Kontaktpunkte

Dezemberfreude #2

Wir sitzen auf einer Bank, aus den Bäumen tropft geschmolzener Schnee auf unsere Jacke und Hose.

Neben uns sitzt unsere Lebensgefährtin. In der einen Hand hält sie eine Grüffelo-Tasse mit dampfendem Fenchel-Anis-Kümmel-Tee, mit der anderen Hand zaubert sie eine Wärmflasche aus ihrem Rucksack und legt sie uns auf die Beine. Lieblingsmoment mit sehr viel Liebe.

©PaulaRabe

Dezemberfreude #1

In angespannter Stimmung -innerlich durcheinander und nachdenklich- bleiben wir kurz stehen, als ein paar Schneeflocken fallen. Auf dem Jackenärmel sind sie schon fast geschmolzen, noch bevor wir das Foto machen können.

©PaulaRabe

Wenn es schneit kommt von alleine ein Lächeln ins Gesicht, etwas oder jemand fühlt sich getröstet und verbunden. Und eigentlich müssen wir dann backen. Schnee ohne backen ist irgendwie – unrund. Trotzdem: Heute war das Flockenlächeln unser Lieblingsmoment des bisherigen Tages.

Lieblingsmomente im Dezember

Ab morgen startet hier im Blog und auf unserem Instagram-Account eine Adventskalender-Aktion: Wir sammeln Lieblingsmomente- unsere und sehr gerne auch Eure (als Kommentare)!

Anders als bei klassischen Adventskalendern öffnet sich unser Türchen hier nicht schon morgens, sondern erst gegen Abend. Der Tag und wir müssen ja auch erst mal ein paar Stunden Zeit bekommen, einen Lieblingsmoment zu erleben und/oder ihn schriftlich oder bildlich festzuhalten. 🙂

Von uns werden also 24 Momente sichtbar, die uns im Dezember Freude bereiten – und wenn auch nur Eine*r von Euch sich in den Kommentaren anschließen würde, wären es schon 48, bei Zweien wären es 72… eine tolle Glücklichkeitssammlung in einer Zeit, in der sie soooo besonders wichtig und wertvoll wäre!

Also: Seid Ihr dabei?

Bis morgen! 🙂

Alte Überzeugungen und heutige Abhängigkeiten

Bloß nicht zu viel sein. Nicht jammern, nicht um Hilfe bitten, keine Ansprüche stellen. Brav und unkompliziert und nachgiebig sein. Zurückstecken. Freundlich und höflich sein. Sich auf keinen Fall beschweren. Sich mit den Gegebenheiten arrangieren müssen. Sich auf niemanden verlassen. Nicht kränkeln, nicht schwächeln, nichts brauchen. Froh sein, überhaupt existieren zu dürfen.

Das kennen, erleben, fühlen und denken viele Menschen, die Gewalt in der Kindheit erlebt haben. Wie innerlich verwachsen oder verankert tragen sie diese Überzeugungen mit ins Erwachsenenalter und werden immer wieder damit konfrontiert.

Im Alltag gibt es so viele Situationen, in denen genau diese Überzeugungen Einfluss haben können. Menschenverursachtes Trauma wird (auch!) von menschenbezogenen Triggern reaktiviert: Begegnungen, Kommunikation, Streit, Diskussionen, Beziehungen, Autoritäten, Arbeitsverhältnisse u.a. beinhalten sehr viele traumabezogene Aspekte. Für Betroffene ist also „Menschenkontakt“ an sich schon ein „Tretminengebiet“, in dem Auslöser lauern und Achtsamkeit wichtig ist. Werden Traumaerinnerungen angetriggert, muss sich das nicht immer in einem „handfesten“ Flashback mit totalem Orientierungsverlust zeigen. Emotionale oder körperliche Reaktionen können schleichend, leise, wabernd, unterbrochen u.a. auftreten, so dass sie nicht immer eindeutig zugeordnet werden können.

