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Sorge lernen

©PaulaRabe

#orangedays :

Fürsorge-Fähigkeiten schüttelt man nicht aus dem Ärmel. Woher soll man wissen, wie es geht, jemanden zu umsorgen, zu pflegen, zu schützen, zu fördern- wenn die eigene Kindheit von Gewalt und/oder Vernachlässigung geprägt war? Gab es keine guten Beispiele, bleiben viele Fragezeichen im Innern.

Auch bei wiederholten Gewalterfahrungen im Erwachsenenalter, z.B. häuslicher Gewalt, kann der Zugang zu “Fürsorgeideen“ abhanden kommen: Wenn man tagtäglich erniedrigt, gedemütigt, ent-machtet wird, zerbröckelt nach und nach das intuitive Wissen, was gut tun würde, welche Bedürfnisse erfüllt werden wollen, wie emotionale Wärme aussehen kann.

Wir haben es erlebt, dass es für unsere Entwicklung von Selbst-Fürsorgefähigkeiten dringend wichtig war und ist, uns auch an Außenpersonen orientieren zu können. Trost, Zuwendung, Liebe, Anerkennung, Aufmerksamkeit über verschiedene Gesten, Worte, Handlungen- gespiegelt von vertrauenswürdigen Menschen in unserem Umfeld.

Sich abschauen können, wie das geht, jemanden, der traurig ist oder etwas nicht alleine kann, freundlich zu unterstützen.

Hinhören, was das Gegenüber wie sagt, um einen zu ermutigen.

Hinfühlen, wie das ist, wenn jemand im Körperkontakt beruhigt und hält. Erkennen, welche Gefühle welche Art von Hinwendung brauchen und was sich stärkend anfühlt.

Solche Erfahrungen waren und sind hilfreich im Erlernen von “Fürsorge“. Auf sich selbst und andere bezogen!

Deshalb erwähnen wir auch immer wieder gerne, wie kritisch wir eine praktizierte Gefühlskälte in Therapien sehen -unter dem Deckmantel der “professionellen Distanz“…

Zurückgeworfen werden auf das Stichwort “Eigenverantwortung“ -falsch voraussetzend, man habe ausreichend Zugang zu Selbstfürsorgefähigkeiten- ist immer wieder ein Schlag ins Gesicht eines komplex traumatisierten Menschen.

11 Kommentare

  1. Ich kann grad gar nicht ausdrücken, was dein Text hier auslöst; möchte aber auf jeden Fall noch was dazu schreiben.
    Aber grad drängen einfach nur Tränen in die Augen !

    Danke für deine Worte !

      1. Oh mit den Tränen ist das so: wir tauchen ein in den Text und die Tränen kommen und laufen. . .
        . . . und tauchen auf daraus, – die Tränen trocknen –
        wir bleiben auf der Oberfläche, schlafen, gehen arbeiten, einkaufen . . .
        . . . und dann lesen wir im Text oben und tauchen abermals ein in die Tränen.

      2. ja – ne wellenförmig ist das nich wirklich . . . ne Welle is ja so gesehen bloss ne Oberflächenbewegung .

        Beim Lesen ist das aber schon ein vollständiges Abtauchen und beim plötzlichen Trocknen der Tränen hilft das dissoziative Handtuch schon sehr !

  2. Wir hatten oben ja geschrieben, dass uns wichtig sei, noch etwas dazu zu schreiben; merken aber, dass dass das Thema seeehr gross ist hier und sich immer neue Gedanken auftun.
    – deshalb möchten wir versuchen, unsre Gedanken in „Häppchen“ da zulassen.

    Für’s erste wollen wir uns kurz Mal zur „professionellen“ Distanz äußern :

    Wir glauben ja, dass, wenn Professionelle diese Distanz aus eigener Hilflosigkeit heraus „wählen“, ist das erstmal gesünder für Klient(in) und Helfende, als den Hilfeprozess ungewollt mit eigenen Verwicklungen zu erschweren.

