Kontaktpunkte

Gealtertes Trauma

Sie schaut in den Spiegel.

Zwischen ihren Augen, auf der Nasenwurzel, klebt irgendetwas Rotes.

Es ist Erdbeermarmelade vom Frühstück. Das weiß sie nicht, sondern sie schmeckt es, als sie den Fleck mit einem Finger verwischt und diesen dann in den Mund steckt.

„Frau Mohn, hier ist Ihre Zahnbürste!“ Eine fremde Hand schiebt sich in ihr Gesichtsfeld. Pink lackierte Fingernägel. Sie mag so etwas nicht. Und sie möchte sich nicht die Zähne putzen. Schon mal gar nicht, wenn sie von diesen Fingernägeln abgelenkt wird. Also stellt sie sich taub und schmeckt lieber noch ein bisschen dem Rest der Erdbeermarmelade nach.

Der Spiegel reflektiert das unfreundliche Licht der Energiesparlampe. Wann war sie zum letzten Mal in der Sonne? Erinnern kann sie sich schon lange nicht mehr. Weder an den letzten Ausflug, noch an das heutige Frühstück. „Frau Mohn ist Frau Mohn ist Frau Mohn!“ Sie lächelt. Auf die Stimme in ihrem Kopf hört sie heute gerne. Aber was tut sie hier? Ihr Herz zieht sich zusammen und das Zittern beginnt. Jeden Morgen das Gleiche. In Pantoffeln, nur mit einem Morgenmantel bekleidet, wird sie aus dem Haus gejagt. Von den bewaffneten Soldaten. Raus in den Hühnerstall. Zu den anderen Mädchen und Frauen. Jeden Morgen. Kein Frühstück. Nicht mal eine Katzenwäsche. Das Zittern breitet sich vom Bauch über den Rücken bis in ihren Kopf aus. Wo ist sie?

„Nun kommen Sie schon, Frau Mohn! Sie müssen doch die Zähne putzen!“ Die Pinklackierte tippt ihr auf die Schulter. Es bleiben noch 5 Minuten für die Morgenhygiene, inklusive Toilettengang, und es sind noch nicht mal die Zähne geputzt. „Hier, jetzt machen Sie mal die Zahnpasta drauf und dann schön den Mund öffnen…“ Geduld muss man eben haben. Aber die Zeit fehlt!

Sie drückt die Lippen fest zusammen und verkrampft die Hände zu Fäusten. Sie will nicht. Sie weiß nicht, was das soll. Sie starrt auf das Bild dieser Frau im Spiegel und möchte ihr am liebsten die Zunge herausstrecken. Das lässt sie aber bleiben, weil sie sonst vielleicht ganz plötzlich die Zahnbürste im Mund stecken hat. Wer weiß das schon. Im Morgenmantel wird man abgeholt von den Soldaten und dann ist alles vorbei. „Frau Mohn hat Angst“, flüstert eine Stimme in ihrem Kopf. Wer ist Frau Mohn? Wo ist mein Hase? Wer hat den Hühnerstall offen gelassen? Wohin gehen die Worte? Welche Farbe hat der Sonntag? Es kratzt am Rücken, nicht schon wieder dieser Mann mit dem Gewehr, aber es kratzt und Frau Mohn, was macht Frau Mohn, die eigentlich doch Greta heißt…

Sie kneift die Augen zusammen und schlägt um sich. Weg, weg, weg, alle!! Alle weg!!

Die Pinklackierte schreit kurz auf und flüchtet dann schimpfend. „Dann eben nicht! Ist mir doch egal, ob Sie die Zähne geputzt kriegen oder nicht!“ Irgendwo knallt eine Tür und wütendes Fußgetrampel entfernt sich.

Ruhe.

Nur ihr Herzschlag poltert zwischen den Ohren.

Irgendwann öffnet sie ganz vorsichtig ihre Augen.

