Kontaktpunkte

Hilfe und Barrieren

©PaulaRabe

#orangedays:

“Accessibility“ heißt Barrierefreiheit. Hilfsangebote für Menschen, die Gewalt erleben, müssen nicht nur “da“, sondern auch für sie zugänglich sein!

Das bedeutet, es braucht z.B. Offenheit und Bewertungsfreiheit, verschiedene und einfache Sprachen, Erreichbarkeit auch mit einem Rollstuhl, mit Hör- oder Sehminderung oder Assistenzhund.

Es braucht kostenfreie Angebote, weniger Bürokratiewahnsinn, diverse Stellen, die verschiedene Geschlechter ansprechen, medizinische Hilfe auch ohne Krankenversicherung, sichere Notwohnungen, usw.

Die Existenz von sexualisierter, physischer, psychischer, organisierter, ritueller, struktureller o.a. Gewalt wirklich ernst zu nehmen, bedeutet auch, deren Folgen als potentiell lebensbedrohlich, in jedem Fall aber lebens-behindernd anzuerkennen.

Und das bedeutet wiederum die Verantwortung, nicht nur Hilfestellen zu schaffen, sondern auch Barrierefreiheit für die Betroffenen zu gewährleisten.

Sichere Orte

©PaulaRabe

#orangedays :

Wir kennen es aus unserer eigenen gewaltvollen Biographie, wie wichtig sichere Orte für uns waren und noch sind und wie sie häufig fehl(t)en.

Oft ging es damals um Pausenmomente von der Gewalt, in denen fühlbar wurde: “Jetzt gerade passiert mir nichts, mein Gegenüber ist nicht gefährlich.“ Das konnte am Küchentisch der Nachbarin, im Klassenraum, beim Kioskbetreiber, am Kirschbaum oder auch im Kinderheim sein. Auszeiten, in denen Wahrnehmung und durchatmen und das Realisieren anderer Optionen möglich wurden.

Menschen, die Gewalt erleben, brauchen manchmal aber nicht nur das gemütliche Sofa bei einer Freundin, einem Freund- wenn es auch lebenswichtig sein kann, um die Verbindung mit dem Weiterleben halten zu können.

Menschen, die Gewalt erleben, brauchen auch professionelle, erreichbare Schutzangebote: Frauenhäuser, Beratungsstellen, Jugendhilfeeinrichtungen, Krisenanlaufstellen, usw.

Die Existenz, Finanzierung und Qualität dieser Institutionen zu sichern ist eine politische und gesamtgesellschaftliche Verantwortung und Pflicht!

Für Menschen, die in organisierten Täterstrukturen sexualisierte (rituelle) Gewalt erleben, gibt es zu wenige spezialisierte (Schutz-)Einrichtungen, die ihnen Begleitung anbieten können. Nicht selten stehen Betroffene, die sich vom Täterkreis distanzieren wollen, (zunächst) alleine da, bzw. werden ausschließlich von privat Unterstützenden aufgefangen. Die Bedeutung dieser Freund*innen, Partner*innen, u.a. ist unermesslich- und die Last, Mit-Verantwortung, Hilflosigkeit während eines “Ausstiegs“ zum Teil viel zu hoch.

Wir fordern mehr “safe places“ für alle, die sie brauchen!

#orangedays: https://www.instagram.com/p/CWu0uE8BhZP/?utm_medium=share_sheet

Zum 25.November

©PaulaRabe

Gewalt gegen Frauen und Mädchen – gegen Menschen- ist sichtbar, hörbar, fühlbar, auch wenn die Betroffenen (noch) schweigen.

Was Du tun kannst?

Augen, Ohren, Herz auf!

Kopf einschalten, dich über Hilfsmöglichkeiten informieren!

Gewalt als Teil von Lebensrealität begreifen, aber niemals als gegebene Normalität sprachlos hinnehmen!

Dich solidarisieren, nicht nur rund um den 25.11., sondern jeden Tag!

