1987
Sie greift nach der kleinen, feuchtwarmen Hand. Sofort umschließen die winzigen Finger ihren Daumen. Es wird nichts bringen, aber sie hebt das schreiende Baby trotzdem hoch und schaukelt es in den Armen. Das Kleine brüllt weiter. Es ist der Hunger. Nach Nahrung und nach Halt. Vor allem nach Halt.
Sie starrt am zappelnden Menschenkind vorbei auf den Boden. Ölflecken. Beton. Harter Stein. Es ist immer wieder derselbe Raum, in den er sie alle sperrt. Nebenan brummt der Heizungstank. Wie lange sie bleiben werden, weiß sie nicht. Das Baby wimmert. Sie hofft, dass es einfach einschlafen wird. Sie weiß einfach nicht, was sie noch machen soll, damit es sich beruhigt.
Neben ihr bewegen sich die Füße der großen Frau. Vielleicht wird sie wach? „Mama“, sagt sie vorsichtig, „Mama, bist du da?“ Die große Frau liegt zusammengerollt wie ein Fötus zwischen Tür und Regal. Sie nimmt zu viel von dem wenigen Raum in Anspruch, den sie sich alle für unbestimmte Zeit teilen müssen. Aber es lässt sich nicht ändern. Wenn sie hier unten sind, schaltet sich das Bewusstsein der großen Frau in einen unansprechbaren Modus. Sie liegt da und ihre Augen flackern. „Mama“, versucht sie es erneut, „du musst das Baby nehmen! Ich kann das nicht!“ Die Frau zuckt kurz mit dem rechten Augenmuskel und ein Spuckefaden läuft aus ihrem Mund. Sie kann es auch nicht, das mit dem Baby.
Für ihn ist das alles kein Thema. Er hat zu tun. Was auch immer er in der Zeit macht, in der er seine Familie wegsperrt, es scheint oberste Priorität zu haben. Das kann alles sein- von Sportschau über „einfach so“ bis „Geldverdienen“. Wann er die Tür zum Gefängnis wieder öffnen wird, ist und bleibt uneinschätzbar.
Sie weiß, dass er sie alle nicht verdursten lassen wird. Manchmal kommt er zwischendurch, holt das Baby und bringt es später wieder zurück. Es wird aufgetankt, denkt sie dann. Das kleine, schreiende Kind braucht mehr Flüssigkeit als ich. Die dann eintretende Ruhe ist wie Alpenmilchschokolade für die Ohren. Sie kann diesen akustischen Trost schmecken. Die große Frau liegt weiterhin einfach nur da. Manchmal schafft sie es, sie in eine sitzende Position zu bringen. Es ist nicht gesund, immer nur so zu liegen. Der Kreislauf macht schlappt, das kennt sie schon von ihr. Dann wird es hektisch im Gefängnis. Es ist einfach nicht auszuhalten, ohne Tageslicht und Sauerstoff.
Wenn er das Baby zurückbringt, bleibt er manchmal kurz in der Tür stehen. Er schaut auf seine Familie und sie erkennt seinen Hass. Sie schweigen. Alle schweigen, auch das Baby. „Mama“, denkt sie „Mama, bitte, sag doch endlich was!“ Nichts passiert. Er geht und die schwere Tür schließt sich.
Sie weiß, dass die große Frau hilflos ist. Krank und traurig und allein. „Ich pass auf dich auf. Und auf die Kleine.“, flüstert sie, „Immer.“ Die große Frau hustet und schaut sie an. Ein Zucken bewegt ihre Mundwinkel. Das Baby macht quietschende Geräusche. Es liegt an der Wand auf dem Rücken und ist erst mal zufrieden. Es ist satt. So einfach gestrickt, dieses kleine Wesen.
