „Täter*innen sind doch überall!“. Ärgern sich über die Unfähigkeit oder Unwilligkeit der Polizei. Oder stumpfen ab.
Und die Betroffenen? Sie stehen da und müssen ihr eigenes Innenleben alleine zusammensammeln. Die Scherben und Fragmente, die dieser harte Kampf hinterlassen hat. Selbst wenn im Außen Menschen sie begleiten. Verarbeiten und aushalten müssen sie es alleine. Und sie müssen sich damit befassen, die Vergangenheit und die Gegenwart irgendwie auseinander zu halten. Es ist nicht wie früher, aber ähnlich: Machtlosigkeit. Lähmung. Ungerechtigkeit. Vielleicht bekommt das ganze sogar noch eine neue, perfide Dimension: Wenn von Seiten der Polizei, Justiz und psychiatrischen Gutachtern zwar „geglaubt“ wurde, was man aussagte- das Material aber nicht ausreichte, um eine Verurteilung herbeizuführen. Noch mal eine neue Form von Ohnmacht. Dass einem nicht geglaubt wird, kennt man ja irgendwie schon. Aber so?
In jedem Fall braucht es nach einem gescheiterten Strafverfahren neue Aussichten und Wege. Neue Formen von Wehrhaftigkeit und Selbst-Schutz. Und es braucht Zeit zur Verarbeitung. Es sind neue Wunden entstanden.
Ich denke, manche solcher belastenden, enttäuschenden, möglicherweise retraumatisierenden Justizverläufe lassen sich vermeiden. Indem man die Möglichkeiten und die Motivation realistisch betrachtet und bewertet, bevor man aktiv wird. Und indem man Zuständigkeiten klar benennt: Was müssen Betroffene leisten und was ist Polizeisache? Wo kann man Verständnis und Hintergrundwissen erwarten und einfordern, und wo geht es einfach nur um klare Fakten und Sachlichkeit? Wo weiß man schon im Vorfeld, dass man vor die Wand laufen wird? Und weshalb will man sich dazu entscheiden, es trotzdem zu probieren? Lohnt es sich wirklich, oder geht es hier um einen Traum… oder hat man etwas in der Hand, das…
Sehr guter und wichtiger Beitrag! Wir hatten nie das innere Beduerfnis nach einer Gerichtsverhandlung, weil uns irgendwie intuitiv klar war, dass es äussert unrealistisch ist, dass wir jemals ein Verfahren gewinnen wuerden.
Wir haben allerdings einmal die Erfahrung gemacht, dass eine Therapeutin darauf gedrängt hat. Das war extremt triggernd und wir wären fast ausgerastet. Das war keine Traumatherapeutin sondern eine Spezialistin fuer Essstörungen und wir haben auch nur von Inzest (nicht von organisierten Uebergriffen) erzählt. Wir haben ihr am Ende der Behandlung ein Feedback dazu gegeben und ihr geraten nie wieder jemanden dazu zu drängen. Wir haben ihr erklärt wie es sich fuer uns angefuehlt hat und warum wir denken, dass es nicht schlau ist jemanden zu einer Anzeige zu drängen. Sie war extrem dankbar fuer das Feedback und hat sich auch entschuldigt. Ich glaube, sie hat es sich wirklich zu Herzen genommen.
Wir denken, dass auch bei ihr der Wunsch danach, dass wir Gerechtigkeit bekommen sollen, im Vordergrund stand. Ohne jegliches Wissen darueber, wie ein Verfahren abläuft und wie unsere Chancen stehen und welche Konsequenzen es hat, wenn es scheitert…
Bin stolz und froh, dass wir ihr das so ehrlich gesagt haben und dass sie es auch so gut angenommen hat.
Danke für Eure Rückmeldung! Kann ich gut verstehen, dass Du/Ihr stolz und froh bist/seid – das war eine große, wichtige Sache, das so mitzuteilen. Für Euch selbst und dann auch für die Therapeutin, damit sie daraus lernen kann.