Gelernte, antrainierte, verinnerlichte Verhaltensweisen (z.B. wie oben beschrieben) oder bestimmte Automatismen (z.B. Rückzug/Selbstisolation, verstummen, Unterwerfung, u.a.) ziehen sich manchmal wie ein roter Faden durch Beziehungen und Kontakte. Vielleicht sind es Dauerthemen, vielleicht mit Blockaden und alten Verboten versehen, die dazu führen, dass sich Schwierigkeiten im Umgang mit anderen Menschen immer wiederholen und scheinbar nie auflösen lassen.

Wichtig ist, wahrzunehmen und zu identifizieren, welche inneren Überzeugungen im Zusammenhang mit anderen Menschen existieren.

Nach welchen Grundsätzen handle ich eigentlich? Was denke/fühle ich konkret, wenn mir dies und jenes begegnet? Was kenne ich von früher? Will ich das heute noch so aufrecht erhalten? Gibt es irgendwo eine kleine Veränderungsmöglichkeit? Wem dient es, wenn ich alte Überzeugungen heute noch befolge?

Uns persönlich ist in letzter Zeit beispielsweise aufgefallen, wie häufig ein Abhängigkeitsgefühl im Alltag auftaucht. Wie oft es sich innen unterlegen, klein, hilfebedürftig, machtlos und allein anfühlt im Zusammenhang mit anderen Menschen. Kognitiv gibt es Zugang zum Wissen, dass wir erwachsen und handlungsfähig sind- und auch Ressourcen diesbezüglich. Emotional zeigt sich trotzdem immer wieder auch Altes. Das Gefühl kommt nicht immer so schnell hinterher.

Der Alltag ist voller Trigger. Und voller kleiner und großer Abhängigkeiten oder Ver-Bindungen, von denen objektiv betrachtet nicht alle schlimm oder destruktiv sind. Menschen brauchen andere Menschen, so ist das, wenn man in Gesellschaft lebt. Es ist nur die Frage, wie verantwortungsvoll, mitfühlend, rücksichtsvoll und ehrlich Menschen dabei miteinander sind.

Die alltäglichen Herausforderungen, in denen frühe Erfahrungen von Ohnmacht, Ausgeliefertsein oder Abgelehntwerden angetriggert werden können, sind sehr vielfältig. Hier folgen drei Beispiele aus unserem Alltag:

Warten auf den Rückruf / die Post vom Amt. Es geht um Wichtiges: Hilfe, Entscheidungen, Informationen. Ohne eine Nachricht dazu bleibt etwas in der Schwebe, ungeklärt und mehr oder weniger dramatisch belastend. Die Zeit vergeht, das Telefon klingelt nicht.

Hören, was die Tierärztin für unsere schwer kranke Katze anrät. Auf sie angewiesen sein. Darauf hoffen müssen, dass sie kompetent, zuverlässig und nicht geldgierig ist. Ihrem Wort vertrauen müssen; keine Kapazitäten für Dritt- oder Viertmeinungen haben. Leben retten wollen.

Eine Verkäuferin im Geschäft etwas fragen. Diese zuckt die Schultern, wendet sich ab, geht weg, macht eine bestimmte Handgeste, wirkt unfreundlich. Andere Kund*innen stehen glotzend herum. Peinlichkeitsgefühl, unerwünscht, erstarrt. Nicht nachhaken können.

Kognitiv wissen wir, wie solche Situationen gehandhabt werden können und es gibt auch ein Verständnis für die inneren Prozesse. Praktisch umsetzen lässt sich das Ganze dadurch aber nicht automatisch. Und: Es gibt strukturelle Gewalt in unserer Gesellschaft. Es gibt Benachteiligung, Barrieren, gewollte Machtgefälle, Diskriminierung, Ungerechtigkeit. An manchen Stellen ist dies so groß, massiv und etabliert, dass Ohnmacht und Abhängigkeiten von den Betroffenen selbst nicht aufgelöst werden können. Eigene Anstrengungen sorgen meistens eben nicht dafür, z.B. Armut, Ungleichbehandlung, Sexismus oder Rassismus zu beenden- da ist man tatsächlich auch darauf angewiesen, dass Andere (ebenfalls) aktiv werden.