#orangedays: https://www.instagram.com/p/CWsajZ4r67Q/?utm_medium=share_sheet

Herbstfarben und Dynamik

Für manche Menschen mit Erfahrungen ritueller und/oder organisierter Gewalt ist die “dunklere“ Jahreszeit krisenbelastet. Zum Einen können “schwere Gefühle“ auftauchen, zum Anderen auch traumatische Erinnerungen an gewaltvolle “Feiertage“. Täter*innen in einem ideologisch geprägten Kontext nutzen häufig bestimmte Tage/Daten für (spezielle) “Settings“- und für die Opfer kann es auch Jahrzehnte später noch sehr schwierig sein, die Gewalterinnerungen von den Daten zu entkoppeln.

Uns hilft es zur Zeit, die herbstlichen Farben in der Natur zu betrachten (beim Blick aus dem Fenster, beim Spazierengehen oder im Garten), Blätter beim langsamen Fallen/Trudeln und Vögel am Vogelhäuschen zu beobachten (Mister Eichelhäher ist besonders beliebt). Es tut uns gut, bunte Windlichter und Laternen zu gestalten, Steine und Stöcke zu bemalen, Herbstgemüse zu essen und uns in eine regenbogenfarbige Decke zu kuscheln. Wir haben die Badewanne als Chilloutzone für uns entdeckt, probieren verschiedene Düfte aus. Außerdem hören wir wieder mehr Musik, entdecken neue Sänger*innen und Bands, bewegen uns dazu. Wir achten darauf, zu frühstücken und ausreichend zu trinken und zu schlafen, die Heizung gut zu regulieren. Jeden Tag fokussieren wir uns mindestens ein Mal auf etwas besonders Schönes, verankern es innerlich und atmen frische Luft.

(Feier-)Tage kommen und gehen, Krisen kommen und gehen, innere und äußere Prozesse kommen und gehen. An etwas festzuhalten tut uns meistens nicht gut. Vertrauen wachsen lassen zu können, dass es schon “okay“ werden wird, egal, wie wann was kommt- das ist ein großes Geschenk für uns.

Täter*innen profitieren von Statik. Wir leben Dynamik.

Was tut Ihr denn so, damit es sich im Herbst oder “anderswann“ nicht (allzu) dunkel oder schwer in Euch anfühlt?

©PaulaRabe

Projekt „Verrückt? Na und!“

Wenn ich darüber nachdenke, wie viel Raum das Thema „psychische Gesundheit“ im Schulunterricht meiner Jugendzeit hatte, fällt mir dazu nichts ein. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass in irgendeinem Schulfach jemals darüber gesprochen wurde, wie man dafür sorgen kann, psychisch im Gleichgewicht zu bleiben oder auch Krisen zu bewältigen.

Als ich vor kurzem das Projekt „Verrückt? Na und!“ des Vereins „Irrsinnig Menschlich e.V.“ kennenlernte, war ich berührt und beeindruckt. Ich habe mich so darüber gefreut zu erleben, wie engagiert, frisch, bunt und offen an der Förderung der psychischen Gesundheitskompetenz junger Menschen gearbeitet wird.

„Irrsinnig Menschlich e.V.“ hat Angebote für Schulen, Hochschulen und Unternehmen entwickelt. Ich habe am Ausbildungsworkshop für das Projekt „Verrückt? Na und!“ teilgenommen:

Methodisch und inhaltlich ist es so aufbereitet, dass es sich für Jugendliche und junge Erwachsene ab 14 Jahre in Schule und Berufsschule, sowie für deren Lehrkräfte eignet.

In diesem Projekt gestalten zwei Expert*innen („fachlich“ und „persönlich“, d.h. jemand mit pädagogischer Ausbildung und jemand mit Erfahrungsbackground psychischer Erkrankung/Krise) gemeinsam mit den Jugendlichen einen Schultag zum oben genannten Thema.

Der Tag besteht aus drei Teilen:

– Ansprechen statt Ignorieren: Wachmachen für seelisches Wohlbefinden in Schule und Ausbildung. Ausgangspunkt sind die Lebenserfahrungen der Teilnehmer*innen. Häufige Themen: Schulleistungen, Prüfungsstress, Mobbing, Süchte, Belastungen in der Familie, Krankheit, Suizid.

