Ich glaube, dass Diagnostik gleichermaßen über- wie unterschätzt wird.
Hiermit könnte ich den Text eigentlich auch direkt wieder beenden, weil eigentlich alles gesagt ist. Aber.
Wenn Traumafolgen wie z.B. Dissoziationsphänomene mit einem Leidensdruck und Einschränkungen im Alltag verbunden sind, kann es wichtig sein, dass Leute, die sich damit auskennen (sog. Fachleute), einen Blick drauf werfen. Es kann helfen, über das eigene Erleben zu sprechen und vom Gegenüber unterstützt zu werden, Verständnis dafür zu entwickeln: „Aha, da ist was los bei mir, das seine eigene Logik, Gründe und System hat. Aha, man kann es mit diesen und jenen Begriffen einrahmen. Aha, es gibt Möglichkeiten, einen Umgang damit zu finden. Da und dort könnte ich versuchen anzudocken.“
Nicht jedes Trauma hat eine posttraumatische Belastungsstörung zur Folge. Nicht alle Menschen mit einer PTBS haben die gleichen Symptome in gleicher Ausprägung. Nicht jede Dissoziation hat „Krankheitswert“ und nicht jede „Arbeit mit inneren Anteilen“ bezieht sich auf eine Dissoziative Identitätsstörung.
Obwohl ich einerseits meine, dass Diagnosen irgendwie „nichts“ (über einen Menschen) aussagen, finde ich gleichzeitig, dass man sie nicht verwurschteln sollte. Mich nerven inflationäre, unkorrekte Gebrauchsweisen von Begriffen: Wenn schon jemand Wörter wie „Flashback“, „Trigger“, „traumatisiert“ oder „mind control“ benutzt, dann doch bitte „richtig“, d.h. bewusst gewählt und sauber definiert.
Wenn Psychiater*innen o.a. Diagnosen verschriftlichen, kann daraus ein belastender, diskriminierender Stempel mit sozialen, beruflichen, zwischenmenschlichen, individuellen Konsequenzen werden. Diagnosen können falsch, unvollständig, grob fahrlässig sein. Im Idealfall hat man soviel Selbst-Verständnis und Selbst-Wahrnehmung, dass man erkennen kann, wenn die Begrifflichkeiten sich nicht stimmig anfühlen- und dann auch so viel Kraft, Informationen und Unterstützung, sich dagegen zur Wehr zu setzen.
Im schwierigen (Normal-)Fall ist man sowieso schon verunsichert, ratlos, planlos, verängstigt, möglicherweise auch anfällig für manipulatives Einwirken von außen: Und zieht sich dann eine Diagnose an wie einen zu kleinen Schuh.
Man läuft dann erst mal weiter mit diesem Schuh, spürt eventuell, dass er nicht richtig passt, vielleicht aber auch nicht. Man humpelt, versucht zu verstehen, warum das Gehen möglicherweise noch schwerer fällt als vorher- und denkt, es könnte am schiefen Gangmuster liegen. Oder daran, dass man sich nicht ausreichend bemüht. Oder daran, dass man schon immer irgendwie „doof gelaufen“ ist. Am Schuh, in den man hineingepresst wurde, zweifelt man (im schwierigen Fall) erst mal nicht. Das kann auch dazu führen, dass man irgendwann denkt, er wäre wie für einen gemacht.
Das ist es, was ich anfangs meinte: Eine Diagnose kann über- und unterbewertet werden. Es kommt darauf an, wofür sie gebraucht wird.
Nur weil Dir irgendwann mal irgendjemand mit Titel bescheinigt hat, dass ein bestimmter Begriff zu Deiner Symptomatik, Deinem Erleben passt, muss dieses Wort kein Teil Deiner Identität werden. Die Welt könnte gut ohne Diagnose-Begriffe existieren, wenn „gesund“ und „krank“ keine Unterscheidungsmerkmale mehr zwischen Menschen wären.
Die genaue Diagnostik bei dissoziativen Störungen nach Traumaerfahrung(en) halte ich dennoch für wichtig. Und zwar deshalb, weil sie für mich etwas mit Anerkennung, Ernsthaftigkeit und gesellschaftlicher (Mit-)Verantwortung zu tun hat.
Dissoziative Störungen können verschiedene Ausprägungen und Formen haben, können einen Menschen massiv in seinem (Er-)Leben behindern. Entstehen sie im Kontext von Gewalterfahrungen sind sie ein Schädigungssymptom- ein Ergebnis einer oder mehrerer Beschädigungen! Hierbei genau zu schauen, welche Bezeichnungen passend sein können, genau zu untersuchen und zu besprechen- das ist für mich eine Art von Würdigung. Wenn jemand einen Autounfall überlebt hat und im Schockraum des Krankenhauses liegt, hakt man (im Idealfall) ja auch nicht einfach nur das gebrochene Bein und die Platzwunde am Kopf ab, macht einen Strich darunter und schreibt „Unfallopfer“ hin, sondern man beleuchtet genau, was wo in welchem Umfang desweiteren beschädigt wurde und welche Behandlung gebraucht wird.
Und da ich ja schon entschieden hatte, diesen Text nicht schon nach dem ersten Satz enden zu lassen, möchte ich noch folgenden Aspekt hinzufügen:
Dissoziationen machen auch vor Diagnostiksitzungen nicht halt.
Wenn ich nicht weiß, dass ich Amnesien habe, verneine ich die Frage danach. Wenn ich mich schäme, antworte ich nicht offen. Wenn ich Persönlichkeitswechsel habe, kann ich einen Fragebogen x-fach unterschiedlich ausfüllen. Wenn ich Gewalt erlebt habe, rieche, spüre, fühle ich auch psychiatrische (Deutungs-)Gewalt- und reagiere mit entsprechenden Mustern darauf. Wenn ich Angst vor meiner Wahrheit, der Realität habe, male ich vielleicht schön.
Und: Prozentangaben auf Fragebögen umkringeln zu müssen, Zahlen ankreuzen oder Skalen beschriften zu müssen (wie häufig passiert Dir dies und jenes?) widerspricht meiner Ansicht nach jeglicher Logik im Verständnis von Dissoziationsphänomenen.