Wie kann man damit umgehen, wenn bestimmte Abhängigkeiten unveränderlich sind und bleiben? Wenn es keine Alternative zur staatlichen Grundsicherung gibt, zu medizinischen Eingriffen, juristischen Entscheidungen, amtlichen Vorgängen, privaten Verbindungen? Wie ist das aushaltbar und wie können in solchen Situationen im Innern alte Überzeugungen wie oben beschrieben verändert werden? Geht das überhaupt- trotz allem?

Was denkt Ihr dazu?

(Un)sichtbare Viele: Wie es scheint und wie es (auch) ist.

„Ich hätte nicht erwartet, dass eine DIS-Betroffene sich so gut ausdrücken kann, wie Sie das gerade tun- das ist ziemlich untypisch, oder?“

versus

„Sie kommen doch hervorragend im Alltag klar, leben in einer langjährigen Partnerschaft, arbeiten ehrenamtlich- wozu brauchen Sie ambulante Betreuung?“

Zwei verschiedene Kommentare, zwei verschiedene Blickrichtungen- eine Gemeinsamkeit: Ableismus. Beide Äußerungen sind uns innerhalb kürzester Zeit begegnet: Die eine während einer unserer Lesungsveranstaltungen, die andere auf der Suche nach professioneller Unterstützung.

Wir erleben es immer wieder selbst und erfahren es auch von anderen Betroffenen, zum Beispiel in der Peerberatung: Menschen haben bestimmte Vorstellungen, Ideen, Haltungen zu den Stichworten „Gewaltopfer“, „Trauma“ oder „Dissoziative Identitätsstruktur“- und es gibt große Schwierigkeiten, wenn diese nicht mit der Realität der Betroffenen zusammenpassen.

„Trauma und DIS“ ist nicht immer auf den ersten Blick sicht- und erkennbar. Weder für Außenstehende, noch für die Betroffenen selbst. Persönlichkeitswechsel und Amnesien können völlig unbemerkt stattfinden, ein Leidensdruck kann innerlich verborgen bleiben bei gleichzeitig möglicherweise hohem Funktionsniveau im Außen. Die eigene Wahrnehmung einer Traumafolgesymptomatik kann durch (strukturelle) Dissoziation verunmöglicht werden. Alles scheint irgendwie „in Ordnung“- bis es an einer oder mehreren Stellen „wie aus heiterem Himmel“ zu bröckeln anfängt oder plötzlich „gar nichts mehr geht“. Betroffene geraten in solchen Situationen häufig in einen Druck, irgendwie „beweisen“ zu müssen, dass sie tatsächlich Hilfe brauchen -oder zumindest erklären zu können, warum sie „auf einmal dekompensieren“ (vorher ging doch noch alles?)- … während sie innerlich mit sich selbst sowieso schon in Konflikt sind, sich so ein „Schwächeln“ überhaupt zuzugestehen.

„Trauma und DIS“ kann auch deutlicher bemerkbar sein. Die Aktivität unterschiedlicher Persönlichkeiten, Zeitlücken, diverse Traumafolgesymptome, Brüche in der Biographie, Dysfunktionalität, Suizidalität usw. können sicht- und wahrnehmbarer Bestandteil des Lebens von Betroffenen sein. Es kann Wellenbewegungen darin geben oder auch eine gewisse Konstanz. Der Druck, die Anstrengung und der innere und äußere Anspruch, „trotzdem“ irgendwie leben zu können, mit dem Gefühl von „Selbstwert“, Sinnhaftigkeit, Eingebundensein, gesellschaftlicher Teilhabe, Anerkennung, usw.- all dies findet häufig wenig Raum und Resonanz.