Glück und Krisen: Von Lebensschicksalen und eigener Verantwortung; vom Nothilfe-Koffer für seelische Krisen bis zum achtsamen Miteinander in der Schulgemeinschaft.

Mut machen, Durchhalten, Wellen schlagen: Austausch mit und Lernen von jungen und jung gebliebenen Erwachsenen, die seelische Krisen gemeistert haben

Gesprächsrunden, Kleingruppenarbeiten, Spiele, u.a. regen den Austausch an und öffnen Türen- das habe ich während der Hospitation in einer 9.Klasse erleben dürfen. Ich war überrascht und beeindruckt, wie offen die Jugendlichen über eigene Belastungen und die nahestehender Menschen gesprochen haben, wie respektvoll und tolerant die Atmosphäre war und wie kreativ und motiviert Ideen und Problemlösungen entwickelt wurden. Psychische Erkrankungen und darauf bezogene Stigmata konnten thematisiert und geklärt werden, Selbstfürsorge bekam einen ziemlich coolen Anstrich, weinen war okay und lachen auch. Als eine der beiden Expertinnen über ihre persönlichen Erfahrungen mit Depressionen und posttraumatischer Belastungsstörung erzählte, hörten die Jugendlichen interessiert und emotional bewegt zu und stellten anschließend spannende Fragen.

Ich habe während des ganzen Ausbildungsworkshops und besonders während der Hospitation immer wieder gedacht: Wie schade, dass es so etwas nicht schon damals in den Achtzigern oder Neunzigern gab- und wie großartig, dass es jetzt in den Lehrplan mit aufgenommen werden kann, die Psyche genauso wie den Körper in den Fokus zu nehmen.

Für mich selbst habe ich feststellen müssen, dass die Arbeit mit/in einer Schule, bzw. Schulklasse, meine Reizfilter überfordert. Meine Sinne und meine Emotionen sind für so einen Kontext nicht „stabil“ genug.

Unabhängig davon möchte ich „Verrückt? Na und!“ gerne Jugendlichen, Lehrkräften und anderen fachlichen und persönlichen Expert*innen ans Herz legen!

Dissoziation und Diagnostik

Ich glaube, dass Diagnostik gleichermaßen über- wie unterschätzt wird.

Hiermit könnte ich den Text eigentlich auch direkt wieder beenden, weil eigentlich alles gesagt ist. Aber.

Wenn Traumafolgen wie z.B. Dissoziationsphänomene mit einem Leidensdruck und Einschränkungen im Alltag verbunden sind, kann es wichtig sein, dass Leute, die sich damit auskennen (sog. Fachleute), einen Blick drauf werfen. Es kann helfen, über das eigene Erleben zu sprechen und vom Gegenüber unterstützt zu werden, Verständnis dafür zu entwickeln: „Aha, da ist was los bei mir, das seine eigene Logik, Gründe und System hat. Aha, man kann es mit diesen und jenen Begriffen einrahmen. Aha, es gibt Möglichkeiten, einen Umgang damit zu finden. Da und dort könnte ich versuchen anzudocken.“

Nicht jedes Trauma hat eine posttraumatische Belastungsstörung zur Folge. Nicht alle Menschen mit einer PTBS haben die gleichen Symptome in gleicher Ausprägung. Nicht jede Dissoziation hat „Krankheitswert“ und nicht jede „Arbeit mit inneren Anteilen“ bezieht sich auf eine Dissoziative Identitätsstörung.

Obwohl ich einerseits meine, dass Diagnosen irgendwie „nichts“ (über einen Menschen) aussagen, finde ich gleichzeitig, dass man sie nicht verwurschteln sollte. Mich nerven inflationäre, unkorrekte Gebrauchsweisen von Begriffen: Wenn schon jemand Wörter wie „Flashback“, „Trigger“, „traumatisiert“ oder „mind control“ benutzt, dann doch bitte „richtig“, d.h. bewusst gewählt und sauber definiert.

