Leid(en) zulassen

Ich glaube, der Moment, in dem man das Leid(en) zulässt, statt es verhindern, verstecken oder vermeiden zu wollen, ist bahnbrechend.

Immer wieder höre, lese, erfahre ich den äußeren und inneren Fokus auf „Genesung“ (unterschiedlich definiert): Traumafolgen mögen idealerweise aufgelöst (oder abgemildert) werden, der Mensch möge die erlebte Gewalt als Teil seiner Biographie anerkannt und integriert (verabschiedet?) haben. Überleben, weiterleben, trotzdem und mit allem leben. Hauptsache, es tut nicht mehr (so) weh.

Wir wissen und beschäftigen uns schon seit fast 25 Jahren von/mit unserem Vielesein und den zugrundeliegenden Traumata. Was uns immer wieder bei beruflich und privat Unterstützenden / Begleitenden und auch bei uns selbst begegnet (ist), ist die Scheu vor dem Leid. Die Angst vor dem „Unaushaltbaren“ oder vor heftigen Gefühlen.

Manchmal wirkt(e) es so, als würde die Abwesenheit von Schmerz, Trauer, Wut, Rachegelüsten, Entsetzen, Ekel, körperlichen Beschwerden usw. als Zeichen des Fortschritts, einer Heilung oder einer besonderen Stärke angesehen werden.

„Es hat mir damals nichts ausgemacht“ klingt vielleicht typisch dissoziativ und ungesund (denn die Gewalt/der Kontext war doch schlimm!). „Es macht mir heute nichts mehr aus“ soll hingegen quasi ein Schlachtruf der/des konstruktiven, wehrhaften und starken Überlebenden sein?? Daran stimmt etwas nicht!

Damit das Leiden nachlässt, muss es erst mal gespürt werden dürfen und seinen Ausdruck finden. Zurückgehaltenes, unterdrücktes, bekämpftes Leid macht nicht gesünder, sondern schwächt, zermürbt, zerfrisst.

Gewalt trifft und schädigt den Körper und die Psyche. Um sie ggf. jahrelang überleben zu können, dissoziiert der Mensch. Je länger, desto automatischer und tiefgreifender. Die Gewalt wird letztlich nicht ausgehalten, sondern vielmehr vom Bewusstsein weg-gehalten. Die Belastungen (zum Beispiel in Form von körperlichem und seelischem Schmerz, Verletzungen, Wunden, Isolation, Hilflosigkeit und Ohnmacht) sind vorhanden, finden aber als bewusst er- und gelebtes Leid keinen Raum. Es geht in erster Linie um „Anpassung an die Umstände“, um Kompensation, Unauffälligkeit.

Erwachsen zu werden in einem gewaltvollen Umfeld bedeutet, an verschiedenen inneren und äußeren Stellen verhärten zu müssen und Schutzschichten zu entwickeln. Die (emotionalen) Wunden werden quasi zugespachtelt, das brüchige Fundament und die „Identitätssäulen“ (notdürftig) fixiert. Irgendwie muss, soll, will und kann der Mensch „halten“.

Jene Orte am/im „Ich“, auf die die Gewalt getroffen ist, bleiben aber auch im Erwachsenenalter noch besonders sensible Bruchstellen. Ich denke nicht, dass es wertschätzend ist, Tapferkeitsorden zu verteilen, wenn sie vorbildlich unsichtbar oder unkompliziert sind.

Ein Trauma hinterlässt Eindrücke, und zwar auf überwältigende und massive Weise. Es ist logisch, dass an dieser Stelle ein Leid ensteht und bleibt (auch wenn man es nicht sieht). Wo soll es denn sonst hin? Und es ist unlogisch zu glauben, es würde sich über die Jahre von selbst in Luft auflösen („Zeit heilt alle Wunden“). Noch unlogischer ist es, davon auszugehen, dass vielzählige Traumata den Menschen besonders widerstandsfähig werden lassen- nach dem Motto: „Je öfter, desto dissoziativer, desto abgehärteter.“ (oder auch: “Die Gewalt hat mich stark gemacht.“)

Am Leben geblieben zu sein, ist kein Beweis für lebendig sein!

„Es“ darf weh tun. Es darf sein, dass du dich nicht mehr wieder einkriegst. Du darfst etwas „nicht können“. Du musst nicht mithalten, gleichziehen oder „immer besser werden“. Du darfst untröstlich sein. Dein Körper darf „schwächeln“ und zeigen, wo und wie die Gewalt ihm begegnet ist. Das Leid ist und war real und existent und bedeutsam!

Wenn dich jemand zu beruhigen, zu trösten, zu ermutigen versucht und du merkst, dass es dich nicht berührt, dir nicht hilft, dir unangenehm oder lästig ist, dann darfst du dich abwenden. Du hast das Recht, dich nicht unterstützen zu lassen und nicht die Pflicht, „dankbar für alles zu sein“. Du hast das Recht, deine Meinung und Haltung immer wieder zu verändern, Dich zu verändern.

Die Definition von „Heilung“ oder „Genesung“ gehört allein dir. Was andere Menschen unter einer „Verarbeitung“ verstehen, oder wie für sie eine „Überwindung des Erlebten“ aussieht, ist kein Maßstab, nach dem du dich richten musst.

Das Leben nach langjähriger Gewalt und mit deren Folgen ist nicht einfach in ein „Davor“ und „Danach“ einsortierbar. Ich glaube nicht, dass wir irgendwann „fertig“ sind und ich erlebe unseren Weg nicht als „geradeaus“. Unser Damals und unser Heute begegnen sich in/an Schlenkern, Umwegen, Kreuzungen, Haltepunkten.

