Wut alleine reicht nicht

©PaulaRabe

#orangedays:

Diese ewige Frage nach der Wut auf die Täter*innen langweilt und nervt mich manchmal. Die Vorstellung, dass ein Gewaltopfer aufhört, ein Opfer zu sein und stattdessen in den Status der/des Überlebenden emporsteigt, wenn es nur endlich wütend auf den/die Täter*innen werden kann, finde ich ekelhaft bequem.

Zu spüren und zu wissen, dass die Gewalt, der man ausgesetzt war, Unrecht war, dass der/die Täter*in damit Macht ausgeübt und missbraucht hat- dies ist sicher eine wichtige Erkenntnis.

Nur: Worauf trifft sie? Was folgt ihr? Entsteht aus dem erkannten Unrecht eine Wut- oder andersherum?

Worauf bin ich konkret wütend? Auf den/die Täter*in als gewaltausübende Person*en; oder ist die Wut eine lebenserhaltende, logische innere Maßnahme nach Erfahrungen von Ohnmacht, Hilflosigkeit, Ausgeliefertsein- sozusagen eine Ab- oder Erlösung nach der Starre?

Letztlich finde ich die Person des Täters/ der Täterin völlig uninteressant. Wut, Rachegedanken, Hass auf sie/ihn fühlen sich für mich wie Verschwendungen wertvoller Lebensenergie an.

Was mich heute wirklich auf die Palme bringt- und womit ich in der Folge auch aktiv arbeite- sind die Umstände “danach“: Die erneuten Erfahrungen von Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein, die wir und andere Gewaltbetroffene mach(t)en, z.B. bei der Suche nach Therapieplätzen, bei Ärzten/Ärztinnen, mit Ämtern, Behörden, Justiz, Politik, Gesellschaft…

Wut möchte transformiert werden, möchte Aktion und Andockpunkte, möchte gelebt werden. Im stillen Kämmerlein, mit sich alleine, verpufft die Wut vielleicht, statt sich heilsam weiterzuentwickeln.

Raum für die Wut der Opfer zu öffnen bedeutet, Forderungen, Bedarfe und Kritik anzuerkennen UND in eine Mit-Verantwortung zu gehen.

Die Realität, die viele Menschen mit Traumafolgen nach Gewalt kennen, sieht leider häufig anders aus.

Ich würde mir wünschen, dass sich der Fokus mehr auf die Betroffenen und ihre Bedürfnisse richtet und weniger auf die Täter*innen und ihre Motive.

Kindheit und Folgen

©PaulaRabe

#orangedays:

Gewalt in der Kindheit erhöht das Risiko für Gewalt im Erwachsenenleben. Sowohl aktiv als auch passiv.

Das meint: Sowohl viele Opfer als auch viele Täter*innen kennen aus ihrer Kindheit Vernachlässigung, Misshandlungen, sexualisierte und emotionale Gewalt.

Sogenannte “häusliche Gewalt“ betrifft häufig Menschen, die solche oder ähnliche Grenzverletzungen schon von “früher“ kennen. Die innere Verankerung, Ausbeutung sei ein “normaler“ Bestandteil des Lebens (“Ist halt so!“), hat weitreichende Folgen- die auch wieder auf Kinder treffen können.

Um den Gewaltkreislauf zu durchbrechen und transgenerationale Weitergabe zu beenden, braucht es eine bewusste innere und äußere Auseinandersetzung. Darauf zu vertrauen, dass “die Zeit schon alle Wunden heilt“, ohne für den “Heilungsprozess“ etwas aktiv tun zu müssen, ist mindestens grob fahrlässig und letztlich einfach total falsch.

Zu ignorieren, was war und welche Auswirkungen es auf das “Heute“ hat, ist Ab-Spaltung, die sich zum Beispiel auch darin zeigt, wie wichtig die Versorgung von Traumafolgestörungen von der Politik genommen wird.

Gewalt endet nicht schon mit dem letzten Schlag.

