Strafanzeige und der (zu) hohe Preis

„Würdet Ihr anderen Betroffenen empfehlen, Strafanzeige gegen den/die Täter*innen zu erstatten?“ Diese Frage (und die nach unseren Erfahrungen mit der „Opferentschädigung“) wird uns immer wieder mal unter anderem in der Peer- und Angehörigenberatung gestellt.

Grundsätzlich halte ich es für wichtig und richtig, dass Straftaten angezeigt werden. Ich bin aber emotional näher an den Betroffenen, als an der gesellschaftlichen Forderung, Gewalttäter*innen zu bestrafen und ggf. „wegzusperren“. Der Preis, den Betroffene im Zusammenhang mit einem Ermittlungsverfahren oder Gerichtsprozess zahlen, ist immer noch unverhältnismäßig hoch für das, was an Ergebnis zu erwarten ist.

Über unsere eigenen Erfahrungen und Gedanken zur Anzeigenerstattung hatten wir hier bereits geschrieben.

Gut ein Jahr später schaue ich aktuell auf die Berichte über die Hinweise zu ritueller Gewalt in der katholischen Kirche (Bistum Münster) und wundere mich nicht über den Verlauf in dieser Sache. Eine Zusammenarbeit zwischen Kirche und Polizei ist ohnehin nicht vorhanden; im vorliegenden Fall wurde vom Bistum eine Anwaltskanzlei zur (Auf-)Klärung engagiert (nicht etwa eine sozialwissenschaftliche oder psychologische Institution)- die in einem Bericht die Anschuldigungen der über rituelle Gewalterfahrungen berichtenden Menschen als „nicht plausibel“ (=unglaubwürdig) und von Therapeut*innen/Berater*innen suggeriert darstellte. Zwei Rechtspsychologinnen bestätigten dies in ihren gutachterlichen Ausführungen. Verschiedene Medien berichten darüber, die „Unabhängige Kommission des Bundes zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs“ hat eine Stellungnahme veröffentlicht.

Das Problem, unsere Aussagen über sexualisierte Gewalt in einem organisierten Kontext nicht ausreichend mit gerichtsfesten Beweisen untermauern zu können, hatten wir damals (2003) auch. Das, was uns an Erinnerungsmaterial zu der Zeit zur Verfügung stand, war unsortiert, unvollständig und für uns verbal nicht konstant und deutlich genug kommunizierbar. Die Verantwortung für das Scheitern des Ermittlungsverfahrens trugen aber nicht wir, sondern die Ermittlungsbehörden.

Die Entscheidung, Strafanzeige zu erstatten, kam damals zustande, weil es Fachpersonen in unserem Umfeld gab, die uns dazu ermutigten. Sich vom Täterkreis „befreien“ und sich wehren zu können, mit der Idee, endlich „geschützt zu sein“, war die Vorstellung von Therapeut*innen und anderen Unterstützungspersonen bezüglich einer positiven Entwicklung: Die Anzeige als I-Tüpfelchen unseres Ausstiegsweges. Für uns ging es eher darum, unser Möglichstes dazu beizutragen, dass nicht noch weitere Menschen(kinder) Opfer unserer Täter*innen werden.

Betroffene dazu zu ermutigen, sie zu bestärken oder vielleicht sogar zu pushen, mit ihren Erinnerungen an die Öffentlichkeit zu gehen, weil man selbst als Hilfeperson die Ohnmacht nicht aushalten kann, empfinden wir als grenzüberschreitend und im schlimmsten Fall auch sehr gefährlich. Am Ende müssen die Betroffenen damit leben, dass sie als unglaubwürdig bezeichnet werden- eventuell genauso wie die Akteur*innen des Hilfesystems. Möglicherweise verlieren diese ihr Ansehen, ihre Reputation, ihren Job, ihre Illusionen vom Weltbild und ihre Ideen von „Gerechtigkeit“- aber sie können ja immerhin noch weiter von sich sagen, dass sie die parteischen, solidarischen „Guten“ sind. Für die Betroffenen hängt an der (Un-)Glaubhaftigkeit noch mehr: Es ist nicht nur eine traumatische Wiederholung, sondern auch ein direkter Angriff auf die innere Basis.

Ich werde nicht müde, darüber zu sprechen/schreiben, wie wichtig es ist, in der therapeutischen und beraterischen Arbeit mit Betroffenen an dem Punkt der „Erinnerungsthemen“ so zurückhaltend wie möglich zu sein. Deutungen, Interpretationen, Assoziationen sind genau die Fallstricke, die Menschen mit dissoziierten, fragmentierten Erinnerungen Kopf und Kragen kosten- und zwar nicht nur in juristischen Zusammenhängen, sondern auch „ganz für sich alleine“. Ein Bild über die eigene Biographie setzt sich bei einer dissoziativen Identitätsstruktur unserer Erfahrung nach nicht in einem geraden, logischen Prozess zusammen, sondern hat Bruchstücke, Unklarheiten, Lücken, falsche Erinnerungen- von denen sich möglicherweise einige nie ganz aufklären lassen. Man macht Schritte vor und zurück, hat Ahnungen, an manchen Punkten auch klares Wissen, muss manches im Laufe der Jahre korrigieren oder revidieren, kann sich vielleicht nie ganz sicher sein… Mal stehen Worte darüber zur Verfügung, mal geht nur schweigen; mal erkennt und versteht man Trigger und kann sie in einen passenden Kontext einsortieren, mal ist alles ein großes Fragezeichen…

All das sind typische Aspekte einer DIS und keine persönlichen Unzulänglichkeiten. Menschen mit ausreichend (Fach-)Wissen zu Psychotrauma ist das (hoffentlich) bewusst, Kriminalbeamt*innen und Jurist*innen häufig nicht. Kippt dann noch ein*e gutachterliche*r Anhänger*in der „False Memory“-Erzählung sein/ihr Güllefass über der Angelegenheit aus, ist endgültig „Ende Gelände“.

Eine Strafanzeige, ein Ermittlungsverfahren, ein Gerichtsprozess sind nicht unbedingt die Hilfsmittel, um eigene innere Zweifel und Unklarheiten auszuräumen. Wenn du selbst nach Beweisen oder Antworten suchst, dann tust du das im besten Fall mit einem Minimum an Selbst-Freundlichkeit. Wenn das die Justiz tut, dann gilt: Im Zweifel für den/die Angeklagte*n (also nicht für dich). Du stehst dabei nicht (mehr) im Fokus, sondern die Täterverfolgung. Wenn du dabei unter die Räder des fahrenden Zuges kommst, bist du der Kollateralschaden- und das, wo du doch ursprünglich eigentlich „nur“ nach der Wahrheit gesucht hast, weil du dir selbst nicht glauben konntest oder wolltest, stimmt´s?