Ich erwarte nicht, dass unsere gewaltgeprägten Lebensjahre irgendwann „keine Rolle mehr spielen“. Ich hoffe, wir erhalten uns unsere Berührbarkeit und Verletzlichkeit, unsere Tränen inklusive Rotz, unseren Zorn und unsere ureigene „Hässlichkeit“- denn all das hat gute Gründe, Berechtigung und Geschichte!

Wir haben den Kontakt mit diesen Bruchstellen über viele Jahre wachsen lassen und sie gehören genauso zu uns, wie unser Durchhaltevermögen, unsere Lebensverbundenheit, unser „Ganzgebliebenes“. Ohne die Bereitschaft, Leid wahrzunehmen und es zuzulassen, dass uns immer wieder „das Herz bricht“, wären wir zwar weiterhin am Leben, aber eben nicht lebendig.

Trauma und Erinnerungen

Im Umgang mit traumatischen Erinnerungen kann es unterschiedliche Impulse im Innern geben: Zum Beispiel die des Vermeidens und die des Erinnern-Wollens.

Einzelne Persönlichkeiten können auf ihre Weise zu beiden Impulsen beitragen. Vielleicht geht es um Schutz vor Überflutung, um Angst vor dem Schmerz, um Aufrechterhaltung einer Stabilität, um Festklammern am Abgrund.

Und vielleicht ist da gleichzeitig der Wunsch, etwas verstehen und begreifen zu wollen, etwas zu sortieren und zu klären, die gemeinsame Biographie genauer zu beleuchten.

Wie lassen sich die beiden Impulse unter einen Hut bringen? Gar nicht? Geht es eventuell nur darum, beide als existent anzuerkennen und nebeneinander stehenzulassen? Wie kann es weitergehen, wenn es im Innern so sehr schwankt zwischen Weg- und Hinschauen, Verschleiern und Auflösen? Sind diese Ambivalenzen vielleicht sogar sehr hilfreich, weil sie ein Pendeln ermöglichen zwischen Konfrontation und Beruhigung/Erholung?

Die Erinnerungen an Traumata können lange phobisch besetzt sein. Zerstückelte Fragmente, zerrissene Wahrnehmungen; nichts, was irgendwie in einen verstehbaren Kontext gebracht werden kann. Es erwischt dich von jetzt auf gleich, reißt dich mit, frisst dich und kotzt dich dann wieder aus. Ziemlich logisch, dass man solche Erinnerungsmomente vermeiden will.

Erinnerungen an Traumata können aber auch sehr wertvoll und heilsam sein. Dann, wenn sich die quälende Amnesie auflöst und sich im Innern verteilte Stückchen zusammensetzen. Wenn sich ein Rahmen um das Ganze bildet, die Vergangenheit zu einem Teil des „Ich´s“ wird und somit keine „Nebelzeit“ mehr bleiben muss.

Die Gefühle können oftmals der Knackpunkt sein. Da entscheidet sich häufig, ob etwas oder jemand wieder innerlich wegbricht, oder ob der Prozess weitergehen kann.

Darf der Schmerz von damals heute (noch mal oder erstmals) kommen und wahrgenommen werden? Dürfen Unterschiede erkannt werden zwischen gestern und heute? Dürfen die alten Gefühle sich jetzt verändern?

War früher eigentlich überhaupt jemals Schmerz da? Oder gab es nur den Moment des traumatischen Entsetzens und gleich darauf die rettende Dissoziation? Was wird heute gefühlt, wenn man sich an früher erinnert? Ist es okay, auf emotionale Spurensuche zu gehen und behutsam hinzufühlen, was sich im Innern regt?

Werden Gefühle innerlich bewertet? Ist etwas erlaubt oder verboten, falsch oder richtig, angemessen oder unangemessen, lächerlich, überflüssig, sinnlos, kindisch, übertrieben, o.a.? Wer äußert sich wie dazu? Tragen einzelne Persönlichkeiten „die volle Ladung“? Dürfen sie sich erleichtern (lassen)? Was ist, wenn Emotionen eine „gemeinsame Angelegenheit“ werden?

Wie geht man mit neu erinnerten Aspekten um? Was ist, wenn sich ein Rätsel lösen lässt? Gibt es Fragen, die besser (noch) nicht beantwortet werden sollten? Wer beeinflusst auf welche Weise das Timing?

Wie viel Erinnerungsnachweh darf im Alltag Platz haben? Ist Erschöpfung gestattet? Bekommt auch der Körper Unterstützung, wenn er sich auf seine Art erinnert?

Wie können Gefühle einen Weg nach außen finden? Sind Tränen okay? Wohin mit der Wut? Was ist, wenn Worte fehlen? Stockt es genau dort, wo es kein Ventil gibt? Unterbricht der Prozess an der Stelle, wo man (sich) wieder alleine mit all dem ist/fühlt?

Hindurchquälen. Die Zähne zusammenbeißen. Augen zu und durch. Tapfer sein. Lächeln. Aufrecht stehenbleiben. Weitergehen. Sich nichts anmerken lassen.“ Wo wird nach alten Überzeugungen und Konditionierungen gehandelt? Wird das als Selbstverletzung erkannt? Lohnt sich die ganze Traumakonfrontation (der Blick auf das, was war), wenn im Verlauf immer wieder alte Mechanismen greifen und man letztlich im Sumpf steckenbleibt? Ist das Ziel der Arbeit Erleichterung oder Verhärtung- oder was?

So viele Fragen.

So großartig, wenn man damit nicht alleine bleiben muss. Weder innerlich, noch äußerlich.

Strukturelle Dissoziation- oder: Wenn die Dissoziative Identitätsstruktur mystifiziert wird

“Akzeptanz und Anerkennung bedeutet auch “auf Augenhöhe miteinander sein“.

Uns Betroffene abzuwerten, uns auf unser “Leid“ oder unseren Hilfebedarf zu reduzieren, ist das Gegenteil davon.