    Allerdings möchten wir vor diesem Hintergrund sehr laut dafür plädieren, dass Helfer sich aktiv mit diesem Problem auseinander setzen und sich darum bemühen,
    eine Fähigkeit zu professioneller Nähe zu entwickeln!

    Denn das ist es, was Betroffene aus unserer Sicht brauchen.

    Das Wort Distanz signalisiert das Abwehren von etwas.
    Unser Wunsch:

    etwas Bejahendes aktiv dagegen zu setzen

    Liebe Grüsse von hier

  3. Was du hier oben beschreibst,möchte ich so Wort für Wort unterschreiben, anmarkern und unterstreichen.
    Dabei fällt es mir schwer, mich wirklich auf deinen Beitrag zu beziehen, weil mein Kontext dazu jenseits des sexuellen Missbrauchs noch ein ganz spezifischer ist.

    Als ich vor über 13 Jahren meinen Sohn zur Welt brachte, wusste ich nicht, wie das geht, Fürsorge – ich hatte kein Gefühl dafür. Nur das: ich hatte das Gefühl, ich muss da sein, wenn er weint. Ich war ständig auf dem Sprung, er sollte keinen Moment das Gefühl haben, allein zu sein. Was sich für manch einen wie liebevolle Fürsorge lesen mag, war permanente Selbstüberforderung, die Wahl des Gegenteils von Vernachlässigung aus der fundamentalen Verunsicherung heraus, wie Fürsorge geht, eingehen auf mein Kind in Gestik und Mimik war mir nicht wirklich möglich, ich konnte nicht „erkennen, welche Gefühle welche Art von Hinwendung brauchen“, weil ich nichts davon internalisiert hatte.

    Später als ich wieder angefangen hatte zu arbeiten und meinen Sohn morgens wecken und anziehen musste, verließ mich sobald er bloß ein bisschen wimmerte, alle Kraft und ich hätte mich einfach nur daneben legen können, anstatt ihn zu wickeln.
    Ich hatte damals _eigentlich_ keine Kraft mehr und machte irgendwie weiter.

    Und ich hatte das Gefühl, das stimmt so nicht.

    Vor 5 Jahren dann stieß ich auf die Veröffentlichung einiger Analytikerinnen, die ehemalige Krippenkinder der DDR interviewt haben, um zu untersuchen, wie sich diese Art von Fremdbetreuung auf Kinder ausgewirkt hat.
    Anfang der 70er Jahre war ich selbst eines dieser DDR Kinder gewesen.
    Die Publikation schilderte u.a. die Bedingungen dieser Betreuung, in der insbesondere ab Anfang der 70er in autoritärer Weise nach einem Erziehungsprogramm, das in teils bizarren Formulierungen die Art und Weise vorschrieb, wie Kinder von den Erzieherinnen auf einen bestimmten Entwicklungsstand zu bringen seien, die Kinder darauf reduziert wurden, was sie in welchem Alter können müssten. (Für mich ist, was ich gelesen habe, nichts anderes als Dressur. Die Erfolge dieser Dressur wurden von übergeordneten Stellen kontrolliert). Beziehungsgestaltung war nicht vorgesehen, eine demütigende Haltung bei Nichterreichen der festgeschriebenen Ziele die Regel, Eigeninitiativen der Kinder störend. Sie hatten wie die Grossen eine Norm zu erfüllen. Und das betraf Kinder ab 4 Monaten!
    Eine der Aufgaben im Programm für die Kleinsten ab 4 monaten z.B. wird überschrieben mit “ Erzeugung von Freude“ – ich muss mich schütteln, wenn ich das lese, weil es so fühlbar an mir klebt!

    Seitdem aber ahne ich, dass ich aus dieser Vorgeschichte heraus eben Fürsorge nicht aus dem Ärmel habe schütteln können.
    Die gut gemeinte normierte Beschulung in Lebensfähigkeiten hat meine Fürsorgefähigkeiten als Mutter genauso blockiert wie die emotionale Kälte und Herabwürdigung durch meine eigene Mutter.