Der private Bereich

©PaulaRabe

#orangedays:

Privatsphäre, Grenzen, Persönlichkeitsrecht am eigenen Bild, Geheimnisse- nichts davon können Menschen, die z.B. (organisierter) sexualisierter und/oder “häuslicher“ Gewalt ausgesetzt sind, als “sicher“ ansehen. Täter*innen sind unkalkulierbar “überall und plötzlich da“, und es kann lebensgefährlich werden, wenn sie sich hintergangen fühlen.

Die Gewaltbetroffenen entwickeln sich entweder zu Meister*innen des Versteckens oder des sich-selbst- Verleugnens: In jedem Fall wird Privatsphäre (letztlich das gesamte “eigene Wollen“) als etwas nicht Selbstverständliches, sogar Verbotenes erlebt.

Menschen, die Gewalt erfahren haben, brauchen sichere Räume- und dazu gehören auch die Vertraulichkeit eines Tagebuchs oder eines Handys, die Verschwiegenheit einer/eines Freundin/Freundes, die therapeutische Schweigepflicht, der Respekt vor eigenen Gedanken und Plänen, die Achtung des eigenen Tempos, usw.

Hilfe und Unterstützung für Gewalterlebende kann manchmal, wenn es um konkrete Schutzmaßnahmen geht, an einer Schwelle stehen, an der Vertraulichkeit oder Schweigepflicht diskutiert werden müssen: Kann, soll, muss ich eingreifen, wenn ich von einer akuten Gefährdung weiß, obwohl der/die Betroffene äußert, dass er/sie das nicht möchte? Lasse ich ggf. Gewalt geschehen, wenn ich die Grenzen des Gegenübers NICHT überschreite?

Bei Kindern und Jugendlichen besteht eine andere Fürsorgepflicht als bei Erwachsenen. Trotzdem kann dieser Punkt des Schutzes z.B. bei einer Ausstiegsbegleitung aus organisierter/ritueller Gewalt immer wieder kritisch sein.

Wir denken: Die Betroffenen bestimmen ihren Weg und ihr Tempo. Sie haben das Recht zu schweigen und zu sprechen, wann und wie sie möchten. Sie sind nicht auskunftsverpflichtet. Sie können und dürfen eigene Entscheidungen treffen- auch darüber, ob sie leben oder sterben möchten (sofern dies eine eigene, nicht Täter*innen-induzierte Entscheidung ist!).

Hilfe muss sich an den Betroffenen orientieren, nicht andersherum.

Hoffnungsfunken

©PaulaRabe

#orangedays:

Hoffnung auf ein Ende der Gewalt. Auf Rettung, Hilfe, Gesehenwerden. Sich erlauben zu hoffen. Oder lieber: Gründe suchen und finden, für die es sich zu kämpfen, zu leben, zu verändern lohnt.

Hoffen, dass es besser wird und gleichzeitig befürchten, den Weg dorthin nicht zu schaffen. Angst vor dem Verlust und dem Schmerz, wenn man es gewagt hat zu träumen, zu planen, zu wollen- und dann irgendwo wieder etwas bricht, zerbrochen wird.

Hoffnung zuzulassen hat mit Mut und Wut zu tun und mit Bereichen im Innern, die Zerstörung weder annehmen, noch lebenslang aushalten wollen.

Viele Menschen, die Gewalt erleben, kennen es, den Hoffnungsfunken innerlich selbst totschlagen zu wollen. Weil er nichts zu bringen scheint, außer Verletzbarkeit und Schmerz.

Wir glauben, dass er einer der größten Antriebe im menschlichen Körper-Seele-Geist-System ist, die uns am Leben halten.

Deshalb sind wir froh, dass unsere Hoffnung durch alle Zeiten hartnäckig weiter existiert hat, auch wenn wir sie nicht immer bewusst wahrnehmen konnten oder wollten.

Hilfe und Barrieren

©PaulaRabe

#orangedays:

“Accessibility“ heißt Barrierefreiheit. Hilfsangebote für Menschen, die Gewalt erleben, müssen nicht nur “da“, sondern auch für sie zugänglich sein!