Uns zu überhöhen oder zu mystifizieren, als “Heldinnen und Helden“ zu stilisieren, ist die andere Seite der Medaille und genauso jenseits von Augenhöhe.“

Dies habe ich unter anderem auf einem Fachtag zu komplexen Gewalterfahrungen in meinem Vortrag zum Leben mit Dissoziation gesagt.

Ich sehe, dass Diskriminierung immer wieder vor allem mit dem in Verbindung gebracht wird, was Menschen aufgrund ihres Soseins abwertet und ausgrenzt. Jene Aspekte, die deshalb überhöhen oder mystifzieren, werden als Diskriminierung oft gar nicht anerkannt. Beides sorgt aber für Exklusion. Zwei Seiten einer Medaille, die zur Sammlung “Strukturelle/Gesellschaftliche Dissoziation“ gehört.

Manchmal begegnen uns “Komplimente“, die wir nicht als solche empfinden (Ableismus): Zur Funktionalität, zum “kaum Auffallen“, zum “Schaffen und Können“, trotz allem; vielleicht sogar mit der “Erklärung“, die Gewalterfahrungen hätten uns (bzw. Betroffene generell) “stark gemacht“.

Gewalt zu überleben und (danach) weiterzuleben, so etwas wie Glück, Zufriedenheit und Unbeschwertheit spüren zu können – das wirkt vielleicht manchmal unvorstellbar, angesichts des Leids, das da auch (!) war oder ist. Und diese dissoziative Identitätsstruktur mag wie eine Überlebenskunst erscheinen, die man ja auch erst mal hinkriegen muss und überhaupt…

Wir sehen uns aber nicht in so einer “heldenhaften Survivor-Rolle“, sondern einfach als “einen Menschen, der Gewalt ausgesetzt war und sie überlebte, indem er trauma-typische psychologische und physiologische Mechanismen an den Tag legte“. Anerkennung ist weder für Funktionalität, noch für Stärke oder Tapferkeit angebracht, finden wir. Für die Entscheidung, die erlebte Gewalt nicht nach außen weiterzugeben, kein*e Täter*innen (mehr) zu sein, hingegen schon.

Eine dissoziative Identitätsstruktur zu entwickeln, ist in erster Linie ein Anpassungsmechanismus. Ja, auch kreativ und so- aber eben kein superspecial “Kunstgriff“, den nur besonders “Begabte“ können, sondern etwas, das logischerweise passiert, wenn man früh genug intensiv genug misshandelt wird. Und ja, auch dann, wenn man einer gezielten Bewusstseinskontrolle ausgesetzt war und in dem Zusammenhang eine DIS gezielt von Tätern und Täterinnen forciert wurde: Das, was im Gehirn passierte, war ein Anpassungsmechanismus, keine übermenschliche Cleverness oder “bewusste Entscheidung zur Lebensrettung“. Erst Recht war es kein “Meisterwerk der Täter*innenschaft“- sorry, aber Konditionierung (und nichts anderes ist mind control / Bewusstseinskontrolle / Gehirnwäsche, wie auch immer man es bezeichnen will) ist eine dermaßen simple “Wissenschaft“, wenn man die Basics kapiert hat. Die Ausführung kann in ihren Varianten durchaus von “sehr einfach/übersichtlich“ bis “ziemlich komplex“ gestaltet sein, genauso wie die Dissoziative Identitätsstruktur an sich- die Basis bleibt jedoch: Komplextrauma trifft auf Mensch und hinterlässt Spuren.

Mag sein, dass diese Formulierung irgendwie enttäuscht, ernüchtert oder manche verärgert- ich finde es aber ganz wichtig, auf diese Weise einer Mystifizierung (die den Täter*innen dient!) entgegen zu wirken.

Denn eine Dissoziative Identitätsstruktur als etwas zu bezeichnen oder anzusehen, das besonders exotisch, besonders kompliziert oder besonders schwer zu diagnostizieren, behandeln oder zu begleiten ist, schadet den Betroffenen massiv.

Eine DIS hat klare Diagnosekriterien und -standards. Die Therapie kann idealerweise traumatherapeutisch ausgelegt sein- muss sie meiner Ansicht nach aber nicht zwingend, denn: Was/Wer hilft, hilft halt. Der/Die Betroffene selbst kann und sollte entscheiden, was er/sie als unterstützend erlebt und welchen Weg er/sie gehen möchte. Wer oder was dabei begleitet und stärkt, ist individuell verschieden.

Wenn ein Mensch meint, bei ihm/ihr könnte eine DIS vorliegen und möchte das professionell untersuchen lassen, ist es nicht leicht, zeitnah einen fachlich kompetenten Diagnostikplatz zu finden. Kliniken mit psychotraumatologischem Fokus haben absurd hohe Wartezeiten (durchschnittlich 2-4 Jahre), ambulante Psychotherapeut*innen verweisen meistens an Psychiater*innen- die wiederum wenig Zeit und Raum haben und nicht selten zu Diagnostikzwecken die stationäre Aufnahme empfehlen. Wer schon mal etwas Zeit in einer (Akut-)Psychiatrie verbracht hat, kann sich vorstellen, wie (häufig) dort welche Diagnosen warum “verteilt“ werden.

“Mit DIS kenne ich mich nicht aus. Da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen.“- Das ist ein Satz, den viele Betroffene (oft) hören. Und ich denke, dass er auch (!) damit zu tun hat, wie und in welchem Ausmaß eine DIS mystifiziert wird. Als sei sie sozusagen der “worst case unter den psychischen Erkrankungen“, für den man doppelt und dreifach ausgebildet sein muss, bevor man überhaupt daran denken kann, Hilfe anzubieten. Und dann noch der “Gewalthintergrund“- auch hier findet so häufig “worst case“-Denken statt: DIS und organisierte und/oder rituelle Gewalt werden in Kausalität gesetzt, statt erst mal offen zu lassen, welche Art Komplextrauma der DIS zugrunde liegen könnte. Gewalterfahrungen haben eine große Bandbreite; es gibt viele Menschen, die eine DIS außerhalb (!) organisierter oder ritueller Strukturen entwickelten und die auch keine Konditionierungserfahrungen haben. Man holt sich also nicht zwangsläufig organisierte Gewalt ins Haus (in die Praxis), wenn man mit Menschen mit DIS arbeitet.

