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„Blinder Fleck“: Wenn Fragezeichen bleiben, die aufgelöst werden könnten

Im aktuellen Film „Blinder Fleck“ von Liz Wieskerstrauch geht es um rituelle Gewalt. Zu sehen ist er in diversen kleineren und größeren Kinos, inklusive anschließender Diskussions- und Fragerunde mit der Regisseurin.

Die Filmautorin schreibt auf ihrer Homepage: „Dieser investigative Film zeigt das Ausmaß organisierter ritueller Gewalt in Deutschland und wirft die drängende Frage auf, warum die Ermittlungen bislang in keinem einzigen Fall zu einer Anklage, geschweige denn zu einer Verurteilung geführt haben.

Betroffene, Ärzte, Therapeutinnen/Beraterinnen, Jurist*innen, Polizisten/Kriminalisten kommen in verschiedenen Interviews zu Wort und beleuchten das Thema „rituelle Gewalt“ aus ihren jeweiligen Hintergründen heraus.

Von den Betroffenen wird hauptsächlich aufgezeigt, wie diese Gewalt inhaltlich und in ihren Auswirkungen konkret aussehen kann. Die Dissoziative Identitätsstruktur als eine Folge solcher Komplextraumatisierungen wird sicht- und spürbar. So werden die Zuschauenden emotional sehr angesprochen.

Die Fachpersonen, die in ihren Berufsfeldern mit der Thematik zu tun haben, äußern sich unter anderem zum Aspekt des Zweifelns: Immer wieder wird die Glaubhaftigkeit der Schilderungen von Betroffenen medial, gesellschaftlich, juristisch, politisch in Frage gestellt- ist „rituelle Gewalt“ nun real existent oder nicht? Hierzu teilen die Fachpersonen ihre individuellen Meinungen mit.

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Meinungen und offene Fragen, statt wissenschaftlicher Erkenntnisse und Antworten.

Uns fehlt in der Dokumentation die (internationale) Traumaforschung der letzten Jahre, die es überflüssig macht, sich immer wieder (nur) auf die „Glaubensfrage“ zu beziehen. Wenn die thematische Auseinandersetzung ausschließlich davon abhängt, wer in welcher Position welche Darstellungen und Zusammenhänge persönlich für (un)möglich oder (un)wahrscheinlich hält, wer damit wo wieviel Einfluss und Reichweite hat- dann bleibt es für Betroffene ein „Glücksspiel“, an wen man wo gerät und wie die Unterstützung dann aussieht, falls man welche bekommt.

Anzuzweifeln, dass es rituelle Gewalt als eine von vielen möglichen Gewaltformen gibt, ist Bestandteil einer ignoranten, persönlichen Komfortzone. Die Dissoziative Identitätsstruktur als eine von vielen möglichen Gewaltfolgen zu negieren, ist schlicht unwissenschaftlich. Man kann sich inzwischen auf Belege beziehen und muss gar nicht mehr in der Grundsatz-Glaubensfrage herumdümpeln.

Die Dissoziative Identitätsstörung (DIS) ist eine belegbare Diagnose, die in der „internationalen statistischen Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme“ (engl. ICD) aufgeführt wird. Die Diagnosekriterien und -standards sind klar. Wie bei allen anderen „Erkrankungen“ kann es auch hier zu Fehldiagnosen und -behandlungen kommen, die für die Betroffenen mit sehr viel Leid verbunden sind.

Die Möglichkeit, in einem therapeutischen/beraterischen oder polizeilichen Setting Suggestion und Manipulation zu erleben, ist für psychisch belastete Menschen sehr hoch. Die Wahrscheinlichkeit, dass Betroffenen von sexualisierter Gewalt in der Kindheit nicht geglaubt wird, ist weitaus größer, als dass jemandem falsche Gewalterinnerungen „eingeredet“ werden. Natürlich ist es möglich, Erinnerungen zu manipulieren- und zwar in jede Richtung. Therapeut*innen, die suggestiv auf ihre Klient*innen einwirken, sind keine verrückten „Psychos“ (wie im Film von einem Facharzt geäußert): Sie begehen dabei ethische und fachliche „Kunstfehler“, die unbedingt vermieden werden müssen (und können!). Behandlungs- und Beratungsrichtlinien sollten auch in diesem Zusammenhang keine „persönliche Präferenz“, individuelle Meinung oder „nice to have“ sein, sondern einen klaren, schützenden Rahmen für (besonders vulnerable) Menschen bieten.  Diagnostik ist für kompetente Behandler*innen inzwischen kein Hexenwerk mehr; Psychotraumatologie wurde und wird erforscht, überdacht, findet neue Wege und Methoden- und trotzdem hält man sich immer wieder mit „false memory“-Geschwurbel auf, verschwendet Ressourcen, Zeit und Raum, der lösungsorientierter genutzt werden könnte.

Die Existenz organisierter, ritueller Gewalt wird immer wieder daran festgemacht, wie viel davon juristisch beweisbar ist. Die Schilderungen der Betroffenen über größere Täter*innenkreise, mehrere andere Opfer und massive Straftaten steht im Widerspruch zur Verurteilungsrate: Über gefasste Täter*innen ist nur wenig bekannt, die in „Blinder Fleck“ und anderen Beiträgen gezeigten  Ermittler*innen haben nie entsprechende Fälle aufklären können. Keine gerichtsverwertbaren Beweise, also auch keine Urteile- also auch keine Täter*innen? Und somit auch keine Opfer? Man glaubt nichts, was man nicht sieht. Die Schilderungen über rituelle Gewalt bleiben so viel zu oft konsequenzlos in der Luft hängen, werden vergessen. Gut, dass sie zumindest in der Dokumentation ihren Platz bekommen und behalten.