Das Erleben, alleine und/oder isoliert zu sein oder zu werden -als Einzelkämpfer*in, als „Exot*in“ oder „Alien“-, kennen viele Betroffene. Das Schwanken zwischen „Anpassung an innere und äußere Ansprüche“ und „Zulassen/Wahrnehmen von Handicap/Verletzung/Erschöpfung“ ist eine echte Herausforderung:

Wie viel „Funktion“ möchte/kann/will/muss ich gewährleisten (für wen und warum?) und wie kann das gehen? Und wo/wann ist Platz für das, was sonst noch so da ist (weiter hinten/innen, verborgen, vergessen, dissoziiert, geleugnet, u.a.)? Welchen Raum gibt es für mich, in dem ich geschützt und sicher „die Flügel hängenlassen kann“, mich dem zuwenden kann, was schmerzhaft, krisenhaft, krank, müde, traumatisiert ist? Wie halte ich dabei eine Balance? Was ist, wenn ich meine Stabilität verliere? Was ist das Minimum an Stabilität, das ich brauche, um weiterleben zu können? Ist es händelbar, bei der inneren Auseinandersetzung ein gewisses Risiko einzugehen, ein bisheriges Funktionsniveau (teilweise) zu verlieren?

Es ist nicht immer möglich, sich bewusst mit diesen Fragen auseinanderzusetzen oder innere Vorgänge und Prozesse zu regulieren. Manchmal kann man nicht „langsamer machen“, etwas stoppen, etwas dosieren. Manchmal passiert etwas schnell und radikal, manchmal entwickelt sich etwas über einen längeren Zeitraum. Es kann Phasen geben, in denen weniger oder auch deutlich mehr äußere Unterstützung benötigt wird. Solche Phasen können sich abwechseln und dabei auch „irgendwie (vermeindlich) unlogische/unerklärliche“ Abfolgen aufweisen. In jedem Fall ist es wichtig, den Betroffenen zuzuhören und sie ernst zu nehmen in dem, was sie äußern/zeigen. Wenn jemand „viel“ vom Außen braucht, sagt das nichts über persönliche Kompetenz, Ausmaß der Traumatisierung, Anspruchshaltung, Motivation, o.a. aus- genauso, wie wenn jemand „wenig“ braucht (oder es nicht mitteilt). Sichtbar ist nie „das Ganze“.

Wenn ein*e Betroffene*r in Vollzeit arbeitet, sagt das nichts über den Schweregrad der Traumafolgen oder Belastungsgrenzen aus. Berufliche Funktionalität ist kein Beweis für „weniger Leid“, „weniger Einschränkung“ oder „mehr Kraft“ oder „mehr Wollen“.

Wenn ein*e Betroffene*r nicht alleine wohnen kann/will, Begleitung beim Einkaufen, Bahnfahren oder Arzt-/Ärztinbesuch braucht, sagt das nichts über Ressourcen, Abhängigkeiten oder gar Intelligenz aus. Alltagsunterstützung, therapeutische Hilfen und Kriseninterventionen bekommt leider niemand „einfach so geschenkt“, auch dann nicht, wenn das Leid glasklar erkennbar ist- dafür müssen Betroffene meistens sehr ackern.

Wir können vor 50, 60, 70 Menschen lesen und mit ihnen diskutieren/sprechen. Wir können dabei zweieinhalb Stunden offen und freundlich und konzentriert sein. Das sagt nichts über unser Selbstbewusstsein, unsere Alltagskompetenz oder generelle Kontaktfähigkeit aus. Würden Menschen nur diesen öffentlichen Aspekt unserer Gesamtstruktur berücksichtigen, wenn sie sich ein Bild von uns machen und eine Haltung dazu entwickeln, würden sie uns gewaltvoll beschneiden. Gäbe es einen ausschließlichen Fokus auf „Opfer“, „beschädigt“, „zerstört“ und „behindert“, wäre es genauso.

„Sowohl…, als auch…“ – eigentlich ganz simpel, oder?

An Tagen wie diesen: Was konkret helfen kann

Traumatisch belastete Daten – religiös, spirituell, geschichtlich oder sonstwie geprägte Feiertage oder auch individuell belastete, spezielle Tage wie Geburtstage o.a.- können immer wiederkehrende Krisen mit sich bringen. Jedes Jahr auf’s Neue zeigen sich ggf. Flashbacks, massive Schlafstörungen, Ess- und Trinkprobleme, psychosomatische Symptome, Suizidgedanken und -versuche, usw.