Nicht zu mystifizieren und nicht zu dramatisieren bedeutet, Ruhe zu bewahren. Gelassen zu bleiben.

Nicht „mitgefühlslos“ und nicht naiv oder verharmlosend!

Wenn man merkt und weiß, dass man keine Ahnung von Komplextrauma und dessen möglichen Folgen hat, sollte man auch nicht einfach mal “auf gut Glück herumprobieren“ und erst recht kein Diagnosebingo spielen. So können nämlich sowohl falsch-positive, als auch falsch-negative DIS-Diagnosen entstehen, die den Betroffenen in jeder Hinsicht schaden.

Es ist so wichtig, eine realistische Einschätzung zu eigenen Fähigkeiten und Grenzen zu haben, sowohl auf der fachlichen, als auch auf der persönlichen Ebene. Man kann fachlich top (ausgebildet) sein, menschlich/charakterlich aber völlig ungeeignet für die (Beziehungs-)Arbeit mit traumatisierten Menschen. Das zu reflektieren, anzuerkennen und dementsprechend konsequent zu sein, fällt sicher nicht leicht, hat aber etwas mit Verantwortungsbewusstsein zu tun.

Festzustellen, dass man zwar menschlich/charakterlich “passend“ wäre, aber fachlich noch nicht genügend weiß und kann, ist leichter zu handhaben: Lernen kann man an verschiedenen Stellen und Orten und es gibt tatsächlich viele wertvolle Angebote in dem Zusammenhang.

Sich als Therapeut*in oder Institution zu entscheiden, nicht mit Menschen mit DIS zu arbeiten, weil man keine Kapazitäten dafür hat, ist legitim. Es braucht häufig viel Zeit, es geht häufig auch um Langzeitbegleitungen, es gibt teilweise heftige Krisen, manchmal geht es auch um eine Ausstiegsbegleitung aus organisierten Strukturen- all das sind Aspekte, die den Kapazitätsfaktor betreffen können (aber nicht zwangsläufig müssen). DIS ist aber nicht immer “hoch komplex“, spooky, gruselig oder in Dauerkrise.

Die eigenen Möglichkeiten realistisch einzuschätzen, bevor man einem Menschen ein Hilfsangebot macht, ist nur fair.

Sich als Therapeut*in oder Institution zu entscheiden, Menschen mit DIS abzuweisen, weil man ein bestimmtes Bild zur Dissoziativen Identitätsstruktur entwickelt hat und nicht bereit ist, es zu überprüfen, ist ekelhaft bequem.

“Auf Augenhöhe sein“, tja. Das ist nichts, was einseitig nur die Betroffenen fordern können, ohne selbst etwas dafür tun zu müssen. Es bedeutet auch, sich der eigenen Angst zu stellen, sich “unbeliebt“ zu machen. Und es bedeutet, auf eigene, internalisierte Diskriminierung schauen zu müssen. Das kann ordentlich weh tun und ist eine echte Herausforderung an die Ehrlichkeit mit sich selbst.

Wie gehen wir nach außen? Was zeigen, präsentieren wir von uns? Wie möchten wir (an-)gesehen werden?

Was macht eine “Community“ aus und was verbindet uns darin (Das Leid? Das Überleben? Was sonst/noch?)?

Wo geben wir der Mystifizierung Futter und warum?

Wie gehen wir mit eigenen Unsicherheiten um und wo/wie suchen wir uns (Be-)Stärkung?

Was an der Augenhöhe macht uns Angst? Wo arbeiten wir evt. unbewusst dagegen an?

Wo/wie beschaffen wir uns Informationen?

Welche Vorbilder haben wir, wer/was dient als “Leitbild“ und was/wen lehnen wir (warum) ab?

Welche Haltung(en) haben wir selbst zur DIS?

Womit identifizieren wir uns, wenn wir identitätsunsicher sind?

Strukturelle Dissoziation findet nicht nur in den gewalttraumatisierten Menschen statt, sondern in der Gesellschaft, zu der wir alle gehören.

“Welches Bild von Opferschaft existiert in unseren Köpfen?

Welches Bild von Täter*innenschaft?

Was wird sozial belohnt und was sanktioniert?

Wie wollen wir eigentlich alle miteinander leben und was sind wir bereit, dafür zu tun, zu überdenken, zu verändern?“

Ausstieg und Todesangst

Organisierte und/oder rituelle Gewaltstrukturen (ver-)binden.

So schlimm zerstörerisch sie auch sind, so viele gute, lebenswichtige Gründe es auch gegen (!) sie gibt – gleichzeitig sind sie unvergleichlich “zuverlässig“ und “haltend“.

Ihre Regeln, Hierarchien, Gebote und Verbote sind klar und eindeutig; Verhandlungsspielräume sind meistens nicht vorhanden. Es hat Vorteile, wenn man die gruppeninterne Logik verstanden und verinnerlicht hat.

In all dem Schrecklichen kann es ein Zuhausegefühl geben, ein Gehaltensein und sogar eine Art Lebensversicherungsempfinden:

“So lange ich brav bin und bleibe, kann mir nichts passieren.“ – Außer der Gewalt, die man eh schon seit Jahrzehnten kennt und die quasi gar nicht zählt.