Wenn man nichts weiter in der Hand hat, als die eigenen Aussagen und wenn niemand/nichts im Außen diese verifiziert, dann brauchen diese Aussagen Qualität- wenn man damit juristisch etwas in Gang bringen will. Es gibt Vorgaben dazu, woran diese Qualität bemessen wird und was du in einem Strafverfahren leisten musst- darüber sollte dich dein*e zukünftige*r Anwalt/Anwältin genauestens aufklären, bevor du Anzeige erstattest. Wenn du dabei merkst, dass diese Messlatte nicht zu dem passt, was du mitbringst, heißt das nicht, dass du versagst oder irgendwie unzureichend bist, sondern dass der Weg eventuell eine andere Abzweigung benötigt als gedacht.

Was brauchen Betroffene, um mit ihren (fragmentierten) Erinnerungen leben zu können? Was bewegt sie dazu, Anzeige zu erstatten und welche Hoffnungen knüpfen sie daran? Welcher Zeitpunkt ist für sie der richtige? Wie viele persönliche, energetische Kapazitäten haben sie für einen jahrelangen Prozess? Wie (gut) werden sie unterstützt und begleitet? Was passiert (innen und außen), wenn sie sich für oder gegen eine (öffentliche) Aussage entscheiden? Gibt es Alternativen zur Polizei, z.B. Anhörungskommission und andere öffentliche Stellen, die für die Betroffenen in Frage kommen könnten?

Unsere Antwort auf die Frage im ersten Absatz lautet: Nein, wir empfehlen keine Strafanzeige. Es ist nur eine Option von mehreren, die dir zur Verfügung stehen, wenn es darum geht, innere und äußere Distanz herzustellen; wenn es darum geht, gehört werden zu wollen; wenn es darum geht, eine Umgang mit der Wut finden zu wollen; wenn es darum geht, aus dem Opfergefühl herauskommen zu wollen, und so weiter- dann gibt es verschiedene Möglichkeiten, wie das gelingen kann. Eine Verurteilung von Täter*innen aus organisierten Strukturen ist (noch) viel zu selten, als dass du auch nur einen Hauch von Erfolgsquote erwarten könntest. Wenn dir dieser Hauch reicht, oder wenn es dir nicht um einen Erfolg im Sinne einer Verurteilung geht- dann schau, wie viele Ressourcen dir innen und außen langfristig zur Verfügung stehen.

Wir brauchen übrigens keinen wilden Aktionismus! Ein Teil, der zu unseren Erfahrungen gehört, ist Ohnmacht. Die braucht ebenso Anerkennung wie Schuld(gefühle). Es ist nicht die Aufgabe und auch nicht das Recht unseres Gegenübers, irgendwas damit zu tun oder irgendwo etwas auszuradieren- schon mal gar nicht ohne Abstimmung mit uns. Es ist uns bewusst, dass es schwer, zum Teil auch unaushaltbar ist, mit Ohnmacht konfrontiert zu sein: Täter*innen tun, was sie tun, weil sie es können. So einfach ist das. Es gibt nur begrenzt Möglichkeiten, das zu verhindern. Diese Erkenntnis kann für Menschen im Unterstützungssystem so desillusionierend, erschütternd oder lähmend sein, dass sie wirklich alle Hebel in Bewegung setzen wollen gegen die Hilflosigkeit. Es kann passieren, dass dann zu weit und zu schnell vorgeprescht wird, dass (zu viel) gehört wird, was (so) nicht gesagt wurde- und dass eine Dynamik entsteht, die allen Akteur*innen zunehmend entgleitet. Bis sie auf jemanden treffen, der das Ganze mit irgendeinem Furz-Argument der „False Memory“-Bewegung, oder einer simplen Logikfrage, oder einer klugen Überprüfung der Umstände vor die Wand brettern lässt. Und da hätten wir sie dann wieder, die Ohnmacht.

Das, was wir erlebt haben, braucht Raum und Anerkennung. Wir möchten uns darüber mitteilen können, wenn wir das wollen. Wir brauchen dazu Gegenüber, die in der Lage und Willens sind, aufmerksam zuzuhören und mitzufühlen, dabei aber nicht ihre eigene(n) Grenze(n) zu verlieren und dann unsere überschreiten.

Es ist unsere Geschichte, nicht Eure.

Bindungstrauma innen und außen: „Wenn alle warten, passiert nichts.“

Die Aussage „Meldet Euch, wenn was ist!“ hat mich noch nie dazu gebracht, mich zu melden.

Weil ich erstens nicht genau weiß, was eigentlich sein muss, damit es zur Definition „es ist was“ passt, und weil ich zweitens das Gefühl und die Erfahrung mit mir herumschleppe, zu viel zu sein: Anstrengend, kompliziert, schwer, belastend, inkompetent, nervig. Außerdem steht meine (Un-)Fähigkeit, mich mitzuteilen, in direkter Verbindung zu dem, was konkret ist.

Meldet Euch, wenn was ist!„: Ich weiß, dass Menschen so meistens ausdrücken wollen, dass sie ansprechbar und grundsätzlich hilfsbereit sind. Ich höre/lese dabei aber den Subtext „Meldet Euch nur, wenn es Euch schlecht geht- und ansonsten bitte nicht.

Mir hilft es, wenn miteinander vereinbart wird, wann welche Form von Kontakt für das Gegenüber okay ist: Schriftlich, telefonisch, in einem Treffen- welche Grenzen gelten wo, wann, für wen? Wenn es Bedingungen gibt, zum Beispiel „nur im Notfall nachts“ oder „wenn niemand sonst erreichbar ist“, dann ist es gut, das so genau wie möglich aufzudröseln: Was ist ein „Notfall“? Was ist, wenn andere Menschen zwar erreichbar wären, aber lieber mit genau diesem einen Gegenüber Kontakt hergestellt werden will?

Zum Glück gab und gibt es in unserem Leben Menschen, die bereit sind, die Verbindung zu uns zu halten, auch wenn wir das phasenweise selbst nicht (gut) konnten und können; auch wenn wir uns zeitweise zurückziehen, die Kommunikation erlahmt, kaum Initiative von uns ausgeht, usw. Hätten Menschen (auch professionell Helfende) in der Vergangenheit nicht aktiv daran gearbeitet, den Kontakt zu uns zu halten, während wir dazu nicht (mehr) in der Lage waren, wären wir heute so nicht in unserem Leben, wie wir es sind.