Wenn Psychiater*innen o.a. Diagnosen verschriftlichen, kann daraus ein belastender, diskriminierender Stempel mit sozialen, beruflichen, zwischenmenschlichen, individuellen Konsequenzen werden. Diagnosen können falsch, unvollständig, grob fahrlässig sein. Im Idealfall hat man soviel Selbst-Verständnis und Selbst-Wahrnehmung, dass man erkennen kann, wenn die Begrifflichkeiten sich nicht stimmig anfühlen- und dann auch so viel Kraft, Informationen und Unterstützung, sich dagegen zur Wehr zu setzen.

Im schwierigen (Normal-)Fall ist man sowieso schon verunsichert, ratlos, planlos, verängstigt, möglicherweise auch anfällig für manipulatives Einwirken von außen: Und zieht sich dann eine Diagnose an wie einen zu kleinen Schuh.

Man läuft dann erst mal weiter mit diesem Schuh, spürt eventuell, dass er nicht richtig passt, vielleicht aber auch nicht. Man humpelt, versucht zu verstehen, warum das Gehen möglicherweise noch schwerer fällt als vorher- und denkt, es könnte am schiefen Gangmuster liegen. Oder daran, dass man sich nicht ausreichend bemüht. Oder daran, dass man schon immer irgendwie „doof gelaufen“ ist. Am Schuh, in den man hineingepresst wurde, zweifelt man (im schwierigen Fall) erst mal nicht. Das kann auch dazu führen, dass man irgendwann denkt, er wäre wie für einen gemacht.

Das ist es, was ich anfangs meinte: Eine Diagnose kann über- und unterbewertet werden. Es kommt darauf an, wofür sie gebraucht wird.

Nur weil Dir irgendwann mal irgendjemand mit Titel bescheinigt hat, dass ein bestimmter Begriff zu Deiner Symptomatik, Deinem Erleben passt, muss dieses Wort kein Teil Deiner Identität werden. Die Welt könnte gut ohne Diagnose-Begriffe existieren, wenn „gesund“ und „krank“ keine Unterscheidungsmerkmale mehr zwischen Menschen wären.

Die genaue Diagnostik bei dissoziativen Störungen nach Traumaerfahrung(en) halte ich dennoch für wichtig. Und zwar deshalb, weil sie für mich etwas mit Anerkennung, Ernsthaftigkeit und gesellschaftlicher (Mit-)Verantwortung zu tun hat.

Dissoziative Störungen können verschiedene Ausprägungen und Formen haben, können einen Menschen massiv in seinem (Er-)Leben behindern. Entstehen sie im Kontext von Gewalterfahrungen sind sie ein Schädigungssymptom- ein Ergebnis einer oder mehrerer Beschädigungen! Hierbei genau zu schauen, welche Bezeichnungen passend sein können, genau zu untersuchen und zu besprechen- das ist für mich eine Art von Würdigung. Wenn jemand einen Autounfall überlebt hat und im Schockraum des Krankenhauses liegt, hakt man (im Idealfall) ja auch nicht einfach nur das gebrochene Bein und die Platzwunde am Kopf ab, macht einen Strich darunter und schreibt „Unfallopfer“ hin, sondern man beleuchtet genau, was wo in welchem Umfang desweiteren beschädigt wurde und welche Behandlung gebraucht wird.

Und da ich ja schon entschieden hatte, diesen Text nicht schon nach dem ersten Satz enden zu lassen, möchte ich noch folgenden Aspekt hinzufügen:

Dissoziationen machen auch vor Diagnostiksitzungen nicht halt.

Wenn ich nicht weiß, dass ich Amnesien habe, verneine ich die Frage danach. Wenn ich mich schäme, antworte ich nicht offen. Wenn ich Persönlichkeitswechsel habe, kann ich einen Fragebogen x-fach unterschiedlich ausfüllen. Wenn ich Gewalt erlebt habe, rieche, spüre, fühle ich auch psychiatrische (Deutungs-)Gewalt- und reagiere mit entsprechenden Mustern darauf. Wenn ich Angst vor meiner Wahrheit, der Realität habe, male ich vielleicht schön.