Das bedeutet, es braucht z.B. Offenheit und Bewertungsfreiheit, verschiedene und einfache Sprachen, Erreichbarkeit auch mit einem Rollstuhl, mit Hör- oder Sehminderung oder Assistenzhund.

Es braucht kostenfreie Angebote, weniger Bürokratiewahnsinn, diverse Stellen, die verschiedene Geschlechter ansprechen, medizinische Hilfe auch ohne Krankenversicherung, sichere Notwohnungen, usw.

Die Existenz von sexualisierter, physischer, psychischer, organisierter, ritueller, struktureller o.a. Gewalt wirklich ernst zu nehmen, bedeutet auch, deren Folgen als potentiell lebensbedrohlich, in jedem Fall aber lebens-behindernd anzuerkennen.

Und das bedeutet wiederum die Verantwortung, nicht nur Hilfestellen zu schaffen, sondern auch Barrierefreiheit für die Betroffenen zu gewährleisten.

Sichere Orte

©PaulaRabe

#orangedays :

Wir kennen es aus unserer eigenen gewaltvollen Biographie, wie wichtig sichere Orte für uns waren und noch sind und wie sie häufig fehl(t)en.

Oft ging es damals um Pausenmomente von der Gewalt, in denen fühlbar wurde: “Jetzt gerade passiert mir nichts, mein Gegenüber ist nicht gefährlich.“ Das konnte am Küchentisch der Nachbarin, im Klassenraum, beim Kioskbetreiber, am Kirschbaum oder auch im Kinderheim sein. Auszeiten, in denen Wahrnehmung und durchatmen und das Realisieren anderer Optionen möglich wurden.

Menschen, die Gewalt erleben, brauchen manchmal aber nicht nur das gemütliche Sofa bei einer Freundin, einem Freund- wenn es auch lebenswichtig sein kann, um die Verbindung mit dem Weiterleben halten zu können.

Menschen, die Gewalt erleben, brauchen auch professionelle, erreichbare Schutzangebote: Frauenhäuser, Beratungsstellen, Jugendhilfeeinrichtungen, Krisenanlaufstellen, usw.

Die Existenz, Finanzierung und Qualität dieser Institutionen zu sichern ist eine politische und gesamtgesellschaftliche Verantwortung und Pflicht!

Für Menschen, die in organisierten Täterstrukturen sexualisierte (rituelle) Gewalt erleben, gibt es zu wenige spezialisierte (Schutz-)Einrichtungen, die ihnen Begleitung anbieten können. Nicht selten stehen Betroffene, die sich vom Täterkreis distanzieren wollen, (zunächst) alleine da, bzw. werden ausschließlich von privat Unterstützenden aufgefangen. Die Bedeutung dieser Freund*innen, Partner*innen, u.a. ist unermesslich- und die Last, Mit-Verantwortung, Hilflosigkeit während eines “Ausstiegs“ zum Teil viel zu hoch.

Wir fordern mehr “safe places“ für alle, die sie brauchen!

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Zum 25.November

©PaulaRabe

Gewalt gegen Frauen und Mädchen – gegen Menschen- ist sichtbar, hörbar, fühlbar, auch wenn die Betroffenen (noch) schweigen.

Was Du tun kannst?

Augen, Ohren, Herz auf!

Kopf einschalten, dich über Hilfsmöglichkeiten informieren!

Gewalt als Teil von Lebensrealität begreifen, aber niemals als gegebene Normalität sprachlos hinnehmen!

Dich solidarisieren, nicht nur rund um den 25.11., sondern jeden Tag!

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Herbstfarben und Dynamik

Für manche Menschen mit Erfahrungen ritueller und/oder organisierter Gewalt ist die “dunklere“ Jahreszeit krisenbelastet. Zum Einen können “schwere Gefühle“ auftauchen, zum Anderen auch traumatische Erinnerungen an gewaltvolle “Feiertage“. Täter*innen in einem ideologisch geprägten Kontext nutzen häufig bestimmte Tage/Daten für (spezielle) “Settings“- und für die Opfer kann es auch Jahrzehnte später noch sehr schwierig sein, die Gewalterinnerungen von den Daten zu entkoppeln.