1996
„Mama“, sagt sie, „steh auf!“ Die große Frau rollt den Kopf hin und her, bewegt sich aber nicht weiter. „Steh auf, Mama!“, sagt sie lauter. „Du musst jetzt aufstehen!“ Sie sieht Tränen in den Augen der großen Frau aufsteigen. In ihr entzündet sich ein Wutfeuer. Sie spannt die Muskeln an und drückt den Rücken gegen die Wand. „Hör auf zu heulen!“, ruft sie und reibt sich über die Augen. Sie ist so müde. Aber sie ist auch wütend. „Ich hab gesagt, du sollst aufstehen!“. Die große Frau dreht sich von einer Seite auf die andere und hebt die Hände über den Kopf. „Nein!“, ruft sie und lässt sich vor der großen Frau auf die Knie fallen, „Du hältst dir jetzt nicht die Ohren zu!“. Neben ihr fängt die Neunjährige an zu jammern. „Hör auf!“, herrscht sie ihre Schwester an, „Hör sofort auf!“. Das Jammern steigert sich in ein Kreischen. In der erstickten Stille des Gefängnisses türmt sich ein Lärm auf, der die Wände sprengen könnte. Sie presst sich die Hände auf die Ohren und hört nur noch gedämpftes Rauschen. „Es ist nichts, es ist nichts, es ist nichts!“ Das Mantra zieht sich durch ihren Kopf und nimmt sie mit an einen Ort außerhalb ihres Ichs, weg von ihrer Familie.
1998
Sie schaut aus dem Fenster. Aus der Küche dringt entspanntes Geplapper zwischen der großen Frau und der Schwester. Er ist auch da und macht Scherze. Es wird gelacht. Sie öffnet vorsichtig das Fenster und steigt auf die Fensterbank. „Tschüß, Mama!“, murmelt sie, als sie über die Regenrinne auf das Garagendach klettert. Sie wirft einen Blick über das Grundstück und springt dann auf die Garageneinfahrt. Langsam macht sie ein paar Schritte und erreicht die Hauswand mit dem vergitterten Kellerfenster. Sie bleibt stehen. „Ich kann sie nicht hierlassen… Ich kann das nicht. Ich muss… Aber wenn ich jetzt zurückgehe…“ Oben öffnet sich ein Fenster. Sie hört ihn. „Komm sofort wieder rein! Sofort!“ Sie muss. Die Schwester und die große Frau, was wird aus ihnen, ohne sie?
2017
In der Küche lässt er sich auf einen Stuhl fallen und gießt sich Kaffee ein. „Wo ist deine Schwester?“, fragt er sie. „Woher soll ich das wissen?“, antwortet sie, ohne ihn anzusehen „Sie ist doch schon lange weg!“. „Bring sie endlich zurück!“, presst er wütend hervor. „Sie soll sich um eure kranke Mutter kümmern! Oder soll ich das etwa machen??“. Sie starrt ihn an. Im Wohnzimmer plappert der Fernseher und die alte Frau lacht. Sie braucht nichts. Jedenfalls nichts, was ihre große Schwester und sie für sie tun könnten. Sie erhebt sich langsam und geht in den Flur. Dann greift sie nach ihrer Jacke und den Schuhen und ruft „Ich guck, ob ich sie finden kann!“. Und denkt: „Wir bringen uns beide nicht mehr zurück.“ Dann verlässt sie das Haus, in dem auch sie schon längst nicht mehr wohnt.
2018
In einem Straßencafé begegnen sich zwei erwachsene Schwestern.
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2024
Ich lese diese Geschichte wie ein altes Tagebuch. So viel Zeit, dazwischen und danach. So viel Bewegung, Entwicklung, Schmerz, Liebe und Befreiung.
Die Geschichte ist alt und aktuell zugleich, für mich-uns und andere Menschen, die in organisierten Gewaltstrukturen aufgewachsen sind und darin auch Geschwisterbeziehungen erlebt haben.
All das braucht Raum und Aufmerksamkeit, Anerkennung und Zuwendung; sowohl innerhalb der Viele-Systeme, als auch in Therapien, Begleitungen, Freundschaften, persönlichen und beruflich unterstützenden Kontakten. Geschwisterbeziehungen und -bindungen lösen sich nicht einfach auf, nur weil man evtl. den Kontakt (z.B. aus Schutzgründen) abgebrochen hat. Und das ist auch okay so!
Ob und wie und wann etwas vielleicht neu und anders entstehen kann, oder ob es aus (lebens-) wichtigen Gründen bei Distanz und Trennung bleiben muss und soll, entscheiden Betroffene selbst.
Ich wünschte, alle hätten dabei die Unterstützung, die sie sich wünschen würden.
1987
Als sie erfuhr, dass das Baby geboren worden war, war ihr Grundschullehrer der Erste, dem sie davon erzählte.
Als er sie fragte, ob sie sich freue, antwortete sie strahlend: „Ja, und wie!“, nur um wenige Sekunden später mit Tränen in den Augen hinzuzufügen: „Aber ich weiß nicht, was ich machen soll…“
Der Lehrer hakte nicht nach. Weder in diesem Moment, noch in ihrer restlichen Grundschulzeit.