Dass Ermittlungsverfahren so oft (aber nicht immer, siehe Infoportal Rituelle Gewalt) scheitern, bedeutet in erster Linie, dass nicht genügend Material für einen Gerichtsprozess gefunden wurde. Was als juristisch ausreichender Beleg oder Beweis gilt, ist gesetzlich vorgegeben. Aussagen von Betroffenen werden mit polizeilich und gutachterlich zur Verfügung stehenden Mitteln überprüft und untersucht. Die forensischen Standards der sogenannten „Glaubhaftigkeitsbegutachtung“ wurden bisher nicht an die Erkenntnisse der Traumaforschung der letzten Jahre/Jahrzehnte angepasst. Es gilt in dem Zusammenhang weiterhin auch die „Nullhypothese“: Es wird davon ausgegangen, dass die Aussage unwahr ist – so lange, bis genügend Beweise für die Glaubhaftigkeit vorliegen. Alles, was die Grundannahme der „falschen Behauptung“ untermauern kann, wird gesammelt und führt schließlich zu einer gutachterlichen Stellungnahme, die sowohl ein Ermittlungsverfahren als auch einen Gerichtsprozess (und somit auch ein Urteil) maßgeblich beeinflusst und steuert.

Ob polizeiliche Tätigkeiten erfolgreich verlaufen, hängt von vielen Faktoren ab. Ein Aspekt sind Zeugenaussagen. Auch im Film „Blinder Fleck“ wird darauf eingegangen: Dissoziativ strukturierte Menschen haben eben häufig keinen bewussten, kontinuierlichen Zugang zu Erinnerungsmaterial. Schilderungen sind oft bruchstückhaft und in sich zum Teil widersprüchlich. Verschiedene Persönlichkeitsanteile erinnern und äußern Verschiedenes- und es braucht Mühe, Zeit, Unterstützung, das Ganze zusammenzusetzen. Eine polizeiliche Vernehmungssituation ist hochgradig stressig, die Betroffenen sind psychisch belastet- und es wird gefordert, konstant, in sich schlüssig, nachvollziehbar und rekonstruierbar auszusagen, was passiert ist. Logischerweise findet auch (gerade) in solchen Momenten Dissoziation statt- und wenn die vernehmenden Beamt*innen keine Ahnung von Psychotrauma haben, überfordert oder überlastet sind, dann kann so eine Ermittlung im Grunde nur mit viel Glück oder Zufall gerichtsverwertbares Material hervorbringen.

Im Film bleibt die Problematik der Aussage(un)fähigkeit bei Dissoziativer Identitätsstruktur als (ein) Grund für im Sande verlaufene Ermittlungen stehen. Es wird nicht benannt, was hilfreich sein könnte. Menschen mit DIS sind nicht per se „schlechte Zeug*innen“- bedeutend sind unserer Erfahrung nach vor allem die Zeitpunkte und Umstände, wann und wie sie bei der Polizei landen. Erinnerungsmaterial kann im Laufe der Zeit klarer zur Verfügung stehen und auch deutlicher benannt werden, Fehlerinnerung können innersystemisch aufgespürt und korrigiert werden- sofern Betroffene dabei auch therapeutisch kompetent unterstützt werden. Und auch hier zeigt sich wieder die Hürde der Glaubhaftigkeitsbegutachtung: Langjährige Psychotherapie gilt als ein Argument, dass für eine Falschbehauptung spricht (Stichwort Suggestion) und wird nicht als Beleg für Wahrheit angesehen. Dass viele komplextraumatisierte Menschen überhaupt erst mit therapeutischer Hilfe in die Lage kommen, ein Strafverfahren angehen und durchstehen zu können, wird ignoriert.

Kinder, die organisierter und/oder ritueller/ritualisierter Gewalt ausgesetzt sind, werden immer noch viel zu selten und zu spät als Opfer erkannt. Traumafolgesymptome werden von Umfeld, Kita, Schule, Erzieher*innen, Institutionen oft nicht als solche identifiziert- obwohl das mit Fachwissen und Aufmerksamkeit durchaus möglich ist. Hier trifft der Film einen wichtigen Punkt: Man muss Gewalt eben auch für möglich halten. Wer weiß, welche Gewaltformen es geben kann, der/die schaut anders hin. Wir hätten uns gewünscht, dass die Dokumentation mehr Handlungsoptionen aufzeigt: Was brauchen betroffene Kinder und Erwachsene? Wie kann Schutz aussehen und gewährleistet werden? Was braucht es gesellschaftlich und politisch? Wie können Menschen, die helfen wollen, dazu befähigt werden, auch helfen zu können?

Betroffene Erwachsene haben überlebt. Sie nicht als komplett zerbrochen, bis ans Lebensende leidend und psychisch zwangsläufig am Ende anzusehen, sondern es für möglich zu halten, „trotzdem“ Lebensfreude und „persönliche Freiheit“ entwickeln zu können, finden wir eine sehr wichtige Haltung, die für uns im Film gerne noch mehr hätte transportiert werden können.

Die Auswahl der Kulissen (Lagerhallen, verlassenes Schwimmbad, leere Bar, „Schlüssellochperspektive“ in ein Büro, u.a.) für die Interviews können wir an einigen Stellen nicht nachvollziehen, die Bildsprache und Kameraeinstellung erscheint uns zum Teil auch als „leider typisch“ für Berichterstattungen über sexualisierte Gewalt (Spielplatz, Clown, u.a.)

Ein dunkler Punkt (blinder Fleck?) wird im Verlauf des Filmes größer, statt kleiner.

Schade, wir hätten es uns andersherum gewünscht.

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