Sie steht vor einem Spiegel. Darunter befindet sich ein Waschbecken. Darin liegt etwas. Sie weiß nicht, wie dieser Gegenstand heißt. Das Ding ist verschmiert mit etwas Grün-Weißem. Langsam tippt ihr Finger in diese Farbe und wandert Richtung Nase. Es riecht nach Pfefferminze. Das kennt sie. Mama brühte zum Frühstück Pfefferminztee auf. Pfefferminztee und selbstgemachte Erdbeermarmelade. Im Spiegel flackert es. Die Energiesparlampe ist schon lange kaputt. Mindestens seit übergesternmorgen. „Frau Mohn ist Greta und Greta gehört ins Bett“, murmelt es in ihrem Kopf. Sie schaut nach vorne. Die Frau im Spiegel sieht seltsam aus. Graue, zerzauste Haare, Schatten unter den Augen, faltige Haut. Wo ist ihre geliebte Haarspange? „Wir stinken“, jammert eine Stimme in ihrem Innern leise.

„Was soll getan werden mit diesem Leben?“, denken sich die Worte aus ihr heraus, während ihre Hände die grünweiße Zahnpasta unter ihren Achseln verteilen. Ihre Beine wollen laufen. Weglaufen. Für immer fort. Nach Hause will sie. Endlich nach Hause zu Mama und den anderen Mädchen. Aber wie soll das nur gehen? Wie lassen sich die Beine bewegen? Sie starrt an sich herab, sieht das dünne, weiße Baumwollnachthemd und die grauen Pantoffeln. Was? Wie?

Eine Tür öffnet sich.

Die Pinklackierte kommt herein. „Ist das meine kleine Schwester?“, flüstert die Stimme im Kopf. „Ruth?“, fragt Frau Mohn. Die Pinklackierte schnäuzt sich in ein Taschentuch und reibt sich über die Augen. „Nein, ich bin nicht die Ruth!“, sagt sie. „Wo ist Ruth?“, fragt Frau Mohn.

Die Pflegerin schweigt. Jeden Morgen dasselbe. Sie wünschte, die könnte mehr tun. Hätte mehr Raum, dürfte sich Zeit lassen. Sie atmet durch und greift nach der Zahnbürste im Waschbecken. Keine freien Minuten mehr für Katzenwäsche. Andere Bewohner*innen warten.

Angst. Es ist doch immer wieder diese furchtbare Angst, die Frau Mohn quält. Die Pflegerin weiß das. Aber was soll sie tun? Wenige vorgegebene Minuten am Morgen, für die Versorgung einer Frau, der irgendjemand Altersdemenz attestiert hat. Es fragt keiner mehr danach, wo ihre Angst geboren wurde.

„Ruth?“, fragt Frau Mohn wieder und streichelt der Pinklackierten sanft und zärtlich über die feuchtgeweinte Wange. „Meine Ruth! Bist du da!“ Zum ersten Mal an diesem Morgen taucht ein friedlicher Schimmer im lebensgeprägten Gesicht der alten Frau auf.

Die Pflegerin spült die Zahnpastareste von der Zahnbürste, steckt sie zurück in den Becher und greift nach einer neuen Inkontinenzeinlage. „Ja, die Ruth…“, murmelt sie und nimmt Frau Mohns Hand. „Jetzt gehen wir mal zusammen zur Toilette, in Ordnung?“

Der friedliche Schimmer verschwindet mit einem Schlag.

Ein Türenknallen. Das Nachthemd ist verschwunden. Nur noch ein Pantoffel an ihren Füßen. Rote Flecken an den Beinen. Die Hühner gackern. Ich stinke. Ich bin allein, ich bin ganz allein. Meine Mama, wo ist meine Mama? Ich will nach Hause. Ich habe Schmerzen. Ich weiß nicht, wo ich bin. Ich weiß nicht, wie ich heiße. Wo ist Ruth? Wo ist meine Schwester Ruth? Ich bin noch klein. Ich habe solche Angst.

Zwischen Toilette und Duschkabine kauert eine Frau, die Greta Mohn heißt.

Sie kneift die Augen fest zusammen. Eine Hand hält den Bauch. Die andere verkrampft sich in der schiefsitzenden Einlage. Die Soldaten haben sie geholt. Und gequält zurückgelassen. Nichts ist mehr sicher, zwischen gestern und heute und morgen und manchmal.

Im Stationszimmer sitzt die Pflegerin und weint. Immer wieder dasselbe. Frauen wie Greta Mohn mit diagnostizierter demenzieller Erkrankung und kein Raum, kein Platz für mehr, keine Zeit für behutsame Reorientierung, Beruhigung nach Albträumen, Unterstützung in Angstzuständen. Medikamentengabe, um alles im Griff zu behalten. Die ganze Station.