Uns hilft es zur Zeit, die herbstlichen Farben in der Natur zu betrachten (beim Blick aus dem Fenster, beim Spazierengehen oder im Garten), Blätter beim langsamen Fallen/Trudeln und Vögel am Vogelhäuschen zu beobachten (Mister Eichelhäher ist besonders beliebt). Es tut uns gut, bunte Windlichter und Laternen zu gestalten, Steine und Stöcke zu bemalen, Herbstgemüse zu essen und uns in eine regenbogenfarbige Decke zu kuscheln. Wir haben die Badewanne als Chilloutzone für uns entdeckt, probieren verschiedene Düfte aus. Außerdem hören wir wieder mehr Musik, entdecken neue Sänger*innen und Bands, bewegen uns dazu. Wir achten darauf, zu frühstücken und ausreichend zu trinken und zu schlafen, die Heizung gut zu regulieren. Jeden Tag fokussieren wir uns mindestens ein Mal auf etwas besonders Schönes, verankern es innerlich und atmen frische Luft.

(Feier-)Tage kommen und gehen, Krisen kommen und gehen, innere und äußere Prozesse kommen und gehen. An etwas festzuhalten tut uns meistens nicht gut. Vertrauen wachsen lassen zu können, dass es schon “okay“ werden wird, egal, wie wann was kommt- das ist ein großes Geschenk für uns.

Täter*innen profitieren von Statik. Wir leben Dynamik.

Was tut Ihr denn so, damit es sich im Herbst oder “anderswann“ nicht (allzu) dunkel oder schwer in Euch anfühlt?

©PaulaRabe

Projekt „Verrückt? Na und!“

Wenn ich darüber nachdenke, wie viel Raum das Thema „psychische Gesundheit“ im Schulunterricht meiner Jugendzeit hatte, fällt mir dazu nichts ein. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass in irgendeinem Schulfach jemals darüber gesprochen wurde, wie man dafür sorgen kann, psychisch im Gleichgewicht zu bleiben oder auch Krisen zu bewältigen.

Als ich vor kurzem das Projekt „Verrückt? Na und!“ des Vereins „Irrsinnig Menschlich e.V.“ kennenlernte, war ich berührt und beeindruckt. Ich habe mich so darüber gefreut zu erleben, wie engagiert, frisch, bunt und offen an der Förderung der psychischen Gesundheitskompetenz junger Menschen gearbeitet wird.

„Irrsinnig Menschlich e.V.“ hat Angebote für Schulen, Hochschulen und Unternehmen entwickelt. Ich habe am Ausbildungsworkshop für das Projekt „Verrückt? Na und!“ teilgenommen:

Methodisch und inhaltlich ist es so aufbereitet, dass es sich für Jugendliche und junge Erwachsene ab 14 Jahre in Schule und Berufsschule, sowie für deren Lehrkräfte eignet.

In diesem Projekt gestalten zwei Expert*innen („fachlich“ und „persönlich“, d.h. jemand mit pädagogischer Ausbildung und jemand mit Erfahrungsbackground psychischer Erkrankung/Krise) gemeinsam mit den Jugendlichen einen Schultag zum oben genannten Thema.

Der Tag besteht aus drei Teilen:

– Ansprechen statt Ignorieren: Wachmachen für seelisches Wohlbefinden in Schule und Ausbildung. Ausgangspunkt sind die Lebenserfahrungen der Teilnehmer*innen. Häufige Themen: Schulleistungen, Prüfungsstress, Mobbing, Süchte, Belastungen in der Familie, Krankheit, Suizid.

Glück und Krisen: Von Lebensschicksalen und eigener Verantwortung; vom Nothilfe-Koffer für seelische Krisen bis zum achtsamen Miteinander in der Schulgemeinschaft.