Sich dafür zu entscheiden, diese Gewaltstrukturen zu verlassen, zu flüchten, gruppeninterne Beziehungen zu beenden ist deshalb unvergleichlich schwer und unbeschreiblich mutig, weil man erst mal ins Nichts fällt. Irgendetwas in einem vollzieht einen Sprung ins Leere, weil es nötig ist und so wichtige Gründe dafür gibt – und dabei taucht unweigerlich die Todesangst auf. Jene, die zuvor in Gewaltsituationen vielleicht auch schon spürbar war, aber immer wieder dissoziiert wurde – und die jetzt, beim Sprung ins Leere, mit voller Wucht präsent sein kann.

Sich in “körperliche Sicherheit“ zu bringen und dafür alte, langjährige Verbindungen kappen zu müssen, ohne vergleichbaren Halt oder klare Strukturen zur Verfügung zu haben – das ist oft mit einem viel größeren Leidensdruck (=Todesangst) verbunden, als die Gewalt innerhalb der Gruppe weiter auszuhalten- selbst wenn diese Gewalt konkret lebensgefährdend sein kann.

Dieses Fallen ins Nichts, mit existenzieller Angst, quasi dem Gefühl, sich aufzulösen außerhalb der Gruppierung – und gleichzeitig dem Wissen, dass es nicht (mehr) anders geht, weil “Drinbleiben“ keine Option mehr ist… Das ist ein unbeschreibliches inneres Dilemma und an Anspannung, Druck und Stress kaum zu überbieten.

Beruflich und privat Unterstützende sollten das auf dem Zettel haben, wenn sie sich fragen, warum Betroffene sich mit der Entscheidung zum Ausstieg so schwer tun oder es immer wieder “Rückschläge“ gibt…

Im Kontakt mit anderen Menschen ist das Vielesein…

„… ganz nützlich. Wenn´s zu viel wird, wechseln wir uns ab. So denken doch manche Leute über DIS, oder? Ist ja auch Konfliktprävention, wenn Streit in der Luft liegt, kommt einfach jemand Unbeteiligtes und deeskaliert. Haha, wenn´s mal so einfach wäre! Und das Gegenüber wird nicht überfordert, solange wir einfach nur unter der Tarnkappe vor uns hin switchen. Ist das jetzt wunderbar plakativ formuliert?“

„… bereichernd. Man knüpft einzelne Verbindungen, das Gegenüber kann einen ganzen Freundeskreis geschenkt bekommen. Man kann viel Spaß zusammen haben und viel Berührendes erleben. Und man lernt Toleranz, Geduld, Herzöffnung, Mutigsein und sowas alles. Also, beide Seiten lernen das.“

„… für mich überhaupt kein Thema. Es spielt keine Rolle, weil es selten bemerkt wird. Wir regeln uns selbst und müssen nichts davon nach außen kommunizieren. Ich kann nur Kontakte aushalten, in denen die DIS nicht geoutet ist.“

„… eine Behinderung. Meistens kommt das Gegenüber auf Dauer nicht mit uns klar, oder nur mit einer Handvoll unkomplizierter, netter, sozialkompatibler Innenpersonen. Wir müssen uns immer verstecken, wenn wir Beziehungen halten wollen. Sobald man mehr von uns mitbekommt, gehen Kontakte kaputt. Ab einem bestimmten Punkt werden wir zu viel.“

„… nicht das Problem. Es ist die Gewalt im Hintergrund, die unser Gegenüber nicht realisieren und mit uns in Verbindung bringen kann oder will. Unsere Biographie ist die Bruchstelle in Kontakten.“

„… oft so ein Faszinationsding. Sobald das Thema auf den Tisch kommt, gibt´s nichts anderes mehr daneben. Dann sind wir nur noch die Vielen. Sonst nichts. Was soll das?“

„… unser persönlicher Pausenknopf.“

„… eine Erklärung dafür, warum manches so krass irritiert.“

„… unser verletzlichster, wundester Punkt.“

„… gut versteckt.“

„… das langweiligste Thema, was es im Gespräch geben kann.“

„… unsere unverzichtbare Rettung vor dem Overload.“

„… Ursache und Wirkung zugleich, was Auseinandersetzungen, Ängste, Dynamiken angeht.“

„… für mich oft mit der Frage verbunden, ob es so gut oder so schlecht miteinander läuft, obwohl oder gerade weil eine DIS vorliegt.“

„… eben nur ein Teil von etwas.“

„… ein Grund dafür, warum es so lange dauert, Vertrauen zu spüren und zu festigen und warum Bindung so fragil ist.“

„… häufig ein Punkt, an dem ich mich absolut unverstanden und ungesehen fühle.“

„… oft damit verbunden, dass ich mich vergessen fühle, weil andere Innenpersonen mehr im Außen aktiv und erkennbar sind als ich.“

„…“

Und wie ist das für Dich/Euch?

Trigger sind nicht „typisch“.

Sie geht ihren gewohnten Weg nach Hause. Es ist bereits dämmerig. Auf Höhe der alten Kneipe steht ein großer, kräftiger Mann. Er ist breitschultrig, hat einen prallen Bauch und trägt eine Jeans und eine abgewetzte Lederjacke aus den 80er Jahren. Könnte das einer von diesen Biker-Typen sein? Sie senkt den Blick, als sie direkt an ihm vorbeigeht: Sich unsichtbar machen. Nichts riskieren. Gar nicht da sein, damit man auch nicht angegriffen werden kann. Unansprechbar wirken.

Er tut nichts. Er pfeift, ruft, pöbelt oder grapscht nicht.

Er steht nur da, imposant wie Bud Spencer. Er lacht leise und scheint mit jemandem zu telefonieren.

Die Gefahr ist wohl gebannt, denkt sie, als sie wahrnehmen kann, dass sie ihn einfach so passieren kann.

Und dann packt es sie doch:

Sie macht drei, vier Schritte weiter vorwärts- und der Geruch weht ihr in die Nase.

Das, was sie umhaut, sind nicht seine Fäuste, keine Worte oder Gesten.