Und: Prozentangaben auf Fragebögen umkringeln zu müssen, Zahlen ankreuzen oder Skalen beschriften zu müssen (wie häufig passiert Dir dies und jenes?) widerspricht meiner Ansicht nach jeglicher Logik im Verständnis von Dissoziationsphänomenen.

Mit sich allein sein

„Es ist zu laut, zu voll, zu viel, zu schnell, überfordernd, beängstigend, nervig, anstrengend, dissoziationsfördernd…“ – diese Wahrnehmungen können im Alltag signalisieren: „Ich brauche eine Auszeit.“

Man spürt, wie wichtig es ist, Erholung und Stärkung zu erleben, wieder mehr mit sich in Kontakt zu kommen. Da ist (plötzlich) dieser Break, dieser Knack-, Riss-, Springpunkt, an dem nichts mehr geht: Nicht mehr sprechen wollen, keine Bewegung, kein Geräusch, keine Aufgabe, kein Kontakt. Einfach nur Ruhe haben wollen und müssen.

Manchmal merkt man an verschiedenen Symptomen, dass man sich selbst schon längere Zeit vergessen oder verloren hat. Gerade die Dissoziationsskala zeigt ja verschiedene Möglichkeiten: Von der sich einschleichenden Depersonalisation oder Derealisation, über häufiger werdende Persönlichkeitswechsel, bis hin zu dissoziativen Krampfanfällen oder Fugue-Episoden. Aber auch andere Signale wie Schlafstörungen, Depressionen, Schmerzzustände, psychosomatische Beschwerden, emotionale Instabilität, Taubheitsempfinden oder Essprobleme können darauf hindeuten, dass man dringend Zeit mit sich allein bräuchte.

Aber: Nur weil man bereits verstanden hat, was helfen könnte, wieder mehr Stabilität zu erleben, heißt das noch lange nicht, dass man es auch immer umsetzen kann.

Mit sich sein. Keine Ablenkung durch außen. Äußere Ruhe aushalten, um nach innen hören/sehen zu können. Gefühle wahrnehmen, die spürbar werden. Realisieren, wie wenig Innenkommunikation/ Innenkontakt in der letzten Zeit stattgefunden hat und wie wichtig es wäre, das zu verändern. Sich auf sich selbst zurückgeworfen fühlen. Einsamkeit?

Gerade nach Bindungs- und/oder Gewalttraumatisierungen in der Kindheit ist „Alleinsein“ etwas, das sich auch im Erwachsenenalter noch sehr bedrohlich anfühlen kann. Das Gefühl, sich aufzulösen, wenn da niemand oder nichts zum Andocken im Außen ist: Manchmal kann es sich schon unerträglich anfühlen, einfach das Telefon eine Weile auszustöpseln oder das Handy wegzulegen, die Musik auszuschalten oder eine Verabredung abzusagen.

Die Angst davor, kontaktlos zu sein oder zu bleiben, oder Beziehungen für immer zu verlieren, kann ziemlich tief verankert sein und sich immer wieder regen, wenn man vor hat, sich mal kurz- oder langfristig ausschließlich auf sich selbst zu fokussieren.

Da zeigt sich eine Ambivalenz: Einerseits überfordert und überreizt (z.B. getriggert) von/durch Menschen zu sein und Abstand zu brauchen, andererseits aber „nicht ohne sie zu können“, weil es sich anfühlt wie ewiges Fallen oder Zerbrechen.

An einem ungestörten, sicheren Platz zu sein, ohne Zeitdruck, ohne Anforderungen von außen; sich Raum zu nehmen, genauer hinzuhören, hinzufühlen, hinzusehen, was eigentlich im Innern los ist, was sich zeigen möchte, welche Bedürfnisse es gibt, usw.; innere Begegnungen und Erkenntnisse zuzulassen– selbst wenn man absolut kapiert hat, wie wichtig das für das eigene Wohlbefinden, die Traumaverarbeitung, die Stabilität im Leben ist: Diese „Allein-Momente“ sind oftmals gefühlsmäßig eben keine paradiesischen Situationen mit Cocktail, Keks und Sonnenschein, sondern Konfrontationen mit hartem Tobak, der zugunsten eines funktionierenden Alltags immer wieder innerlich „weggepackt“ wird.

