Gealtertes Trauma
Sie schaut in den Spiegel.
Zwischen ihren Augen, auf der Nasenwurzel, klebt irgendetwas Rotes.
Es ist Erdbeermarmelade vom Frühstück. Das weiß sie nicht, sondern sie schmeckt es, als sie den Fleck mit einem Finger verwischt und diesen dann in den Mund steckt.
„Frau Mohn, hier ist Ihre Zahnbürste!“ Eine fremde Hand schiebt sich in ihr Gesichtsfeld. Pink lackierte Fingernägel. Sie mag so etwas nicht. Und sie möchte sich nicht die Zähne putzen. Schon mal gar nicht, wenn sie von diesen Fingernägeln abgelenkt wird. Also stellt sie sich taub und schmeckt lieber noch ein bisschen dem Rest der Erdbeermarmelade nach.
Der Spiegel reflektiert das unfreundliche Licht der Energiesparlampe. Wann war sie zum letzten Mal in der Sonne? Erinnern kann sie sich schon lange nicht mehr. Weder an den letzten Ausflug, noch an das heutige Frühstück. „Frau Mohn ist Frau Mohn ist Frau Mohn!“ Sie lächelt. Auf die Stimme in ihrem Kopf hört sie heute gerne. Aber was tut sie hier? Ihr Herz zieht sich zusammen und das Zittern beginnt. Jeden Morgen das Gleiche. In Pantoffeln, nur mit einem Morgenmantel bekleidet, wird sie aus dem Haus gejagt. Von den bewaffneten Soldaten. Raus in den Hühnerstall. Zu den anderen Mädchen und Frauen. Jeden Morgen. Kein Frühstück. Nicht mal eine Katzenwäsche. Das Zittern breitet sich vom Bauch über den Rücken bis in ihren Kopf aus. Wo ist sie?
„Nun kommen Sie schon, Frau Mohn! Sie müssen doch die Zähne putzen!“ Die Pinklackierte tippt ihr auf die Schulter. Es bleiben noch 5 Minuten für die Morgenhygiene, inklusive Toilettengang, und es sind noch nicht mal die Zähne geputzt. „Hier, jetzt machen Sie mal die Zahnpasta drauf und dann schön den Mund öffnen…“ Geduld muss man eben haben. Aber die Zeit fehlt!
Sie drückt die Lippen fest zusammen und verkrampft die Hände zu Fäusten. Sie will nicht. Sie weiß nicht, was das soll. Sie starrt auf das Bild dieser Frau im Spiegel und möchte ihr am liebsten die Zunge herausstrecken. Das lässt sie aber bleiben, weil sie sonst vielleicht ganz plötzlich die Zahnbürste im Mund stecken hat. Wer weiß das schon. Im Morgenmantel wird man abgeholt von den Soldaten und dann ist alles vorbei. „Frau Mohn hat Angst“, flüstert eine Stimme in ihrem Kopf. Wer ist Frau Mohn? Wo ist mein Hase? Wer hat den Hühnerstall offen gelassen? Wohin gehen die Worte? Welche Farbe hat der Sonntag? Es kratzt am Rücken, nicht schon wieder dieser Mann mit dem Gewehr, aber es kratzt und Frau Mohn, was macht Frau Mohn, die eigentlich doch Greta heißt…
Sie kneift die Augen zusammen und schlägt um sich. Weg, weg, weg, alle!! Alle weg!!
Die Pinklackierte schreit kurz auf und flüchtet dann schimpfend. „Dann eben nicht! Ist mir doch egal, ob Sie die Zähne geputzt kriegen oder nicht!“ Irgendwo knallt eine Tür und wütendes Fußgetrampel entfernt sich.
Ruhe.
Nur ihr Herzschlag poltert zwischen den Ohren.
Irgendwann öffnet sie ganz vorsichtig ihre Augen.
Sie steht vor einem Spiegel. Darunter befindet sich ein Waschbecken. Darin liegt etwas. Sie weiß nicht, wie dieser Gegenstand heißt. Das Ding ist verschmiert mit etwas Grün-Weißem. Langsam tippt ihr Finger in diese Farbe und wandert Richtung Nase. Es riecht nach Pfefferminze. Das kennt sie. Mama brühte zum Frühstück Pfefferminztee auf. Pfefferminztee und selbstgemachte Erdbeermarmelade. Im Spiegel flackert es. Die Energiesparlampe ist schon lange kaputt. Mindestens seit übergesternmorgen. „Frau Mohn ist Greta und Greta gehört ins Bett“, murmelt es in ihrem Kopf. Sie schaut nach vorne. Die Frau im Spiegel sieht seltsam aus. Graue, zerzauste Haare, Schatten unter den Augen, faltige Haut. Wo ist ihre geliebte Haarspange? „Wir stinken“, jammert eine Stimme in ihrem Innern leise.