Mut machen, Durchhalten, Wellen schlagen: Austausch mit und Lernen von jungen und jung gebliebenen Erwachsenen, die seelische Krisen gemeistert haben

Gesprächsrunden, Kleingruppenarbeiten, Spiele, u.a. regen den Austausch an und öffnen Türen- das habe ich während der Hospitation in einer 9.Klasse erleben dürfen. Ich war überrascht und beeindruckt, wie offen die Jugendlichen über eigene Belastungen und die nahestehender Menschen gesprochen haben, wie respektvoll und tolerant die Atmosphäre war und wie kreativ und motiviert Ideen und Problemlösungen entwickelt wurden. Psychische Erkrankungen und darauf bezogene Stigmata konnten thematisiert und geklärt werden, Selbstfürsorge bekam einen ziemlich coolen Anstrich, weinen war okay und lachen auch. Als eine der beiden Expertinnen über ihre persönlichen Erfahrungen mit Depressionen und posttraumatischer Belastungsstörung erzählte, hörten die Jugendlichen interessiert und emotional bewegt zu und stellten anschließend spannende Fragen.

Ich habe während des ganzen Ausbildungsworkshops und besonders während der Hospitation immer wieder gedacht: Wie schade, dass es so etwas nicht schon damals in den Achtzigern oder Neunzigern gab- und wie großartig, dass es jetzt in den Lehrplan mit aufgenommen werden kann, die Psyche genauso wie den Körper in den Fokus zu nehmen.

Für mich selbst habe ich feststellen müssen, dass die Arbeit mit/in einer Schule, bzw. Schulklasse, meine Reizfilter überfordert. Meine Sinne und meine Emotionen sind für so einen Kontext nicht „stabil“ genug.

Unabhängig davon möchte ich „Verrückt? Na und!“ gerne Jugendlichen, Lehrkräften und anderen fachlichen und persönlichen Expert*innen ans Herz legen!

Dissoziation und Diagnostik

Ich glaube, dass Diagnostik gleichermaßen über- wie unterschätzt wird.

Hiermit könnte ich den Text eigentlich auch direkt wieder beenden, weil eigentlich alles gesagt ist. Aber.

Wenn Traumafolgen wie z.B. Dissoziationsphänomene mit einem Leidensdruck und Einschränkungen im Alltag verbunden sind, kann es wichtig sein, dass Leute, die sich damit auskennen (sog. Fachleute), einen Blick drauf werfen. Es kann helfen, über das eigene Erleben zu sprechen und vom Gegenüber unterstützt zu werden, Verständnis dafür zu entwickeln: „Aha, da ist was los bei mir, das seine eigene Logik, Gründe und System hat. Aha, man kann es mit diesen und jenen Begriffen einrahmen. Aha, es gibt Möglichkeiten, einen Umgang damit zu finden. Da und dort könnte ich versuchen anzudocken.“

Nicht jedes Trauma hat eine posttraumatische Belastungsstörung zur Folge. Nicht alle Menschen mit einer PTBS haben die gleichen Symptome in gleicher Ausprägung. Nicht jede Dissoziation hat „Krankheitswert“ und nicht jede „Arbeit mit inneren Anteilen“ bezieht sich auf eine Dissoziative Identitätsstörung.

Obwohl ich einerseits meine, dass Diagnosen irgendwie „nichts“ (über einen Menschen) aussagen, finde ich gleichzeitig, dass man sie nicht verwurschteln sollte. Mich nerven inflationäre, unkorrekte Gebrauchsweisen von Begriffen: Wenn schon jemand Wörter wie „Flashback“, „Trigger“, „traumatisiert“ oder „mind control“ benutzt, dann doch bitte „richtig“, d.h. bewusst gewählt und sauber definiert.

Wenn Psychiater*innen o.a. Diagnosen verschriftlichen, kann daraus ein belastender, diskriminierender Stempel mit sozialen, beruflichen, zwischenmenschlichen, individuellen Konsequenzen werden. Diagnosen können falsch, unvollständig, grob fahrlässig sein. Im Idealfall hat man soviel Selbst-Verständnis und Selbst-Wahrnehmung, dass man erkennen kann, wenn die Begrifflichkeiten sich nicht stimmig anfühlen- und dann auch so viel Kraft, Informationen und Unterstützung, sich dagegen zur Wehr zu setzen.