Traumafolgen oder Demenz? Demenz als Traumafolge? Wer denkt an die Gewaltopfer, die alt geworden sind?

Eigentlich müsste sie bereits das Mittagessen vorbereiten. Aber die Pflegerin will nicht.

Sie geht zu Frau Mohn, die immer noch panisch zwischen Toilette und Duschkabine kauert.

Vorsichtig, ganz vorsichtig lässt sie sich neben Greta Mohn auf den nassen Boden sinken. Leise, ganz leise, beginnt sie eine Melodie zu summen. Sie öffnet die Augen. Die Pflegerin reicht ihr die Hand. Aber Greta Mohn nimmt sie nicht. Stattdessen legt sie sich in den Schoß der Pflegerin.

Die Soldaten sind weg.

Sie haben sie zurückgelassen.

Jetzt. Ganz kurz. Eine gesummte Melodie und ein Platz in einem warmen Schoß.

Ein ganz kleines bisschen Sicherheit und eine Entscheidung.

a moment like this

Sie betritt das Zimmer nicht durch die Tür, sondern durch ihre Augen.

Langsam gleitet sie zwischen den Schulterblättern weiter nach oben, sammelt sich direkt hinter der Gesichtsmaske und drängt sich dann durch den engen Geburtskanal ihrer Sehnerven.

Das Zimmer ist ruhig und es riecht irgendwie wohlig. Sie sitzt auf einem weichen Teppich und über ihren Beinen ist eine leichte Decke ausgebreitet. Auf ihrem Schoß liegt ein Buch. Es ist grün und man erkennt einen Baum und eine Figur: „The Giving Tree“ lautet der Titel. Sie entspannt ihre Hände etwas mehr, als sie die ersten Seiten kurz anschaut. Englischer Text. Darin fühlt sie sich zu Hause.

Trotzdem flattert ihr Herz.

Ihr ist, als dürfte sie nicht da sein.

Als wäre sie in eine Tabuzone eingedrungen, einfach weil sie wie automatisch ihren Halt zwischen den Schulterblättern verloren hat. Sie weiß nicht, weshalb es sie nach außen geboren hat. Nun ist sie da und ihr Herz flattert die linke Halsseite hoch und runter.

An ihren Beinen bewegt sich etwas.

Ihr Blick schnellt vom grünen Buch zum Fußende und erst in diesem Moment erkennt sie die Katze.

Dieses kleine, kuschelige Fellwesen dreht sich auf den Rücken und streckt die Beine genussvoll von sich.

Während der Betrachtung dieser Bewegungen öffnet sich ihr Sichtfeld weiter: Lichtstreifen strahlen durch das Zimmer. Auf dem weichen Teppich ziehen sich zwei Sonnenfelder über Kreuz in die Länge. In einem der Felder räkelt sich die Katze. Im anderen erkennt sie einen dunklen Schatten. Da ist noch eine, eine zweite Katze.

Sie bemerkt erst, als das Buch an der Decke raschelt, dass ihre Hände zu zittern begonnen haben.

Ihr Herz flattert immer noch hektisch und befindet sich mittlerweile im Unterkiefer. „Perhaps it will jump out of my mouth“, denkt sie. Als sie sich selbst hört, werden ihre Hände wieder ruhiger.

Die Katzen schauen verschlafen und unaufgeregt in ihre Richtung.

Dann rollt sich die Eine zu einer Kugel zusammen und die Andere legt sich auf die Seite. Beide schnurren und schließen die Augen.

Sie schiebt das Buch beiseite. Dann lässt sie sich langsam flach auf den Teppich gleiten und zieht dabei die Decke bis zum Hals hinauf. Ein großer Teil ihres Körpers befindet sich nun gemeinsam mit der einen Katze in einem Sonnenfeld.

Ihr Herz flattert vom Unterkiefer durch den Hals in ihre Brust zurück.

Ihre Schulterblätter lassen ein bisschen lockerer. Sie spürt die Luft in ihrer Mitte ein- und ausströmen.

In zwei Lichtstreifen liegen drei Lebewesen, die im gleichen Rhythmus atmen.

Auf- und Abbewegungen in kleinen und großen Schattenbergen auf einem weichen Teppich.

Der Geburtskanal ihrer Sehnerven schließt sich für eine Weile.

I could drop off to sleep, but I want to keep in touch with myself.

Just me.

Nobody else.”