Es gab zum Beispiel Therapeutinnen, die von sich aus eine SMS oder Email schrieben, um nachzufragen, wie es uns geht. Oder um zu signalisieren, dass sie an uns denken. Manche von ihnen gaben uns ungefragt „Übergangsobjekte“ für die Zeit zwischen unseren Treffen mit, die es uns ermöglichten, eine Bindung zu sehen, zu riechen, zu merken, auch wenn man nicht zusammen war. Manche sagten uns, dass wir ihnen wichtig sind. Manche umarmten und hielten uns. Manche gaben uns einfach einen Zusatztermin zwischen den regulären Stunden. Alles ohne vorheriges Bitten von uns, sondern aus eigenen Impulsen heraus.

Wir haben so heilsame, wichtige, lebensverändernde Bindungserfahrungen AUCH mit professionellen Helferinnen (ja, ausschließlich Frauen) gemacht, auch (!) weil sie alle immer wieder nicht (!) darauf gewartet haben, dass eine Initiative/Aktion von uns kommt. Wer meint, Bindungstrauma löst sich mit der Zeit quasi von alleine auf, wenn man den Menschen „einfach machen lässt“ („Zeit heilt alle Wunden“), der geht vielleicht auch davon aus, dass jemand vor einem reich gedeckten Tisch nicht verhungern kann.

Meldet Euch, wenn was ist!“ oder auch „…wenn Ihr was braucht!“ erfordert viele Selbstwahrnehmungsfähigkeiten und Vertrauen (z.B. in die Tragfähigkeit der Beziehung). Vertrauen entwickle ich auch dann, wenn ein „Augenhöhengefühl“ vorhanden ist. So ein Gefühl ist in einer therapeutischen oder „professionell helfenden“ Beziehung nicht automatisch gegeben. Und manchmal kann´s auch gar nicht entstehen, weil die Umstände gar nicht dazu passen. Oft gehören Abhängigkeit und auch ein Machtgefälle logischerweise dazu- klar, Unterstützungskonstellationen eben. Hauptsache, man hat ein Bewusstsein dafür, reflektiert und bespricht das miteinander. Dazu muss aber auf beiden Seiten ein ehrliches, aufrichtiges, herzliches Interesse an der Beziehung zueinander gegeben sein.

Ihr könnt Euch ja melden.“ Wirklich?

Eigenverantwortung ist ein Schlag-Wort. Professionelle Distanz ebenfalls. Beides ist mehr oder weniger Auslegungssache, wobei es in therapeutischen Beziehungen selbstverständlich Leitlinien gibt, die ihre Berechtigung und Wichtigkeit haben. Sich emotional einzulassen, mitzuschwingen, mitzufühlen, sich für eine Bindung zu entscheiden; aktiv etwas dafür zu tun, dass ein Mensch Halt erfährt, ohne ihm die Selbstbestimmung zu nehmen; mit eigenen Gefühlen sichtbar/spürbar zu werden, ohne die Orientierung zu verlieren- all das muss unserer Erfahrung nach keinesfalls dem „Kodex“ der „professionellen Distanz“ widersprechen.

Jemandem die Entscheidung, sich zu melden, selbst zu überlassen, in einer Situation, in der sie/er kommunikativ eingeschränkt ist, trägt nicht wirklich dazu bei, ein Gefühl von Eigenverantwortung zu etablieren. Das, was dadurch wohl eher gefördert und unterstützt wird, ist die Erfahrung von Isolation und Handlungsunfähigkeit. Der Weg, zum Handy, Stift oder zur Tastatur zu greifen, besteht nicht nur aus einer Handbewegung. Es geht nicht nur darum, es zu schaffen, den Mund zu öffnen und Worte zu sprechen. Weit davor muss es erst mal möglich werden, im Innern etwas wahrzunehmen. Zu spüren, dass da „was ist„. Zu merken: Es gibt einen Leidensdruck oder ein Bedürfnis. Zu realisieren: Es könnte gut sein, irgendwo anzudocken. Aus der Unverbundenheit herauszufinden. Um das wahrnehmen zu können, muss ich aber schon mal den Unterschied erlebt haben zwischen Bindung und Unverbundenheit/Bindungslosigkeit!

Wenn ich weder Zugang zu eigenen Bedürfnissen, noch zu einer Idee von Veränderungsmöglichkeit habe, dann kann ich auch mit dem Konzept „Eigenverantwortung“ nichts anfangen. Und zwar nicht, weil ich mich furchtbar gerne bequem zurücklehne und andere machen lassen will, weil ich nicht motiviert genug wäre oder weil ich mich grundsätzlich lieber in Abhängigkeiten begeben würde, sondern weil ich schlicht und ergreifend keine inneren Basics zur Verfügung stehen habe.

Ich muss am Gegenüber lernen können. Ich muss Spiegelung erleben. Ich muss gute Vorbilder haben. Ich muss früher und heute vergleichen können. Ich muss Raum und Zeit haben, Neues wahrzunehmen, zu sortieren, zu begreifen, zu integrieren, zu etablieren. Das geht nicht aus dem Nichts heraus! Ich kann doch nur mit dem arbeiten, was da ist. Wenn ich keine stabilen, positiven Bindungsbasics einbringen kann, dann brauche ich zwingend hilfreiche Bindungsangebote im Außen, um wirklich begreifen zu können, was gemeint ist. Ich brauche Arbeitsmaterial!

Es geht um äußere und innere Bindungen. Innenkontakt gestaltet sich unserer Erfahrung nach auch deshalb oftmals so hartnäckig schwierig, weil „Verbindung herstellen“ Gefühl(e) braucht. Wenn ich keinen Impuls dazu habe, wohin ich meine (welche?) Antennen ausstrecken soll; wenn ich Angst davor habe, berührt zu werden; wenn ich erstarrt bin; wenn ich auf Kognition geprägt bin; wenn das (lebensbedrohliche) Risiko eines Kontrollverlustes droht; wenn ich gar keine Idee dazu habe, was „Kontakt“ eigentlich sein könnte- wie soll dann Andocken gelingen?

Muss eigentlich immer „was sein„, damit Bindung hergestellt/gespürt werden darf? Braucht es Krisen, Katastrophen, Abstürze, Adrenalin, um sich einer Beziehung versichern zu können (dürfen)? Ist eine Haltlosigkeit Voraussetzung, damit man gehalten wird? Schwierig, wenn ein Kontakt an Leid, Ohnmacht, Hilflosigkeit geknüpft ist- und automatisch endet, wenn es einem „gut genug“ geht, wenn das Leben stabil geworden ist, wenn man nichts/niemanden mehr braucht, weil ja „nichts mehr ist„.