Im schwierigen (Normal-)Fall ist man sowieso schon verunsichert, ratlos, planlos, verängstigt, möglicherweise auch anfällig für manipulatives Einwirken von außen: Und zieht sich dann eine Diagnose an wie einen zu kleinen Schuh.

Man läuft dann erst mal weiter mit diesem Schuh, spürt eventuell, dass er nicht richtig passt, vielleicht aber auch nicht. Man humpelt, versucht zu verstehen, warum das Gehen möglicherweise noch schwerer fällt als vorher- und denkt, es könnte am schiefen Gangmuster liegen. Oder daran, dass man sich nicht ausreichend bemüht. Oder daran, dass man schon immer irgendwie „doof gelaufen“ ist. Am Schuh, in den man hineingepresst wurde, zweifelt man (im schwierigen Fall) erst mal nicht. Das kann auch dazu führen, dass man irgendwann denkt, er wäre wie für einen gemacht.

Das ist es, was ich anfangs meinte: Eine Diagnose kann über- und unterbewertet werden. Es kommt darauf an, wofür sie gebraucht wird.

Nur weil Dir irgendwann mal irgendjemand mit Titel bescheinigt hat, dass ein bestimmter Begriff zu Deiner Symptomatik, Deinem Erleben passt, muss dieses Wort kein Teil Deiner Identität werden. Die Welt könnte gut ohne Diagnose-Begriffe existieren, wenn „gesund“ und „krank“ keine Unterscheidungsmerkmale mehr zwischen Menschen wären.

Die genaue Diagnostik bei dissoziativen Störungen nach Traumaerfahrung(en) halte ich dennoch für wichtig. Und zwar deshalb, weil sie für mich etwas mit Anerkennung, Ernsthaftigkeit und gesellschaftlicher (Mit-)Verantwortung zu tun hat.

Dissoziative Störungen können verschiedene Ausprägungen und Formen haben, können einen Menschen massiv in seinem (Er-)Leben behindern. Entstehen sie im Kontext von Gewalterfahrungen sind sie ein Schädigungssymptom- ein Ergebnis einer oder mehrerer Beschädigungen! Hierbei genau zu schauen, welche Bezeichnungen passend sein können, genau zu untersuchen und zu besprechen- das ist für mich eine Art von Würdigung. Wenn jemand einen Autounfall überlebt hat und im Schockraum des Krankenhauses liegt, hakt man (im Idealfall) ja auch nicht einfach nur das gebrochene Bein und die Platzwunde am Kopf ab, macht einen Strich darunter und schreibt „Unfallopfer“ hin, sondern man beleuchtet genau, was wo in welchem Umfang desweiteren beschädigt wurde und welche Behandlung gebraucht wird.

Und da ich ja schon entschieden hatte, diesen Text nicht schon nach dem ersten Satz enden zu lassen, möchte ich noch folgenden Aspekt hinzufügen:

Dissoziationen machen auch vor Diagnostiksitzungen nicht halt.

Wenn ich nicht weiß, dass ich Amnesien habe, verneine ich die Frage danach. Wenn ich mich schäme, antworte ich nicht offen. Wenn ich Persönlichkeitswechsel habe, kann ich einen Fragebogen x-fach unterschiedlich ausfüllen. Wenn ich Gewalt erlebt habe, rieche, spüre, fühle ich auch psychiatrische (Deutungs-)Gewalt- und reagiere mit entsprechenden Mustern darauf. Wenn ich Angst vor meiner Wahrheit, der Realität habe, male ich vielleicht schön.

Und: Prozentangaben auf Fragebögen umkringeln zu müssen, Zahlen ankreuzen oder Skalen beschriften zu müssen (wie häufig passiert Dir dies und jenes?) widerspricht meiner Ansicht nach jeglicher Logik im Verständnis von Dissoziationsphänomenen.