Blick(e) hinter Pupillen

Sie betrachtet ihre Hände. Bis eben waren sie noch in irgendwelchen Hosentaschen versteckt. Jetzt liegen sie locker auf den Oberschenkeln, mit den Handflächen nach unten. Die Fingerspitzen sind bläulich verfärbt. Das bedeutet wohl, dass es zu kalt ist. Sie weiß nicht, ob sie friert. Aber ihre Hände sagen: „Oh ja, das tun wir. Kalt ist es, wie verrückt!“ Sie krallt die Finger in die Oberschenkel und spannt gleichzeitig die Unterarme an. „Ich mache mich lebendig“, denkt sie. „Es wäre doch gelacht, wenn ich euch nicht erwärmt bekäme!“ Dann hustet sie und lächelt entschuldigend in Richtung Ausgang. Dort müsste die Frau sich gerade befinden, die sie leider nicht sehen kann. Nur sich selbst erkennt sie, aber andere Menschen lässt sie unter einem zauberhaften Tarnumhang verschwinden.

Sag mal, wie wäre es, wenn wir zusammen eine Runde laufen würden? Vielleicht ein bisschen frische Luft schnappen? Die Sonne scheint, siehst du?

Sie hört die freundliche Stimme sprechen, die zu der Frau gehört, die sie noch nie angesehen hat. Ängstlich kneift sie die Augen zusammen. An so etwas kann sie sich einfach nicht gewöhnen. Als sie kurz unter ihren Augenlidern blinzelt, finden die Pupillen keine Ruhe mehr und zucken wie Flipperkugeln hin und her. Schnell und heftig stößt sie die Fingerspitzen in die Oberschenkelmuskulatur. Der Schmerzreiz hilft. Die Pupillen erstarren und vor ihr bewegen sich die vertrauten Lichtflecken. Keine Frau in Sicht. Glück gehabt. Sie dachte für einen Moment, sie sei möglicherweise doch verrückt geworden.

Also, was meinst du? Wollen wir ein bisschen zusammen gehen?

Sie atmet tief ein. Die Stimme wird keine Ruhe geben. Deshalb formuliert sie eine neutrale Antwort: „Von mir aus. Mir egal. Wenn du willst.“ Dann spannt sie alle wichtigen Muskelgruppen an und hebt ihre Hüfte auf die bereitstehenden Beine. Sich aufrecht halten kann sie schon mal. Laufen wird wie immer auch funktionieren. Aber diese Kälte, diese Kälte. „Ich möchte am liebsten doch nur schon gestorben sein“, flüstert sie innerlich. Die Frau darf sie nicht hören, wenn sie so etwas sagt.

Die Frau schweigt.

Eine Zeit vergeht. Geht sie schon, oder steht sie noch? Ist noch Heute? Alles nur geträumt? Geschlafen? Erinnert? Wahrheit oder Märchen? Oder eine Lüge? Wo ist sie? Wer ist sie?

Die Frau legt eine Hand auf ihre Schulter. Sie ist warm. Die Schulter ist steinhart. Die Frau murmelt Unverständliches.

Wer ist sie? Wohin will sie?

Sie schaut in hellbraune Augen. Nicht weggucken jetzt. Aber wohin denn sonst, mit den tanzenden Pupillen, wohin denn, wenn sie nach außen kugeln? Dann muss sie doch weg-schauen, oder nicht? Muss sie doch!

Wer sie sieht, kann nicht unsichtbar sein. Am liebsten doch schon gestorben sein? Gestorben worden sein?

Jetzt lebt sie sie. Oder wird sie gelebt?

Wer sind sie?

Sind sie?

Geworden sind sie. Hinter flackernden Pupillen. Auf die Welt gehoben mit eiskalten Fingerspitzen.

Die Frau seufzt und blickt in die Sonne. Immer gehen sie gemeinsam los, und dann bleibt doch nur sie selbst übrig, wenn die Wärme durch die Lider scheint, ins Innere.

Trotzdem wird sie es wieder probieren. Sie mitzunehmen ins Leben. Die Andere.

Eine (alte) Geschichte über inneren und äußeren Ausstieg

1987

Sie greift nach der kleinen, feuchtwarmen Hand. Sofort umschließen die winzigen Finger ihren Daumen. Es wird nichts bringen, aber sie hebt das schreiende Baby trotzdem hoch und schaukelt es in den Armen. Das Kleine brüllt weiter. Es ist der Hunger. Nach Nahrung und nach Halt. Vor allem nach Halt.