„Was soll getan werden mit diesem Leben?“, denken sich die Worte aus ihr heraus, während ihre Hände die grünweiße Zahnpasta unter ihren Achseln verteilen. Ihre Beine wollen laufen. Weglaufen. Für immer fort. Nach Hause will sie. Endlich nach Hause zu Mama und den anderen Mädchen. Aber wie soll das nur gehen? Wie lassen sich die Beine bewegen? Sie starrt an sich herab, sieht das dünne, weiße Baumwollnachthemd und die grauen Pantoffeln. Was? Wie?
Eine Tür öffnet sich.
Die Pinklackierte kommt herein. „Ist das meine kleine Schwester?“, flüstert die Stimme im Kopf. „Ruth?“, fragt Frau Mohn. Die Pinklackierte schnäuzt sich in ein Taschentuch und reibt sich über die Augen. „Nein, ich bin nicht die Ruth!“, sagt sie. „Wo ist Ruth?“, fragt Frau Mohn.
Die Pflegerin schweigt. Jeden Morgen dasselbe. Sie wünschte, die könnte mehr tun. Hätte mehr Raum, dürfte sich Zeit lassen. Sie atmet durch und greift nach der Zahnbürste im Waschbecken. Keine freien Minuten mehr für Katzenwäsche. Andere Bewohner*innen warten.
Angst. Es ist doch immer wieder diese furchtbare Angst, die Frau Mohn quält. Die Pflegerin weiß das. Aber was soll sie tun? Wenige vorgegebene Minuten am Morgen, für die Versorgung einer Frau, der irgendjemand Altersdemenz attestiert hat. Es fragt keiner mehr danach, wo ihre Angst geboren wurde.
„Ruth?“, fragt Frau Mohn wieder und streichelt der Pinklackierten sanft und zärtlich über die feuchtgeweinte Wange. „Meine Ruth! Bist du da!“ Zum ersten Mal an diesem Morgen taucht ein friedlicher Schimmer im lebensgeprägten Gesicht der alten Frau auf.
Die Pflegerin spült die Zahnpastareste von der Zahnbürste, steckt sie zurück in den Becher und greift nach einer neuen Inkontinenzeinlage. „Ja, die Ruth…“, murmelt sie und nimmt Frau Mohns Hand. „Jetzt gehen wir mal zusammen zur Toilette, in Ordnung?“
Der friedliche Schimmer verschwindet mit einem Schlag.
Ein Türenknallen. Das Nachthemd ist verschwunden. Nur noch ein Pantoffel an ihren Füßen. Rote Flecken an den Beinen. Die Hühner gackern. Ich stinke. Ich bin allein, ich bin ganz allein. Meine Mama, wo ist meine Mama? Ich will nach Hause. Ich habe Schmerzen. Ich weiß nicht, wo ich bin. Ich weiß nicht, wie ich heiße. Wo ist Ruth? Wo ist meine Schwester Ruth? Ich bin noch klein. Ich habe solche Angst.
Zwischen Toilette und Duschkabine kauert eine Frau, die Greta Mohn heißt.
Sie kneift die Augen fest zusammen. Eine Hand hält den Bauch. Die andere verkrampft sich in der schiefsitzenden Einlage. Die Soldaten haben sie geholt. Und gequält zurückgelassen. Nichts ist mehr sicher, zwischen gestern und heute und morgen und manchmal.
Im Stationszimmer sitzt die Pflegerin und weint. Immer wieder dasselbe. Frauen wie Greta Mohn mit diagnostizierter demenzieller Erkrankung und kein Raum, kein Platz für mehr, keine Zeit für behutsame Reorientierung, Beruhigung nach Albträumen, Unterstützung in Angstzuständen. Medikamentengabe, um alles im Griff zu behalten. Die ganze Station.
Traumafolgen oder Demenz? Demenz als Traumafolge? Wer denkt an die Gewaltopfer, die alt geworden sind?
Eigentlich müsste sie bereits das Mittagessen vorbereiten. Aber die Pflegerin will nicht.
Sie geht zu Frau Mohn, die immer noch panisch zwischen Toilette und Duschkabine kauert.
Vorsichtig, ganz vorsichtig lässt sie sich neben Greta Mohn auf den nassen Boden sinken. Leise, ganz leise, beginnt sie eine Melodie zu summen. Sie öffnet die Augen. Die Pflegerin reicht ihr die Hand. Aber Greta Mohn nimmt sie nicht. Stattdessen legt sie sich in den Schoß der Pflegerin.
Die Soldaten sind weg.
Sie haben sie zurückgelassen.
Jetzt. Ganz kurz. Eine gesummte Melodie und ein Platz in einem warmen Schoß.
Ein ganz kleines bisschen Sicherheit und eine Entscheidung.