Professionelle Hilfe endet, wenn keine Hilfe mehr gebraucht oder gewollt ist (oder wenn sie nicht mehr finanziert wird). Wenn dabei eine emotionalen Beziehung entstanden ist, kann es passieren, dass der Hilfebedarf aufrecht erhalten werden will. Denn es droht ja ein echter Verlust, der sich mehr aufs Herz bezieht als auf Therapie-, Beratungs- oder Assistenzleistungen. Daraus kann eine ziemlich (selbst-)zerstörerische Dynamik an immer größeren, heftigeren Krisen entstehen- die letztlich nur verhindern sollen, dass ein Abschied furchtbar (existenziell) weh tut. Auch in dem Zusammenhang ist es total wichtig, die Auswirkungen von Bindungstraumatisierungen auf dem Schirm zu haben, um die Betroffenen unterstützen zu können, statt ihnen das nächste Schlag-Wort der „Reinszenierung“ vorwurfsvoll entgegenzuschmettern.

Und wie wäre es, wenn Kontakte z.B. nach langjährigen Therapien nicht mit einem dicken Tabu belegt wären? Wenn es möglich wäre, auch nach Ende einer therapeutischen oder beraterischen Begleitung in Verbindung zu bleiben (z.B. sich mal eine Nachricht schreiben, mal einen Tee zusammen trinken, was auch immer), wenn beide Seiten das wollen und gut besprechen? „Darf man nicht, steht in den Richtlinien, ist Ethik, sehr riskant, geht immer schief, ist professionell distanzlos“? Wir behaupten: Kann in manchen Fällen menschlich, ethisch UND fachlich absolut Sinn machen!

Menschliche Verbindungen können so verschieden aussehen. Es gibt Freundschaften, Bekanntschaften, Partner*innenschaften, Kollegien, Vereine, Nachbarschaften, Kollektive, Gemeinschaften, Affären, Teams, usw. Es gibt unterschiedliche Regeln für die verschiedenen Formen; unterschiedliche Vorgaben, was wo wie „angemessen“, erlaubt, erwünscht ist. Es gibt Hierarchien und Machtverhältnisse, manches ist starr, anderes beweglich. Ein Faktor darin ist unkalkulierbar: Bei wem sich das Herz öffnet. Wenn das passiert, ist daran nichts falsch!

Das Bindungstrauma sitzt im System. Das, was außen passiert (ist), zeigt sich auch im Innern – und (oft auch) umgekehrt. Das, was im Kleinen passiert, wirkt sich auf das Große aus. Und umgekehrt.

Hilfreich kann sein, wenn sich Mehrere daran beteiligen, sich vorsichtig aufeinander zuzubewegen.

Wenn alle gleichzeitig losstürmen, entstehen Kollisionen und Chaos.

Wenn alle warten, passiert nichts.

Es ist okay, wenn du mir schreibst. Ich freue mich, von dir zu hören.

Ich würde gerne mit dir eine Stunde spazieren gehen. Hast du Lust?

Ich melde mich zwischendurch mal bei dir.

Hast du heute was Schönes vor?

Wie war dein Tag?

Ich bin hier und denke an dich.

Hallo, guten Morgen!

Ich habe lange nichts mehr von dir gehört und würde mich freuen, wenn du dich mal meldest, wenn du möchtest.

Du bist mir wichtig.

Ich hab dich gern.

Ich mache dir ein Angebot… / Ich lade dich ein…

Das (gezeigte) Bild der DIS

Eine dissoziative Identitätsstruktur sieht von Mensch zu Mensch unterschiedlich aus. Manchmal sind Persönlichkeitswechsel mit deutlich erkennbaren Veränderungen in Verhalten, Ausdruck, Ausstrahlung, Stimmlage, Mimik, Gestik, usw. verbunden. Wir erleben bei uns und anderen Betroffenen im analogen Leben meistens eher „unauffälligere Wechsel“: Die DIS ist für Außenstehende eben nicht auf den ersten Blick erkennbar. „Laute“ und „leise“ Symptome können phasenweise vorhanden sein. Die Stabilität von Alltagsfunktionalität und das Ausmaß an Kontrollverlust und Unterstützungsbedarf können schwanken. Nicht unbedingt dringt irgendwas von dem nach außen, was im Innen los ist.

Schwierig wird es, wenn medial (oder auch unter Therapeut*innen, u.a.) ein Bild einer „typischen DIS“ kreiert wird, das nicht der Lebensrealität vieler, vieler Betroffener entspricht: Wenn die (Un-)Glaubhaftigkeit einer Schilderung daran festgemacht wird, wie (un-)deutlich eine dissoziative Symptomatik außen sichtbar ist, haben alle, die nicht ins jeweilige Raster passen, ein Problem: Entweder du erscheinst zu „normal“ (=unauffällig), um wirklich Viele zu sein (und mit einem Hilfebedarf anerkannt zu werden)- oder zu „verrückt“, um ernst genommen zu werden. Ganz grundsätzlich richtet die nicht enden wollende, unwissenschaftliche Glaubhaftigkeitsdiskussion einen großen Schaden für alle (!) Betroffene an.

Mediengestaltende tragen Verantwortung für das, was sie vermitteln; welches Bild sie schaffen. Sich selbst als (nicht betroffenes) „Sprachrohr“ für Betroffene zu verstehen, kann eigentlich niemals gut gehen.

Wir nehmen eine zunehmende Exotisierung der DIS im öffentlichen Diskurs wahr: Sowohl in diversen (Selbst-) Darstellungen auf Social Media, als auch in Dokus und verschiedenen Artikeln. Immer wieder richtet sich der Fokus schließlich darauf, ob das, was gezeigt wird, glaubhaft ist oder nicht – und was wie gezeigt werden muss, damit die Zuschauenden sich das Ganze als „wahr“ vorstellen können. Im Hintergrund reibt sich der Backlash grinsend die Hände, weil es ihm damit leicht gemacht wird.

Menschen sind unterschiedlich, DIS hat viele Gesichter – und wir erleben, dass Betroffene mit weniger „schillernder“ Symptomatik immer weiter in den Hintergrund rücken. Wir meinen, dass da viele Aspekte deutlich unterrepräsentiert sind- was dem öffentlichen, auch zum Teil fachlich/professionell leider mitgestalteten Bild einer DIS unserer Ansicht nach überhaupt nicht zuträglich ist.

Je „krasser“ Persönlichkeitswechsel aussehen, desto vorstellbarer (und gleichzeitig wunderbar weit weg von der eigenen Lebensrealität, dem eigenen Weltbild) für Nichtbetroffene? Oder desto nützlicher, um Klicks und Quoten zu halten oder zu erhöhen?