Sie starrt am zappelnden Menschenkind vorbei auf den Boden. Ölflecken. Beton. Harter Stein. Es ist immer wieder derselbe Raum, in den er sie alle sperrt. Nebenan brummt der Heizungstank. Wie lange sie bleiben werden, weiß sie nicht. Das Baby wimmert. Sie hofft, dass es einfach einschlafen wird. Sie weiß einfach nicht, was sie noch machen soll, damit es sich beruhigt.

Neben ihr bewegen sich die Füße der großen Frau. Vielleicht wird sie wach? „Mama“, sagt sie vorsichtig, „Mama, bist du da?“ Die große Frau liegt zusammengerollt wie ein Fötus zwischen Tür und Regal. Sie nimmt zu viel von dem wenigen Raum in Anspruch, den sie sich alle für unbestimmte Zeit teilen müssen. Aber es lässt sich nicht ändern. Wenn sie hier unten sind, schaltet sich das Bewusstsein der großen Frau in einen unansprechbaren Modus. Sie liegt da und ihre Augen flackern. „Mama“, versucht sie es erneut, „du musst das Baby nehmen! Ich kann das nicht!“ Die Frau zuckt kurz mit dem rechten Augenmuskel und ein Spuckefaden läuft aus ihrem Mund. Sie kann es auch nicht, das mit dem Baby.

Für ihn ist das alles kein Thema. Er hat zu tun. Was auch immer er in der Zeit macht, in der er seine Familie wegsperrt, es scheint oberste Priorität zu haben. Das kann alles sein- von Sportschau über „einfach so“ bis „Geldverdienen“. Wann er die Tür zum Gefängnis wieder öffnen wird, ist und bleibt uneinschätzbar.

Sie weiß, dass er sie alle nicht verdursten lassen wird. Manchmal kommt er zwischendurch, holt das Baby und bringt es später wieder zurück. Es wird aufgetankt, denkt sie dann. Das kleine, schreiende Kind braucht mehr Flüssigkeit als ich. Die dann eintretende Ruhe ist wie Alpenmilchschokolade für die Ohren. Sie kann diesen akustischen Trost schmecken. Die große Frau liegt weiterhin einfach nur da. Manchmal schafft sie es, sie in eine sitzende Position zu bringen. Es ist nicht gesund, immer nur so zu liegen. Der Kreislauf macht schlappt, das kennt sie schon von ihr. Dann wird es hektisch im Gefängnis. Es ist einfach nicht auszuhalten, ohne Tageslicht und Sauerstoff.

Wenn er das Baby zurückbringt, bleibt er manchmal kurz in der Tür stehen. Er schaut auf seine Familie und sie erkennt seinen Hass. Sie schweigen. Alle schweigen, auch das Baby. „Mama“, denkt sie „Mama, bitte, sag doch endlich was!“ Nichts passiert. Er geht und die schwere Tür schließt sich.

Sie weiß, dass die große Frau hilflos ist. Krank und traurig und allein. „Ich pass auf dich auf. Und auf die Kleine.“, flüstert sie, „Immer.“ Die große Frau hustet und schaut sie an. Ein Zucken bewegt ihre Mundwinkel. Das Baby macht quietschende Geräusche. Es liegt an der Wand auf dem Rücken und ist erst mal zufrieden. Es ist satt. So einfach gestrickt, dieses kleine Wesen.

1996

„Mama“, sagt sie, „steh auf!“ Die große Frau rollt den Kopf hin und her, bewegt sich aber nicht weiter. „Steh auf, Mama!“, sagt sie lauter. „Du musst jetzt aufstehen!“ Sie sieht Tränen in den Augen der großen Frau aufsteigen. In ihr entzündet sich ein Wutfeuer. Sie spannt die Muskeln an und drückt den Rücken gegen die Wand. „Hör auf zu heulen!“, ruft sie und reibt sich über die Augen. Sie ist so müde. Aber sie ist auch wütend. „Ich hab gesagt, du sollst aufstehen!“. Die große Frau dreht sich von einer Seite auf die andere und hebt die Hände über den Kopf. „Nein!“, ruft sie und lässt sich vor der großen Frau auf die Knie fallen, „Du hältst dir jetzt nicht die Ohren zu!“. Neben ihr fängt die Neunjährige an zu jammern. „Hör auf!“, herrscht sie ihre Schwester an, „Hör sofort auf!“. Das Jammern steigert sich in ein Kreischen. In der erstickten Stille des Gefängnisses türmt sich ein Lärm auf, der die Wände sprengen könnte. Sie presst sich die Hände auf die Ohren und hört nur noch gedämpftes Rauschen. „Es ist nichts, es ist nichts, es ist nichts!“ Das Mantra zieht sich durch ihren Kopf und nimmt sie mit an einen Ort außerhalb ihres Ichs, weg von ihrer Familie.