Genau deshalb schiebt man solche Innenfokus-Zeiten ja auch gerne auf- weil man weiß oder ahnt, dass da Zeugs hochkommen wird. Zeugs. Ihr wisst schon.

Selbstverständlich gibt es auch gefeierte „mit sich sein“-Situationen, die einfach nur toll sind, weil man endlich Dinge tun kann, die allein besonders schön sind und weil man spürt, wie sehr man dabei auftankt. Und auch Innenkontakte können dabei entstehen, die Freude machen, trösten, ermutigen, miteinander verbinden. „Alleinsein“ gestalten, ohne sich einsam zu fühlen und ohne alte Traumagefühle wieder zu reaktivieren- sowas geht natürlich auch!

Wenn wir als Viele-System uns in unser Zimmer zurückziehen und die Tür schließen, können daraus verschiedene Konstellationen entstehen: Zum Beispiel sind dann Einzelne da, die es sehr genießen, ihre Ruhe zu haben und die sich auch vom Innenleben abschirmen können. Oder es sind Mehrere gleichzeitig da und „tun“ etwas zusammen: Einfach nur dasitzen und sich wahrnehmen, oder malen, oder lesen, oder irgendwie denken… Oder der Körper legt sich hin und es entsteht ein innerer „Prozess“ und es ist niemand so richtig „draußen“. Oder irgendjemand findet eine unheimlich bequeme Körperposition und plötzlich schlafen wir und werden irgendwann wach und fühlen uns ausgeruht, o.a.…

Manchmal kann es Hilfsmittel geben, die dabei unterstützen, sich nicht „traumatisch allein“ sondern „sicher und möglichst entspannt allein“ zu fühlen: Die besten Hilfsmittel sind für uns meistens unsere Katzen, wenn eine (oder beide) einfach mit im Zimmer liegt und döst; für manche sind es auch einzelne Kuscheltiere, das geöffnete Fenster (frische Luft), ein angenehmer Duft, ein leckerer Tee, eine leichte Bewegung (wippender Fuß, Fell streichelnde Hand, Schaukeln/Wippen, o.a.), eine nur angelehnte Zimmertür, o.a. Das gestaltet sich immer wieder unterschiedlich.

Es geht vor allem darum, Sicherheit wortwörtlich zu ver-innerlichen:

Wir sind mit uns okay.

Uns geschieht mit uns selbst nichts Schlimmes.

Wir können Verbundenheit mit uns selbst fühlen.

Wir erfahren (auch) Hilfe in schwierigen Situationen, wenn wir uns auf uns beziehen.

Wir können uns auf uns verlassen.

Wir sind uns wichtig.

Wut ist kein Privileg der Täter*innen!

Wütend sein können muss man sich zum Teil hart erkämpfen. Nach Gewalttraumatisierungen schütteln sich Überlebende oftmals dieses Gefühl nicht gerade aus dem Ärmel, sondern arbeiten daran, es sich „erlauben“ zu können. Nicht mehr davon getriggert zu sein, sich nicht abschrecken zu lassen von den Erinnerungen an die Wut, den Hass, die Machtgelüste, den Zerstörungsdrang der Täter*innen. Die eigene Wut spüren zu können, sie zuzulassen, sichtbar werden zu lassen: Das ist Teil eines langen Entwicklungsweges.

Wie kann mit Wut konstruktiv umgegangen werden, in einer Form, die nicht selbstverletzend ist?

Hier kommen ein paar Ideen:

Sport, Bewegung: z.B. boxen, Trampolin springen, tanzen, laufen/rennen, Fahrrad fahren, Holz hacken, u.a.

singen, rappen, schreien, sprechen, fluchen, weinen, schluchzen

Graffiti sprühen

laut Musik hören (z.B. über Kopfhörer)

schreiben (z.B. Wutbriefe), malen, etwas bauen (und dann evtl. kaputt machen)

die Wohnung umräumen/umgestalten

sich politisch engagieren, demonstrieren/protestieren, eine Gruppe gründen

alte Bücher (z.B. Telefonbücher) oder Klamotten zerreißen

aussortieren

Lärm machen

Rachegedanken schmieden (Die Gedanken sind frei!)

sich beschweren, klagen, Recht einfordern

….