Je dramatischer, schrecklicher, komplexer, „behinderter“ das „Beschwerdebild“, desto goldener glänzt der Expert*innenstatus von jenen, die sich da fachlich „rantrauen“? Irgendwie haben wir den Eindruck, dass sich an verschiedenen Stellen etwas immer weiter hochschraubt, was Betroffenen eben nicht dient. Was für eine seltsame Dynamik, oder?

Es gibt so viel mehr, was das Leben mit (dissoziativen) Traumafolgen prägt und ausmacht, als der „crazy Wechsel“ von Persönlichkeitsanteilen.

Wir wünschen uns, dass man mehr sieht als das, was man gezeigt bekommt.

Über Gewaltschutz, kollektive Dissoziation und Bullerbü

„Gewaltschutz“ ist ja so eine Sache. Was bedeutet denn Schutz? Dass dafür gesorgt wird, dass man nicht (mehr) von (bestimmten) Menschen misshandelt, ausgebeutet, vernachlässigt, verfolgt etc. wird- und dann ist gut? Wer ist dafür an welchen Punkten und wie lange zuständig? Was gehört zu einem „geschützten“ oder „sicheren“ Leben?

Sicherheit ist relativ. Uns hat es nicht gut getan, dass manche professionelle und private Helfer*innen uns vermittelten, dass alles besser werden würde, sobald wir die Verbindungen zum Täter*innenkontext vollständig gekappt hätten. Ihrer Ansicht nach war das oberste Ziel das Ende der Gewaltausübungen durch diese Gruppierung gegen uns. Was danach kam oder kommen sollte, wurde mit den Glitzerworten „Freiheit“, „Selbstbestimmung“, „Autonomie“, „ein gutes Leben“ usw. angepriesen. Wir hatten Zweifel.

Heute, locker 25 Jahre später, können wir sagen: Es stimmt, „es“ ist besser geworden. Ja, wir haben Zugang zu diesen Glitzerworten gefunden und spüren sie immer wieder auch in unserem Leben. Das wäre so nicht passiert, wenn wir im Täter*innenkontext geblieben und weiterhin dieser Gewalt ausgesetzt gewesen wären.

Äußerlich geschützt zu sein ist aber nur ein Basiselement von vielen. Und es beinhaltet mehrere Aspekte, nicht nur jenen, nicht mehr akut misshandelt zu werden: Zum Beispiel Zugang zu Informationen und Hilfsmöglichkeiten, finanzielle Absicherung, medizinische, therapeutische, soziale Versorgung, juristische Begleitung, sicheren Wohnraum, tragfähige, vertrauensvolle private Beziehungen, usw.

Um das Basiselement auch selbst aufrecht erhalten zu können, ist so viel innere Arbeit nötig. Bei dissoziativer Identitätsstruktur reist der Täter*innenkontext häufig ja noch im Innern mit, obwohl im Außen schon länger Distanz hergestellt wurde. Die Gefahr, wiederholt auch anderswo Gewalt zu erleben, außer in der bekannten Gruppierung, ist groß. Und zwar nicht nur, weil die komplexen Traumatisierungen dazu beitragen, dass man z.B. immer wieder in Abhängigkeitsverhältnisse gerät oder Selbstschutzstrategien (noch) gar nicht etabliert werden konnten, sondern auch, weil Gewalt ein ganz „normaler“, üblicher Teil menschlichen Zusammenlebens ist. Die Wahrscheinlichkeit, Gewalt zu erfahren, ist für bestimmte Menschen (vulnerable Gruppen) besonders groß- aber grundsätzlich würden wir sagen: Niemand ist sicher. Sicherheit ist relativ.

Personen in einem „äußeren Ausstieg“ aus organisierten Strukturen zu vermitteln, dass auf sie am anderen Ende des Weges Bullerbü höchstpersönlich wartet, ist keine gute Idee. Gleichzeitig verstehen wir den Impuls bei Helfenden, all dem Schweren, Belastenden, Zerstörenden, Zermürbenden etwas entgegensetzen zu wollen: Hoffnung vor allem. Und es gibt ja auch Grund dazu! Aber zwischen „Gruppierungshölle“ und „Bullerbü“ liegt eine weite Spanne an Lebensrealitäten, für die es sich lohnt, los- und weiterzugehen.

Mut machen. Ermutigen. Begleiten. Jemanden unterstützen, wenn der Weg schwer und mühsam ist, wird oder bleibt. Im Dunkeln das Licht anknipsen. Orientierung bieten. Verbindung zulassen. Ein sicherer Hafen sein. Wenn man sich entscheidet, dies zu tun; so ein Mensch für jemand anderen, der in existenzieller Not ist, sein zu wollen, dann braucht man auch eine eigene, stabile Basis. Eigene Skills. Eigene Sicherheit(en).

Angst ist aber inzwischen für die meisten Menschen deutlich gewachsen. Viele haben ein Sicherheitsempfinden verloren, dass sie vielleicht vor 10 oder 20 Jahren noch hatten. Politische, gesellschaftliche, klimatische Entwicklungen der letzten Zeit führen logischerweise dazu, dass Ängste konkreter und begründeter geworden und nun schwerer zu händeln sind. Es steht so Vieles auf so wackeligen Füßen- und dabei geraten die Helfenden möglicherweise selbst an ihre Grenzen: Niemand kann Sicherheit vermitteln oder schaffen, der sich selbst unsicher fühlt. Niemand kann Hoffnungsglitzer verstreuen, der vielleicht nur noch wenige Krümelchen davon zur Verfügung stehen hat.

Unsere Erfahrung ist: Traumatisierende Umstände überlebt man dadurch, dass man „Portionen“ bildet. Der Schrecken wird innerlich aufgeteilt und an verschiedenen Stellen „verstaut“, weil „Eine*r allein“ es nicht (er-)tragen kann. Aber auch die Wahrnehmung dessen, was „positiv im Leben hält“, kann man in zeitliche und inhaltliche Häppchen portionieren: Ein Moment der Ruhe, ein neuer Flummi, eine freundliche Tier- oder Menschenbegegnung, eine endlich verstandene Matheaufgabe, ein Wolkenspiel, warme Füße, ein Überraschungsei, Musik, ein lustiger Witz, Schmerzreduktion, eine Lösung für etwas, bunte Malstifte, Meeresrauschen- …

Wie wäre es, all das in imaginären Tupperdosen (oder sonstwie) zu sammeln, um es haltbar zu machen? Um die damit verbundenen Erinnerungen und Empfindungen möglichst lebendig und zugänglich bleiben zu lassen- auch und gerade weil Sicherheit eben relativ ist?!