1998

Sie schaut aus dem Fenster. Aus der Küche dringt entspanntes Geplapper zwischen der großen Frau und der Schwester. Er ist auch da und macht Scherze. Es wird gelacht. Sie öffnet vorsichtig das Fenster und steigt auf die Fensterbank. „Tschüß, Mama!“, murmelt sie, als sie über die Regenrinne auf das Garagendach klettert. Sie wirft einen Blick über das Grundstück und springt dann auf die Garageneinfahrt. Langsam macht sie ein paar Schritte und erreicht die Hauswand mit dem vergitterten Kellerfenster. Sie bleibt stehen. „Ich kann sie nicht hierlassen… Ich kann das nicht. Ich muss… Aber wenn ich jetzt zurückgehe…“ Oben öffnet sich ein Fenster. Sie hört ihn. „Komm sofort wieder rein! Sofort!“ Sie muss. Die Schwester und die große Frau, was wird aus ihnen, ohne sie?

2017

In der Küche lässt er sich auf einen Stuhl fallen und gießt sich Kaffee ein. „Wo ist deine Schwester?“, fragt er sie. „Woher soll ich das wissen?“, antwortet sie, ohne ihn anzusehen „Sie ist doch schon lange weg!“. „Bring sie endlich zurück!“, presst er wütend hervor. „Sie soll sich um eure kranke Mutter kümmern! Oder soll ich das etwa machen??“. Sie starrt ihn an. Im Wohnzimmer plappert der Fernseher und die alte Frau lacht. Sie braucht nichts. Jedenfalls nichts, was ihre große Schwester und sie für sie tun könnten. Sie erhebt sich langsam und geht in den Flur. Dann greift sie nach ihrer Jacke und den Schuhen und ruft „Ich guck, ob ich sie finden kann!“. Und denkt: „Wir bringen uns beide nicht mehr zurück.“ Dann verlässt sie das Haus, in dem auch sie schon längst nicht mehr wohnt.

2018

In einem Straßencafé begegnen sich zwei erwachsene Schwestern.

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2024

Ich lese diese Geschichte wie ein altes Tagebuch. So viel Zeit, dazwischen und danach. So viel Bewegung, Entwicklung, Schmerz, Liebe und Befreiung.

Die Geschichte ist alt und aktuell zugleich, für mich-uns und andere Menschen, die in organisierten Gewaltstrukturen aufgewachsen sind und darin auch Geschwisterbeziehungen erlebt haben.

All das braucht Raum und Aufmerksamkeit, Anerkennung und Zuwendung; sowohl innerhalb der Viele-Systeme, als auch in Therapien, Begleitungen, Freundschaften, persönlichen und beruflich unterstützenden Kontakten. Geschwisterbeziehungen und -bindungen lösen sich nicht einfach auf, nur weil man evtl. den Kontakt (z.B. aus Schutzgründen) abgebrochen hat. Und das ist auch okay so!

Ob und wie und wann etwas vielleicht neu und anders entstehen kann, oder ob es aus (lebens-) wichtigen Gründen bei Distanz und Trennung bleiben muss und soll, entscheiden Betroffene selbst.

Ich wünschte, alle hätten dabei die Unterstützung, die sie sich wünschen würden.

1987

Als sie erfuhr, dass das Baby geboren worden war, war ihr Grundschullehrer der Erste, dem sie davon erzählte.

Als er sie fragte, ob sie sich freue, antwortete sie strahlend: „Ja, und wie!“, nur um wenige Sekunden später mit Tränen in den Augen hinzuzufügen: „Aber ich weiß nicht, was ich machen soll…“

Der Lehrer hakte nicht nach. Weder in diesem Moment, noch in ihrer restlichen Grundschulzeit.