Was hilft Euch im Umgang mit Wut? Hinterlasst gerne Rückmeldungen!

Trauma, Erinnern und Verstehen

Manchmal ist es ein Geruch, der etwas Altes innen aufbrechen lässt. Manchmal wird durch irgendetwas ein Flashback ausgelöst und man ist wieder mittendrin im Trauma und nicht mehr orientiert im Hier und Jetzt. Manchmal sind es die Emotionen, die die Vergangenheit widerspiegeln und manchmal ist es der Körper, der sich erinnert.

Trauma zeigt sich nicht immer mit einem lauten Knall, dramatisch sichtbaren Phänomenen, vielen Tränen und Zusammenbrüchen. Gewalt wird nicht immer in albtraumhaften Details erinnert.

Manchmal schleichen Gewalttraumatisierungen und deren Folgen eher lange Zeit durch´s Leben, statt zu trampeln.

Nicht immer hat man sofort ein Bewusstsein dafür, woran man sich konkret erinnert. Zum Teil mag es erkennbare Bilder(fetzen) geben, zum Teil auch nur innerlich herumwabernde „Aspekte von etwas“.

Vielleicht klärt sich im Laufe der Zeit etwas auf, wird einsortierbarer. Vielleicht muss man auch mit manchen Fragezeichen leben, die sich immer wieder zeigen, aber nicht (niemals?) genau beantwortet werden können.

Genau jene Trauma-Elemente, die lange (immer?) unklar herumwabern, können den Alltag, die Gesundheit, die Zukunftsperspektive, die Stabilität u.a. sehr beeinträchtigen. Sie können auf verschiedenen Ebenen Symptome verursachen und immer wieder auftauchen. Es lohnt sich unserer Erfahrung nach sehr, (therapeutisch) an der Sortierung und Zusammensetzung zu arbeiten. Es kann trotzdem sein, dass für manche Puzzlestücke einfach kein Verbindungsteil gefunden wird.

Und dann?

Uns hilft es, dem „wabernden Zeugs“ eine Form und einen Ausdruck zu geben. Oftmals fehlen Worte, um „es“ beschreiben zu können. Dann könnte etwas Kreatives versucht werden: Malen, basteln, bauen, gestalten, kneten, kleben, o.a.

Vielleicht wird es vor allem körperlich wahrgenommen, dann könnte der Körper etwas damit tun: Welchen Impuls gibt es dazu? Bewegung, Ruhe, Sport, schaukeln, schlafen, hüpfen, schwingen, schwimmen, sitzen, liegen, Wärme, Kälte, berührt werden, gehalten werden? Wodurch wird es „besser“?

Wabert es in Form von bestimmten Überzeugungen und Gedanken? Zum Beispiel: Ich bin schlecht/wertlos, alle sind gegen mich, ich bin Schuld, ich kann nichts, o.a.?

Kommen die Gedanken wie aus dem Nichts, oder sind sie unterschwellig immer da, expandieren aber in manchen Momenten besonders, ohne zuordnen zu können, weshalb?

Für uns ist es hilfreich, das Gegenteil von dem zu tun, was diese Gedanken/Überzeugungen „wollen“: Bei selbstabwertenden, selbstbeschimpfenden Gedanken eben NICHT in die Selbstverletzung oder in Isolation zu bleiben, sondern bewusst etwas für das Wohlbefinden zu tun und auch in Kontakt mit liebevollen, vertrauenswürdigen Menschen zu gehen.

Wir haben die Erfahrung gemacht, dass sich dann auch mehr zeigen kann, was hinter diesen Überzeugungen steckt: Nämlich meistens sehr viel Schmerz, Trauer und Verletzung. Darum können wir uns dann kümmern. Und dort hört es dann auch oftmals auf zu wabern und es entsteht Klarheit.