Wir kennen es, dass wir uns alltäglich in Lebensgefahr fühlten. Dass wir nicht einschätzen konnten, wann uns das nächste Mal etwas Schlimmes passieren wird. Dass wir wussten, dass man sich nie zu früh freuen darf und dass man sich niemals an etwas Schönes, Liebes binden sollte. Wir rechneten mit „dem Schlimmsten“, wünschten uns oft, es möge endlich alles vorbei (=tot) sein. Und gleichzeitig konnten wir uns auch freuen, mochten bestimmte Menschen, lachten, spürten manchmal Entspannung und Erleichterung, hatten Momente und Zeiten, die sich „unbelastet“ anfühlten. Ja, auch als Kind in organisierten Gewaltstrukturen!

Das ist der „Zauber“ der Dissoziation, den Menschen auch im Hinblick auf Angst vor Klimakatastrophen, Kriegen, Existenznot, Krankheiten, u.a. kennen. Würden wir nicht alle dissoziieren, würde wohl niemand mehr die Kreuzfahrt für die Rentenzeit planen, Kinder in die Welt setzen, die AfD supporten oder Überflutungen im eigenen Keller ausschließen. Es ist wichtig, manches ausblenden zu können, weil man sonst vielleicht gar nicht mehr (über)lebensfähig ist. Die Frage ist nur: Welche Konsequenzen riskieren wir mit (zu viel) Ausblendung an manchen Punkten?

Das Licht am Ende des Tunnels wird nicht Bullerbü sein. Für niemanden. Deshalb zu erstarren, nicht mehr weiter- oder sogar zurückzugehen, nicht mehr zu helfen, nicht mehr an eine „Verbesserung“ zu glauben (einfach alles stehen und liegen zu lassen, wo es gerade hinfällt) würde das Ende des Konzeptes „Gewaltschutz“ und das Ende der Hoffnung bedeuten.

Kapitulation vor der Erstarkung der Rechten. Kapitulation vor der Macht der Natur. Kapitulation vor Ungerechtigkeiten, Diskriminierungen, Verarmung, Zerstörung, Hass… Das ist ein anderer Umgang, als der neurobiologische Automatismus der (zeitweisen) Dissoziation. Kapitulation ist eine Entscheidung!

Wir glauben an die Macht der vielen kleinen Schritte. An die Heilsamkeit der kleinen Portionen „Glück“. An den Einfluss der Herzverbindungen untereinander. An die Wirkung der alltäglichen Besonderheiten. All jene „Gegenpole“, die dieses „anders als früher“ ausmachen und die dafür sorgen, dass wir weiter dableiben wollen, in dieser Welt, hier und jetzt. Auch und gerade weil Bullerbü eine Fiktion ist.

Welche Wahl haben wir?

Statusmeldung Essstörung: „Einigermaßen stabil“

Bei unserer Essstörung bedeutet „einigermaßen stabil“ eine Spanne von +/-15kg. „Stabil“ heißt für uns (laut BMI) „höheres Normalgewicht“. Noch nie waren wir im Unter-, oft im Übergewicht. „Eskalierende Essstörung“ mit deutlich höheren Gewichtszu- und abnahmen (+/-50kg) kennen wir auch sehr gut. Unser Körper verändert sich stetig, hat aber in jeder (!) Gewichtsphase sichtbare „Bindegewebsschwächen“, mit denen wir uns nur mäßig arrangieren können. Die massiven Schwankungen haben eben Spuren hinterlassen.

Um uns wohl zu fühlen, unserem Körper freundlich zu begegnen, „sicher“ am Sozialleben teilhaben zu können, Sport zu treiben und so auch „stabil essgestört“ zu bleiben, statt „eskalierend“, brauchen wir unter anderem passende Kleidung. Und ja: Unsere Geschmäcker und das jeweilige Wohlbefinden variieren (sehr).

Unsere Rettung in dem Dilemma ist der Sozialladen, in dem jedes Kleidungsstück 90Cent kostet. So ist es uns möglich, zu jeder Zeit passende Hüllen für unseren „formdiversen“ Körper zu haben.

Inzwischen trennen wir uns auch wieder von Klamotten, die viel zu klein für den aktuellen Stand sind (sie gehen zurück in den Second-Hand-Kreislauf)- denn sie befeuern das selbstabwertende Denken und Fühlen: Sich wieder in diese Hose, dieses Shirt reinhungern wollen/müssen, unbedingt M statt (X)L, usw. „Fettfeindlichkeit“ im eigenen Kopf, Bodypositivity am Arsch.

Viel zu kleine Klamotten im Schrank als gefühlte „Mahnmale des Versagens“, weil sie uns gerade nicht mehr passen, helfen uns eben nicht dabei, unsere Essstörung zu kontrollieren, sondern andersherum.

Wir möchten uns okay (oder sogar gut) mit/in uns fühlen, egal, welche Form unser Körper hat. Das ist innere und äußere Arbeit, die mal mehr, mal weniger erfolgreich verläuft – und die leider viel zu oft viel zu wenig wahrgenommen und anerkannt wird.

Leben mit Essstörung(en) ist nicht immer außen bemerkbar, zeigt sich nicht immer in Extremen und bringt ganz individuelle Herausforderungen und Folgen mit sich.

Wie sehen Eure „Statusmeldungen Essstörung“ aus? Vielleicht mögt Ihr ja was dazu kommentieren. 🙂

Aktivist*innen-Pläne

Ich schaue auf den Wandkalender und wundere mich, wie schnell dieses Jahr verläuft. Noch drei Monate und unsere Arbeit in der Peer- und Angehörigenberatung ist beendet. Fünf Jahre haben wir dieses Projekt gehegt und gepflegt und nun steht der Abschied vor der Tür. Das wird für uns eine Lücke hinterlassen, die sich ein bisschen traurig, unsicher und ernüchtert, aber insgesamt doch okay und stimmig anfühlt. Abschied ist nicht so unser Ding, denke ich. Wir brauchen Perspektiven, um ihn aushalten zu können.

Seit 2013 machen wir Öffentlichkeitsarbeit. Begonnen haben wir mit dem Sichtbarmachen unserer Kreativität: Wir stellten einen kleinen Teil unserer gemalten Bilder in einem „Frauennotruf“ aus, bündelten einige unserer Kurzgeschichten und Gedichte in einem kleinen, selbst kopierten Heftchen, drückten uns mit Fotografien aus. Das hat uns Freude gemacht, erfüllte uns, fühlte sich „sinnhaftig“ an- und rückte im Laufe der folgenden Jahre immer weiter in den Hintergrund. Aus unserem Blog verschwanden nach und nach die Geschichten und Gedichte, es wurde „aktivistischer“, politischer, „aufklärerischer“, kritischer. Wir entwickelten immer mehr einen inneren Druck/Anspruch, dass das, was wir in die Öffentlichkeit bringen, einen Wert, eine Qualität haben muss: Es wurde uns zunehmend wichtiger, darüber zu schreiben, was „Leben mit Traumafolgen“ für Viele bedeutet- nicht nur für uns; wo es hakt, was gebraucht wird, welche gesellschaftlichen und politischen Hürden existieren, usw. Wir wurden kämpferischer, wütender, lauter, unbequemer in dem, wie wir Öffentlichkeitsarbeit praktizierten.