Das, was sie zu Hause schließlich zum Kotzen bringt, ist der überraschende und penetrante Waschmittelgeruch, der den Mann umhüllt wie eine Giftwolke.

Diesen Angriff auf ihr traumatisiertes Gehirn konnte sie nicht ahnen, als sie ihn aus der Entfernung erblickt hatte.

Es ist nicht immer die mögliche Gefahrensituation (allein, in der Dunkelheit, potentieller Angreifer) als solche, die Erinnerungen an erlebte Gewalt aktivieren kann. Es gibt meiner Erfahrung nach keine „typischen Trigger“, die man auf einer Liste der „kritischen Dinge für Menschen mit organisierten, sexualisierten / rituellen Gewalterfahrungen“ zusammenfassen könnte- und die immer gleichermaßen „wirken“.

Ob ein Reiz als Auslösereiz für belastende Empfindungen und/oder Erinnerungen wirkt, hängt u.a. vom Kontext, von der Tagesform und der Wahrnehmungsfähigkeit ab. Mal löst ein bestimmter Gegenstand einen Flashback aus, mal kann er neutral betrachtet werden. Mal ist ein Spaziergang bei Nacht ohne emotionale Spannung möglich, mal ruft allein der Gedanke daran Panik hervor.

Alles (!) kann Erinnerungen an erlebte Gewalt und/oder den Kontext aktivieren: Geräusche, Gerüche, Gesten, Mimik, Erlebnisse, Worte, Beziehungsdynamiken, Bewegungen, usw. Nicht immer reagiert ein*e Betroffene*r so, dass sie/er desorientiert und völlig im damaligen Geschehen gefangen ist. Es gibt auch die „stillen“ Triggermomente, in denen z.B. Körpersymptome, alte/automatisierte Denk-, Fühl-, oder Verhaltensmuster ausgelöst werden, die nach außen und evtl. auch für den/die Betroffene*n selbst zunächst nicht sichtbar/identifizierbar sind.

In keinem Fall sagt die Wirksamkeit eines Triggers etwas über die „Glaubhaftigkeit“ der/des Betroffenen aus. Krisenhafte Reaktionen auf Hakenkreuze, Jesusbildchen, esoterische Symbole oder was-weiß-ich, lassen nicht automatisch auf einen „rituellen Background“ schließen- und eine eigene Vorliebe für schwarze Kapuzenpullis, Buddha-Figürchen, Erotikfilme oder wie-auch-immer schließt ihn nicht aus!

Menschen, die komplexe Gewalterfahrungen gemacht haben, sind völlig verschieden und leiden unter verschiedenen, individuellen Folgen- weil sie eben Menschen sind.

Vom Einen auf das Andere zu schließen, Schubladen zu bedienen und weder inhaltlich, noch begrifflich zu differenzieren, führt zu Falschinformationen und Diskriminierungen.

Und wer profitiert davon (an der never ending story der Glaubhaftigkeitsfrage)?

Sie sitzt erschöpft auf dem Sofa. Das Kotzen ist vorbei, ein paar Tränen konnten fließen und durch die geöffneten Fenster strömt frische Luft.

Heute hat „laute Musik und den Körper dazu ausschütteln“ geholfen.

Beim letzten Mal waren es die Hängematte und Rescuetropfen.

Beim nächsten Mal könnte es wieder etwas anderes sein.

…wenn wieder öffentlich getreten wird…

Mich wundert es nicht, dass das Thema “rituelle Gewalt“ medial ein gefundenes Fressen darstellt – und zwar auch für Unterhaltungsformate wie “ZDF Magazin Royale“.

In der aktuellen Sendung zerlegt Böhmermann mit Genuss das Narrativ der “Satanischen Weltverschwörung“, verteilt dabei auch Riesenklatschen gegen Überlebende ritueller Gewalt- jenen, von denen übrigens viele schon lange darauf hinweisen, wie schädlich der Fokus auf Satanismus im Zusammenhang mit organisierter Ausbeutung ist.

Jenen, die immer wieder die Leidtragenden sind, weil öffentliche, wissenschaftliche Statements und Diskussionsbereitschaft in der “Psychotraumatolog*innen-Szene“ oft erst (zu) spät, gar nicht, oder schlecht gestaltet kommen.

Betroffenen ist nicht geholfen, wenn “Helfer*innen“ sich gegen Selbstreflektion sperren.

Betroffenen ist auch nicht geholfen, wenn bestimmte Argumentationsketten mit viel Bauchgefühlinhalten immer wiederholt, aber nicht fundiert untermauert werden.

False Memory, satanic panic und Co funktionieren deshalb medial so gut, weil sie so simpel strukturiert und so einfach zu konsumieren sind.

Und weil sie genau wissen, an welchen Schwachstellen sie ansetzen können. Davon gibt es einige!

Innenkinder, innere Kinder und die Unterschiede

Ich denke wieder darüber nach, wie wichtig es ist, dass Menschen, die mit einem Viele-System enger in Verbindung stehen, wirklich begreifen, dass ein Innenkind bei DIS nicht dasselbe ist wie ein sogenanntes „inneres Kind“.

Wie tiefgreifend verletzend und erschütternd sind die Momente, in denen diese Innenkinder damit konfrontiert werden, dass ihr Gegenüber sie als „Erwachsene, die denken, sie seien Kinder“ (oder schlimmer noch: „Erwachsene, die sich wie Kinder verhalten“) einsortiert und entsprechend behandelt.

Diese Persönlichkeiten sind und reagieren an verschiedenen Stellen anders, als „Außenkinder“, sie haben einen anderen Erlebens- und Entwicklungshintergrund, schöpfen auch aus einem gesamtsystemischen „Wissens- und Erfahrungspool“. Oftmals wirken sie erwachsener als biologische Fünf-, Sechs-, Siebenjährige, sind reflektierter, tragen/übernehmen mehr Verantwortung im Leben, als es Außenkinder tun.