    Als ich damals außerdem realisierte, dass ich ab einem Alter von 4 Monaten für täglich neun Stunden ab 6 Uhr morgens in die Krippe gebracht wurde, bekam ich ein Gefühl dafür, weshalb ich beim Wickeln meines Kindes so augenblicklich kraftlos geworden war. Ein Gefühl dafür, dass es etwas Altes angetriggert hat.
    (Seitdem habe ich aufgehört, mich selbst dafür zu verurteilen, dass ich nicht mehr als eine Halbtagesstelle auf die Reihe kriege. Meine Wahrheit ist seitdem, dass ich als Säugling und Kleinstkind mein Soll eines 9-Stundentages erfüllt habe.)

    Aber ich hatte Glück: ich habe zu einer Tagesmutter für mein Kind gefunden, die eben das für mein Kind war, was ich nicht sein konnte. Die emotional greifbar für die ihr anvertrauten Kinder war, liebevoll. Sie war eine solche Aussenperson, bei der ich mir Stück für Stück abschauen konnte, wie sich etwas anfühlt, welche Gesten hilfreich, stärkend sind und ich langsam ein Gefühl
    für die Beziehung zu meinem Kind entwickeln konnte.

    Im Rückblick sind damals schon einige
    Innenkinder mitgegangen.
    Als mein Sohn 8 Jahre alt war, ist sie dann gestorben.
    Sie fehlt uns bis heute.

    Danach hatte ich ein zweites Mal Glück auf der Suche nach einem Therapieplatz.
    Bei der neuen Therapeutin zeigten sich mir allein aufgrund ihrer Ausstrahlung erstmals innere Kinder, brachten mich dazu, mich für diesen Therapieplatz zu entscheiden, denn es hätte auch noch einen anderen gegeben.

    Und sie ging auf die Kinder ein, vermittelte mir da, wo ich mit Verärgerung reagierte, weil eins aus Misstrauen Gespräche blockierte, ein Gefühl dafür, was dieses Kind brauchen könnte. Sie war da.
    Und sie reagierte schnell, wenn es nötig war.

    Ich konnte miterleben, was es bei inneren Kindern bewirkte, bekam innere Vorstellungen davon, worauf es beim Umgang mit ihnen ankommt – und. . .ich vermochte meinen inzwischen 9-jährigen innerlich loszulassen und zugleich für ihn präsent zu sein, seine Schritte zunehmender Selbstständigkeit vertrauender zu begleiten. Ich konnte mein Kontrollbedürfnis loslassen.

    letztlich ist mit dem Zugang zu inneren Kindern die Fähigkeit verknüpft, zu meinem äußeren Kind eine wirkliche Beziehung aufbauen zu können und ihm ein echtes Gegenüber zu sein.

    mir ist aber wichtig zu sagen, dass das Erleben von Fürsorge den eigenen Zugang dazu zwar eröffnen kann, aber für das innere Kind selbst zu sorgen, setzt auch hier voraus, dass im Dialog der Beziehung zur Therapeutin hilfreiche innere Modelle entwickelt wurden und dazu ist die Spiegelung durch die Therapeutin einfach unverzichtbar, denn in der Reaktion des Gegenübers erkennt auch das innere Kind erst, wie es auf sein Gegenüber wirkt und was sein Selbst ausmacht. Und dies ist die Vorraussetzung dafür, dass ich mit ihm in Beziehung gehen kann.

    Das war ein langer Text, aber es gibt noch einen letzten Punkt, der für mich die wesentliche Vorbedingung für die Anbahnung sexuellen Missbrauch darstellt: der fundamentale Mängel an guten, nährenden emotionalen – und körperlichen! – Erfahrungen unserer inneren Kinder bedingt ein Vakuum, das sie empfänglich für jede Art von Nähe gemacht hat.
    Unsere Erfahrung von Nähe war Missbrauch.

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