Und jetzt? Jetzt schaue ich auf den Kalender und bin mal wieder müde. Die letzte Lesung vor einer Woche war (zum ersten Mal) eine für uns frustrierende, bei der wir uns anschließend fragten, welchen Sinn dieser Abend eigentlich gemacht hat: „Hat das jetzt irgendwem irgendwas gebracht, dass wir hier waren?“… Die Frage war nicht: „Hat es uns erfüllt?“

Wir merken: Unsere „Aktivist*innen-Energie“ hat nachgelassen. Wir sehen verschiedene andere Aktivist*innen in diversen Themenbereichen (Inklusion, Feminismus, Queerness, Klimaschutz, Gewaltprävention, u.a.), die arbeiten und arbeiten und arbeiten; die immer lauter rufen, demonstrieren, aufmerksam machen und dabei immer wieder gegen Wände prallen- und wir möchten die Flügel hängen lassen. Uns ist in all der zunehmenden „Kämpferei“ der letzten 12 Jahre das kreative, freie, freudvolle Schreiben und Gestalten abhanden gekommen- und das fehlt uns!

Sichtbarwerden, Ausdruck, Kommunikation ohne Leistungsdruck, ohne innere Ab-/Bewertung- einfach, weil unsere „Werke“ so reichen, wie sie sind- das ist ein innerer Wunsch. Auch dann okay mit uns und im Außen zu sein, wenn wir keine „aktuellen, heißen Themen“ aufgreifen, nicht „weiterhelfen“ oder ermutigen, nicht im „Social Media-Rummel“ mitmachen, nicht mitdiskutieren, nicht „enttabuisieren“, „aufklären“, Dinge auf den Tisch packen, etc. Wenn wir wollen, halten wir Vorträge, geben Workshops, veranstalten Lesungen, schreiben einen Brandbrief- wir müssen damit weder aufhören noch weitermachen. Öffentlichkeitsarbeit ist ja vielfältig, oder?

Unser Blog wird inzwischen weitaus weniger gelesen und kommentiert als vor ein paar Jahren. Längere Texte, die beleuchten, abwägen, Punkte herausarbeiten oder auch Lyrik, usw. sind anstrengender zu lesen, als kurze, knappe, plakative Statements. Instagram ist kurzweiliger, konsumorientierter, dynamischer, interaktiver- und erfordert ständige Aktualität und Aufmerksamkeit. Für uns ist das häufig reizüberflutend. Zu uns passt das Tempo darin eigentlich gar nicht. Ein Blog ist langsamer, oft gehaltvoller- sozusagen näher dran an einem Buch, wohingegen „Social Media“ eher einem Werbeprospekt gleicht.

Unser „Aktivist*innen-Herz“ braucht in Zukunft weniger Druck und mehr Freiraum. Wir benötigen Farben, Papier und Leinwand, Fokus nach innen, Stifte und Zettel, Ruhe statt Getöse. Das, was wir nach außen zeigen wollen, darf so bunt sein, wie wir es auch sind- und dabei ist „Kunst“ nicht weniger wert als die Sachdiskussion.

Ein guter Plan.

Vorstellungsvermögen

©PaulaRabe

Ihr fällt es schwer, sich vorzustellen, dass Menschen so „bösartig“ sein können, sich zum gemeinsamen „Kindesmissbrauch“ zusammenzuschließen. Sie arbeitet seit 30 Jahren im sozialen Bereich und hatte bisher noch nicht mit organisierter sexualisierter oder ritueller Gewalt zu tun, sagt sie.

„Zumindest haben Sie das Thema bisher noch nicht bewusst in Ihrer Arbeit wahrgenommen“, antworte ich.

Dann sprechen wir noch darüber, was für sie daran so schwer ist, „es sich vorzustellen“. Es geht nicht um die „Glaubensfrage“. Sie zweifelt nicht an der Existenz dieser Gewaltstrukturen, sie stellt die Betroffenen nicht in Frage, sagt sie.

Ich verstehe: Es geht ihr um emotionales Begreifen, nicht um die Kognition.

Sich etwas vorstellen zu können, braucht eine innere Offenheit, etwas für möglich zu halten. Manches ist thematisch sehr weit weg von der eigenen Biographie, dem eigenen Welt- und Menschenbild – dann fällt es vielleicht schwerer, einen Zugang zu finden.

Wenn es darum geht, z.B. Kinder und Jugendliche vor Gewalt zu schützen oder nach Gewalterfahrungen zu versorgen und zu begleiten, dann gehört es zur Profession, sich Dinge „vorstellen“ zu können.

Verschiedene Lebensrealitäten müssen als Fakten anerkannt werden. Sich diese Fakten anzueignen, bedeutet (äußere) Arbeit, braucht Motivation und Ernsthaftigkeit.

Sich emotional einlassen zu können, sich Mitgefühl und Nähe zu erlauben, eine Beziehung zum Gegenüber aufzubauen- das bringt vor allem innere Arbeit mit sich. Für soziale Berufe ist das unserer Ansicht nach aber ganz basal, denn wenn ich mich auf dieser Ebene in einen Kontakt begebe, nehme ich noch mal anders (intensiver) wahr, was mein Gegenüber eigentlich bewegt, was gebraucht und gewollt wird (und was nicht) und kann bestenfalls besser helfen.

Sich etwas vorstellen zu können geht nur dann, wenn man beweglich ist und bleibt.

Wir wünschen uns von Personen im „Hilfesystem“, dass sie daran denken, wie schwer ihnen manche Vorstellungen selbst fallen, wenn sie von Betroffenen erwarten, dass sie „endlich begreifen“, dass jemand gute Absichten hat; dass etwas/jemand „vertrauenswürdig“ ist, usw.

Es geht immer wieder darum, was man wann wie (nicht) sehen kann, darf, will- und warum.

Sie nimmt neue Perspektiven aus unserem Gespräch mit. Wir auch.