Trotzdem darf nicht vergessen werden, dass sie sowohl emotional, als auch kognitiv grundsätzlich ja altersgemäß strukturiert sind- und dass es für das Gesamtsystem sehr heilsam sein kann, wenn dies auch zugelassen und ernstgenommen werden darf. Innenkinder, die lernen zu spielen, Quatsch zu machen, albern und laut zu sein, Wünsche zu äußern, unvernünftig zu sein, Beziehungen mit liebevollen Außenpersonen zu entwickeln, u.a. können einen unbeschreiblich wertvollen Schatz darstellen, den man auf dem Trauma“heilungs“weg finden kann.

Die Theorie, dass jeder Mensch ein sogenanntes „inneres Kind“ hat, trifft meiner Ansicht nach auch auf Menschen mit dissoziativer Identität zu: Die Persönlichkeiten können mehr oder weniger Zugang haben zu ihren jeweils eigenen kindlichen Wünschen, Ängsten, Bedürfnissen, Gefühlen. Und sie erleben dies als zu sich selbst gehörig, sozusagen „myself in mini“. Innenkinder hingegen werden als eigenständige Persönlichkeiten wahrgenommen, als eigene Charaktere, unabhängig von der „großen Person XY“. Und es kann weitaus massivere Blockaden bei der Kontaktaufnahme, Fürsorge, Verbindung geben, als wenn man sich seinen eigenen kindlichen Bedürfnissen zuwenden würde.

Damit Innenkinder nachreifen, wachsen, altern oder vor allem Traumata verarbeiten können, brauchen sie nach unserer Erfahrung vor allem positive Bindungserfahrungen. Natürlich ist es langfristig wichtig, dass diese im Innern hergestellt und gehalten werden können (die Erwachsenen kümmern sich zuverlässig um die Kinder). So etwas kann aber nicht spontan aus dem Ärmel geschüttelt werden, denn auch die „Großen“ im System müssen noch „nachlernen“. Woher sollen sie wissen, wie solche Bindungen gehen, wenn sie ziemlich haltlos in einer gewaltvollen Umgebung aufgewachsen sind? Deshalb sind Kontakte lebensnotwendig, in denen gespiegelt werden kann: Wie sieht Fürsorge aus? Wie ist das, wenn jemand zuverlässig und ehrlich an unserer Seite ist und bleibt? Wie hört man aufmerksam zu? Wie zeigt man Herzlichkeit? Wie geht Kommunikation mit einem Kind? etc.

Wenn es ein Gegenüber gibt, das bereit ist, eine Beziehung zu einem Innenkind aufzubauen und dieses als solches auch bedingungslos ernst und wichtig zu nehmen, können auch erwachsene Innenpersonen von diesem Positivbeispiel sehr profitieren. Manches kann nicht ohne Außenunterstützung entwickelt werden.

Es lohnt sich, sich für neue, gute Verbindungen im Innern und im Außen einzusetzen. Häufig haben Innenkinder sehr wertvolle Ideen, Anregungen, Fragen dazu, wie das gelingen kann- und ein bemerkenswertes Bauchgefühl dazu, wer vertrauenswürdig ist und wer nicht.

Innenkinder sind und fühlen verschieden. Sowohl innerhalb eines Vielesystems, als auch ganz generell im Konzept der Dissoziativen Identitätsstruktur. Es ist wichtig, individuell zu schauen, wer wie “ist“ und wer was braucht, statt von einem auf’s andere zu schließen. Manche Innenkinder wollen oder dürfen aus guten Gründen nicht in direkten Kontakt mit Außenmenschen gehen – das muss nicht immer etwas Gewaltvolles, Verbietendes sein, sondern kann auch Ausdruck einer Selbstfürsorge und einer Sicherung im Innen sein. In diesem Fall wäre es nicht hilfreich, wenn Außenpersonen immer wieder versuchen würden, diese Grenze zu überschreiten, in der Annahme, sie täten jenen Innenkindern und dem Gesamtsystem etwas Gutes.

Im Kontakt mit einem Viele-Menschen selbst eine gute, eigenverantwortliche Beziehung zum eigenen “inneren Kind“ zu haben, ist wichtig und unterstützend. Leicht kann eine destruktive Dynamik entstehen, bei der z.B. kindliche (oder auch ältere) Persönlichkeiten des DIS-Systems auf (unterdrückte, negierte) kindliche Bedürfnisse eines “Unos“ (Mensch ohne DIS) reagieren und in einen “Versorgungsautomatismus“ geraten. Hieraus können Verantwortungsverschiebungen entstehen, die beiden Seiten nicht gut tun. Und auch hier ist es wieder (besonders) wichtig, ein Bewusstsein dafür zu haben, dass wir eben nicht alle ein bisschen “Viele“ sind, sondern die Dissoziative Identitätsstruktur sich klar von einem “Anteilekonzept“ bei nicht traumatisierten Menschen unterscheidet.

2. Vernetzungstreffen DIS

Nach einem tollen, bunten, vielfältigen ersten Vernetzungstreffen im Juni gibt es nun einen nächsten Termin:

20.Oktober 2023

13-16 Uhr

BELLA DONNA HAUS, Bad Oldesloe

Herzlich eingeladen sind Menschen mit DIS (auch pDIS), An- und Zugehörige, privat und beruflich Unterstützende!

Anmeldungen sind erforderlich; bitte mit Angaben zum eigenen Bezug zu DIS:

vernetzung – dis @ gmx . de (ohne Leerzeichen)

Wir freuen uns auf Euch!

Menschen in dissoziativen Zuständen begegnen

Dissoziation hat viele Gesichter und Ausprägungen:

Amnesien und „Vergesslichkeiten“, Körperwahrnehmungsstörungen, Lähmungserscheinungen ohne körperliche Ursache, innere Abwesenheit, „Black-outs“, nicht mehr ansprechbar sein, nicht hören/sehen/sprechen können, Persönlichkeitswechsel, u.a.