Ist es gewollt, traumatischen Inhalten mehr Kontur zu geben, das heißt, mehr Überblick (Was ist passiert? Woran erinnert es uns gerade?), kann es unterstützend sein, immer wieder aufzuschreiben, was wann wahrgenommen wird, OHNE den Anspruch an Vollständigkeit und Richtigkeit zu haben. Das, was da ist- das, was sich zeigt- ist wichtig. Punkt. Es darf erst mal alles gesammelt werden, auch wenn (zunächst) nichts so richtig zu passen scheint. Sortiert wird später.

Bedeutsam kann es auch sein, sich immer wieder zu erlauben, „Fehler“ zu machen. Vielleicht stellen sich manche erinnerte Aspekte oder Schlussfolgerungen im Laufe der Zeit als unstimmig heraus und man erlebt eine innere Korrektur. Das ist unserer Ansicht nach ein normaler Prozess und kein Zeichen für „Lüge“, Künstlichkeit oder Suggestion.

Vielleicht bleibt ein triggernder Duft auch dann noch triggernd, wenn man herausgefunden hat, welche Erinnerungen er aktiviert. Für uns ist der Umgang damit dann aber leichter, weil wir etwas darin verstanden haben.

Verstehen scheint der Schlüssel für Vieles zu sein.

Schritte mit und zur Selbstbestimmung

Besonders Überlebende ritueller/organisierter Gewalt sind mit dem Gebot des bedingungslosen Gehorsams aufgewachsen und mit dem Gebot des Schweigens. Innerhalb einer solchen Gruppierung wird das Auflehnen oder sich Widersetzen gegen diese Regeln mit schwersten Bestrafungen und Todesdrohungen belegt. Teilweise wird den Betroffenen vorgeführt, was mit „Aussteiger*innen“ passiert, die sich nicht an die Bestimmungen halten.

Das heißt, man erfährt am eigenen Leib durch Folter, wie „absolut“ die Fügsamkeit sein muss und was einen erwartet, wenn man sich widersetzt- und man erlebt als hilflose*r Zeuge/Zeugin die Gewalt gegen andere Menschen, die sich nicht im Sinne der Gruppe verhalten haben.

Insofern ist es für Überlebende ein absoluter Meilenstein, wenn sie sich im Außen zum ersten Mal an helfende Institutionen wenden oder im Kontakt mit der Umwelt mehr von sich und der eigenen Vergangenheit zeigen. Und indem sie das tun, verhalten sie sich selbstbestimmt– besonders auch dann, wenn sie evtl. noch in einem Kontakt mit den Täter*innen stehen und Bewusstseinskontrolle immer wieder greift und Austausch unter den Innenpersonen wenig funktioniert. Trotz aller innerer und äußerer Blockierungen mit Menschen zu sprechen und sich in einer Therapie auf einen Traumaheilungs-, bzw. -bearbeitungsweg zu machen, zeigt persönliche Freiheit, eigene Gedanken und eigenen Willen!

Wir haben immer wieder selbst erlebt und von anderen Betroffenen und Unterstützer*innen gehört und gelesen, wie wichtig die Orientierung und Verankerung im Leben außerhalb der Täter*innengruppierung ist. Neue Erfahrungen zu machen, die die eingetrichterten „Kult-/Gruppenregeln“ als im Hier und Jetzt unzutreffend / unpassend korrigieren, ist ein ganz wichtiger Baustein für die Entwicklung eines eigenen (!) Lebens. Diese neuen Erfahrungen liegen für uns vor allem im Bereich der Beziehungsgestaltung und Bindung an andere Menschen. Vertrauen, Verlässlichkeit, Ehrlichkeit, Grenzen, Streitkultur, Authentizität, Fürsorge und heilsamer Körperkontakt sind für uns die wichtigsten und nötigsten Elemente, die uns in unserem heutigen Leben Fuß fassen lassen. Jede Innenperson hat dabei ein eigenes Tempo- allerdings muss es so etwas wie eine gemeinsame Entscheidung geben, sich auf diesen Weg machen zu wollen, der absolut konträr zum vorgegebenen Weg der Täter*innengruppierung liegt.

Wir wünschen allen Überlebenden Wertschätzung und Anerkennung für diese grundlegende Entscheidung und alle damit verbundenen Schritte.