Lesung am 9.9.25 in Schwarzenbek

Wir veranstalten wieder eine Lesung mit anschließendem Gespräch:

Dienstag, den 9.9.25, 19 – 21 Uhr

Ort: Stadtbücherei Schwarzenbek, Ritter-Wulf-Platz 1, 21493 Schwarzenbek

Veranstalter*innen: Kreis Herzogtum Lauenburg, Fachstelle Kinderschutz

Kontext: „Schutz beginnt mit uns“ Informations- und Aktionswochen zu Präventions­­angeboten gegen sexuelle Gewalt an jungen Menschen  – im Kreis Herzogtum Lauenburg

©PaulaRabe

Peer- und Angehörigenberatung endet

Vor fünf Jahren fand unsere Idee, im Bereich „Dissoziative Identitätsstruktur“ Peer- und Angehörigenberatung per Email-Kontakt anzubieten, einen Ort, an dem das möglich wurde: Angebunden an die Beratungsstelle „Frauen helfen Frauen Stormarn e.V.“ arbeiten wir seitdem ehrenamtlich.

Die Finanzierung unserer Tätigkeit (Aufwandsentschädigung, Fortbildung) musste jedes Jahr aufs Neue bei verschiedenen Stiftungen, Vereinen, Behörden/Ämtern begründet und beantragt werden – eine Zusage über eine dauerhafte Absicherung gab es leider nicht.

Im Laufe der Zeit schauten wir uns hin und wieder auch nach möglichen Kolleg*innen mit Erfahrungsexpertise um, denn die Idee eines „Betroffenen-Teams“ in der Emailberatung erschien uns langfristig gesehen sinnvoll. Aus verschiedenen Gründen blieben wir letztlich aber doch die einzigen „Peer´s“ in der Beratungsstelle und gestalteten unser Projekt eigenverantwortlich.

Neben allem, was uns in diesen fünf Jahren im Kontakt mit Betroffenen, An-/Zugehörigen und Helfenden positiv berührt, bewegt, begeistert, inspiriert, motiviert, erfreut und gestärkt hat (und das war eine Menge!), gab es auch belastende Aspekte, die letztlich zu unserer Entscheidung geführt haben:

Wir beenden die Peer- und Angehörigenberatung zum 31.12.2025.

Zum Einen war und ist die Finanzierungsfrage kompliziert, anstrengend und frustrierend: Es wurde im Laufe der Jahre nicht leichter, eine*n Geldgeber*in zu finden- und die Zukunft sieht für solche sozialen Projekte nicht gerade rosig aus. Unsere zeitlichen und energetischen Kapazitäten in einem Ehrenamt sind begrenzt- und Finanzierungsgedöns frisst zu viele Arbeitsstunden und vor allem Nerven.

Zum Anderen -und das ist ein noch wichtigerer Aspekt- merken wir inzwischen deutlich unsere Erschöpfung. Ohne Peer-Kolleg*in zu arbeiten bedeutete auch, jede Mail alleine zu lesen und zu beantworten. Auch jene, die die Rahmenbedingungen sprengten, triggerten, grenzüberschreitend, sehr durcheinander, sehr umfangreich oder sonstwie herausfordernd waren. Auch jene, bei denen wir mit einer möglichen Suizid-, Selbst-, Fremd- oder Kindeswohlgefährdung konfrontiert waren. Oder jene, in denen beschrieben wurde, wie Ausstiegsversuche scheiterten, Hilfenetze zusammenbrachen, Freund*innen oder Partner*innen sich zurückzogen. Wir nahmen Anteil an Ohnmacht, Hilflosigkeit, Hoffnungslosigkeit, Wut, Verzweiflung- und antworteten tatsächlich auf alles, was uns erreichte. Nicht von einem Büro aus, wo wir mal eben schnell eine*n Peer-Kolleg*in um Rat hätten fragen oder uns austauschen können, sondern aus dem sogenannten „home office“, immerhin mit Katzensupport auf dem Schoß (und der Möglichkeit der regelmäßigen Intervision mit Beratungsstellen-Mitarbeiterinnen).

Wir möchten unsere Arbeit gut machen. Das können wir nicht, wenn wir zu erschöpft sind und wenn die Rahmenbedingungen nicht (mehr) stimmen. Deshalb ist es wichtig und richtig, dass wir zum Jahresende diesen Schlusspunkt setzen und uns dann Zeit nehmen, Neues zu überlegen und zu entwickeln.

Allen, die uns ihr Vertrauen geschenkt und sich auf den Austausch mit uns eingelassen haben, danken wir sehr herzlich!

Wir wünschen uns und allen anderen Betroffenen, An-/Zugehörigen, professionell und privat Unterstützenden mehr Anlaufstellen, mehr Vernetzung, viel Kraft, Hoffnung, Freiraum und immer wieder die eine oder andere freundliche Pfote an ihrer Seite.

„Fonds Sexueller Missbrauch“ (EHS) endet

Im Gegensatz zu den im März veröffentlichten Nachrichten sind nun keine Erstanträge beim „Fonds Sexueller Missbrauch“ („Ergänzendes Hilfesystem“/EHS) mehr möglich.

Die Geschäftsstelle teilt auf ihrer Website mit:

In den letzten Wochen sind in der Geschäftsstelle Fonds Sexueller Missbrauch mehr Anträge eingegangen als erwartet. Zu unserem Bedauern werden die im Bundeshaushalt vorgesehenen Mittel zur Gewährung von Billigkeitsleistungen für Betroffene nicht ausreichen, um alle bisher eingegangenen Anträge zu bewilligen. Nach derzeitiger Prognose können Erstanträge mit dem Eingangsdatum ab dem 19. März 2025 nicht mehr bewilligt werden, da die verfügbaren Haushaltsmittel für die Umsetzung der Billigkeitsrichtlinie aufgrund der hohen Nachfrage vorzeitig erschöpft sind.

Das bedeutet:

Es sind keine Erstanträge mehr möglich und es gibt keine Warteliste.

Anträge, die vor dem 19.März 2025 in der Geschäftsstelle eingegangen sind, werden bis zum 31.12.2025 beschieden.

Änderungs- und Ergänzungsanträge können weiterhin gestellt und bearbeitet werden (auch nach dem 31.12.2025)

Auszahlungen zu bewilligten Leistungen sind weiterhin möglich (keine konkrete Angabe, wie lange noch).

Dem Bundesfamilienministerium (BMBFSFJ) ist bewusst, dass diese Verkürzung der Möglichkeit, Erstanträge zu stellen, viele Betroffene von sexueller Gewalt in Kindheit und Jugend enttäuscht und vor große Herausforderungen stellt. In der bisherigen Form kann das System, auch weil in den Haushaltsverhandlungen keine weiteren Mittel vorgesehen sind, aber nicht weitergeführt werden.

Wir sind nicht enttäuscht, sondern einfach nur noch wütend über die Prioritätensetzung der Bundesregierung.