Im Kontakt mit anderen Menschen können diese Phänomene zu Irritationen und Konflikten führen. Nicht immer erfahren Betroffene dann Verständnis, Geduld und Rücksichtnahme. Manchmal reagiert das Gegenüber auch “genervt“, eventuell (unterschwellig) aggressiv-überfordert.

Kurz vor der Abfahrt in den Urlaub, auf dem Weg zum Bahnhof, auf dem Standesamt, bei der Führerscheinprüfung, an der vollen Supermarktkasse, beim Babysitten, auf einer Party, beim Geburtstagskaffee mit Gästen, während des Sex, zwischen engen Terminen, etc.:

Es gibt einfach Situationen, in denen dissoziative Zustände ganz besonders ungünstig schwierig zu händeln sind und wo Begleiter*innen vielleicht denken: „Oh nein, bitte nicht ausgerechnet jetzt!“ Wir können Gefühle wie Hilflosigkeit, Ungeduld, Stress und Schreck in dem Zusammenhang gut verstehen und auch nachvollziehen, dass daraus manchmal Aggression erwachsen kann.

Beruflich Helfende sollten besonders gut reflektieren und achtgeben, wie sich ihre eigenen inneren und äußeren Reaktionen darstellen. Sie haben noch mal eine andere Verantwortung und andere Aufgaben, als Freund*innen, Partner*innen, u.a.

Wir (und viele andere Betroffene) kennen es, von Erzieher*innen, Sozialpädagogen*innen, Therapeuten*innen, Ärzt*innen und anderen Akteur*innen des “Hilfesystems“ für dissoziative Symptomatiken sanktioniert zu werden; wir kennen wütende, lautstarke Aufforderungen zum „Wechseln zu Person XY“, körperliche (teils rabiate) Einwirkungen, um uns „wieder im Hier und Jetzt zu orientieren“, u.a. So etwas ist in unseren Augen unprofessionell und gewaltvoll.

Wir möchten ein paar Worte an An-/Zugehörige und private Begleiter*innen richten:

Wenn du merkst, dass du wütend wirst, weil es dir gerade überhaupt nicht passt, dass dein Gegenüber nicht mehr sprechen, gehen oder reagieren kann, nimm bitte zumindest einen Moment Abstand von ihm/ihr.

Sorge dafür, dass du dich beruhigen kannst, bevor du wieder in Kontakt gehst. Deine Wut kann irgendwo innen im Gegenüber ankommen, auch wenn sie/er noch so weit weg erscheint. Und das kann es schwerer machen, wieder aus der Dissoziation herauszufinden.

Es hilft nicht, wenn du ruppig wirst. Lautes Ansprechen, schütteln, anschubsen, fingerschnippen, klatschen, rufen, o.a. sind häufig keine nützlichen Außenreize zur Reorientierung. Besonders leise, beinahe einschläfernd murmeln oder flüstern, flatterzart streicheln, singen oder summen meist ebensowenig.

Wenn dir der Gedanke kommt, dein Gegenüber würde dissoziative Zustände absichtlich herbeiführen oder manipulativ einsetzen, reflektiere bitte deine Haltung. Dissoziation geht mit Kontrollverlust einher – wirkt ein Verhalten jedoch “gesteuert“, gibt es gute Gründe für Zweifel. Aber es sind zunächst mal deine (!) Zweifel, die du in Ruhe für dich näher beleuchten und später ggf. kommunizieren kannst. In der aktuellen Situation geht’s erst mal um einen Menschen in einem für ihn offensichtlich belastenden Zustand.

Du siehst einen Menschen, der vielleicht mit leerem Gesichtsausdruck ins Nichts starrt, vielleicht nicht mehr schlucken kann oder unkontrolliert zittert, zu Boden fällt, sich einnässt- das sind beschämende Momente und Betroffene brauchen ein Gegenüber, dem das bewusst ist.

Wenn du kannst, beschütze sie/ihn vor neugierigen Blicken Außenstehender, schirme sie/ihn ab, sorge für Ruhe. Falls ihr euch so vertraut seid, dass du gut merken kannst, wann eine vorsichtige Kontaktaufnahme gehen kann und wann du eher Abstand halten solltest, bist du eine wertvolle Unterstützung für sie/ihn.

Dissoziation kann plötzlich und dramatisch beginnen und verlaufen, oder auch ganz still und äußerlich unbemerkt. Für Betroffene ist das alles irgendwie „ganz normal“; wir leben mit diesem „On/Off-Wahnsinn“, es ist eben Teil unseres Lebens und unseres Seins, dass von einer Sekunde auf die andere etwas „abbrechen“ kann. Wir dissoziieren weitaus häufiger, als du es mitbekommst. Und die meiste Zeit des Tages regulieren wir uns immer wieder selbst, ohne dein Eingreifen.

Oft ist weniger mehr. Wilder Aktionismus ist selten hilfreich. Wenn dein Gegenüber beim Einkauf Lähmungserscheinungen in den Beinen bekommt, braucht sie/er nicht sofort einen Rollstuhl. Wenn ein Wegdriften/ ins Nichts starren besonders lange andauert und der Schluckreflex zum Erliegen gekommen ist, muss nicht automatisch der Rettungsdienst gerufen werden. Und wenn ein Innenkind singend neben dir im Auto sitzt, während ihr in eine Polizeikontrolle gewunken werdet, darfst du einfach NICHTS tun, statt fieberhaft nach einer erwachsenen Innenperson zu rufen. 😉

Abwarten, auf die systeminternen Selbstheilungs- und Selbstregulationskräfte vertrauen, durchatmen,  einfach „da bleiben“- das ist so viel, so simpel und so hilfreich.