Es kann Zeiten geben, in denen bestimmte Daten besser ausgehalten und/oder kompensiert werden und der Eindruck entsteht, man habe die Grundproblematik überwunden und verarbeitet – und es kann Folgezeiten geben, in denen doch wieder alles zusammenbricht und nichts mehr geht.

Täter*innen der ritualisierten/rituellen Gewalt machen sich manche Daten zu eigen. Sie nutzen aus ideologischen und/oder schlicht selbsterklärenden Gründen Feiertage für besondere Gewaltformen und -zusammenhänge, oder auch nur als Basis für “special effects“, die sich zum Beispiel in Foltervideos besonders gewinnbringend auswirken. In jedem Fall okkupieren Täter*innen (Feier-)Tage, die von den Opfern anschließend nicht mehr einfach so “mit etwas gutem Willen und Entscheidungskraft“ zurückerobert werden können.

Was kann nun also konkret helfen, eben solche traumatisch belasteten Tage einigermaßen okay zu überstehen? Wie können Freund*innen, Partner*innen, u.a. die Betroffenen unterstützen?

Wir haben uns mit unserer Partnerin darüber vorhin beim Tee auf dem Sofa unterhalten und möchten Euch ein kleines Sammelsurium an Tipps aus unserem Erfahrungswissen hierlassen. Vielleicht ist ja was Nützliches für Euch dabei:

  • Vor und während der kritischen Tage überlegen/fragen, was der/die Betroffene braucht: In Ruhe gelassen werden oder Gesellschaft? Begleitung? Hilfe bei der Tagesstruktur? Absprachen, Vereinbarungen oder totale Flexibilität?
  • „Die Beziehung bleibt bestehen“: Alles, was hier und heute außerhalb der Täterstrukturen hält und verbindet, ist gut. Mit der/dem Freund*in/Partner*in besprechen, dass es regelmäßigen Kontakt geben wird, z.B.: „Ich melde mich dann und dann per Text- oder Sprachnachricht oder Anruf bei Dir /komme dann und dann vorbei.“, oder: „Wenn ich so und so lange nichts mehr von Dir höre, komme ich vorbei, auch wenn Du jetzt sagst, dass Du nicht besucht werden willst.“, o.a. Nicht darauf warten oder davon ausgehen, dass der/die Betroffene sich schon melden wird, „wenn was ist“.
  • Nicht erwarten, dass die freundschaftliche/romantische o.a. Beziehung selbstverständlich innerlich präsent bleiben wird. Es kann sein, dass der Bezug/die Bindung innerlich verlorengeht/auf Eis gelegt wird, weil zu viel anderes „los ist“ oder bestimmte, unverbundene Innenpersonen weiter vorne sind. Für den/die Angehörige*n wichtig: Bitte nicht persönlich nehmen und nicht ausgerechnet an diesen Tagen ein Fass in Sachen Beziehungsklärung aufmachen. Das kann/soll bis zu einem stabileren, ruhigeren Zeitpunkt warten.
  • Übergangsobjekte etablieren: Der schöne Geruch nach…, ein bestimmtes Foto vom gemeinsamen Erlebnis, ein lustiges Zweier-Selfie, eine Audiodatei von einer von der/dem Freund*in vorgelesenen Geschichte, ein Kuscheltier, ein Freundschaftsbändchen, eine liebevoll geschriebene Postkarte, ein „Best off- irgendwas“-Freund*innen-Mixtape, selbstgebackene Lieblingskekse, das von der Freundin ausgeliehene Shirt, usw.- siehe oben: Halt und Verbindung helfen. Hier und heute muss Bindung ganz neu und konsequent etabliert werden, als Gegenpol zu den ganzen „alten Bindungen“, die sich so hartnäckig festgewachsen haben.
  • Möglichst nicht Einzelkämpfer*innen bleiben: Zu zweit allein ist ähnlich schwierig und riskant wie „allein allein“. Die Last auf mehrere Schultern zu verteilen ist ja quasi ein Prinzip der DIS, was aber nicht zwangsläufig bedeuten muss, dass alle irgendwie gleichermaßen Leid tragen. Es gibt immer auch besonders schwer Belastete innen, die besondere Aufmerksamkeit und Unterstützung brauchen. Und es gibt manchmal Zweierbeziehungen im Außen, die zum Teil symbiotisch gemeinsam am Leid ersticken. Es wäre gut, wenn es mehrere gäbe, die mittragen…
  • Bei bestehendem Täter*innenkontakt und fortgesetzter Gewalt: Wird ein Ende der Gewalt gewollt? Wer hat welche Grenzen? Welche Schutzmaßnahmen dürfen sein? Kann ein gemeinsames Wohnen sinnvoll sein? Welche Stellen im Außen können mit unterstützen? In welchen Fällen kann/darf/soll die Polizei oder der Rettungsdienst alarmiert werden? Wer hat Schlüssel wofür? Sollen Abwesenheiten schriftlich notiert werden? Gibt es den Wunsch nach anonymer Spurensicherung? Wo gibt es Halt für die Angehörigen? Wo ist die Grenze des Aushaltbaren für alle Beteiligten?
  • selbst neue Gewohnheiten oder „Rituale“ entwickeln: Etwas zu bestimmten Zeiten zu tun und/oder zu feiern kann schön sein, wenn es selbst entschieden und entwickelt wurde. Vielleicht „neue Gewohnheiten“ gemeinsam mit der/dem Angehörigen „üben“: „Sonntags gibt´s bei uns immer Pfannkuchen!“ kann für den Anfang leichter und angenehmer zu erleben sein als „Am ersten Weihnachtstag fahren wir immer zu den Schwiegereltern.“
  • Alle Gefühle sind okay. Schwäche ist okay. Sich krank fühlen ist okay. Etwas nicht können/schaffen (was sonst aber vielleicht geht) ist okay. Gestern noch topfit gewesen sein und heute aber platt wie Pizza im Bett liegen ist okay. Traumafolgen sind Verletzungsfolgen und die köcheln nicht immer auf gleicher Flamme. Es hat absolut gar nichts mit (Un-)Glaubhaftigkeit zu tun, wenn die Stimmung/Verfassung insgesamt heftig schwankt oder Krisen und Zusammenbrüche wie aus dem Nichts zu kommen scheinen. Und es bringt nichts, gerade an bestimmten Tagen auf Spurensuche gehen zu wollen („Wo kommt das denn jetzt her?“), wenn Reflektion rein neuropsychologisch überhaupt nicht möglich ist. Da geht´s erst mal „nur“ um Krisenmanagement, und das ist schon anspruchsvoll genug.
  • Ressourcenorientierung, Skillsaktivierung und Co fühlen sich für Angehörige wahrscheinlich oft wie das Nonplusultra an („Hauptsache, man kann was tun und das Leid hört endlich auf!“)- sind aber für Betroffene ebenso oft überfordernd oder stresspotenzierend. „Komm, wir gehen spazieren, die Sonne scheint so schön, Du kannst ja nicht die ganze Zeit in der Wohnung sitzen und Trübsal blasen“ hilft Menschen mit Depressionen genauso wenig wie Traumatisierten in Feiertagskrise. Es darf sich zeigen, was sich schrecklich anfühlt! Das braucht Anerkennung und nicht „Wegreden“, nur weil das Gegenüber es nicht aushalten kann. Ja, es war schlimm, ja, es ist immer noch und immer wieder schlimm- und nein, man kann tatsächlich nichts/nicht immer was dagegen tun. Es ist so viel Ohnmacht damit verbunden- und manchmal geht es „nur“ darum, das gemeinsam auszuhalten und stehenzulassen, ohne Veränderungsanspruch.
  • Traumatisch verseuchte Feiertage werden nicht automatisch dadurch „gereinigt“, dass sie hier und heute besonders „schön“ gestaltet werden. Es ist sehr verständlich, dass Angehörige versuchen wollen, zum Beispiel einen Geburtstag besonders liebevoll für den/die Betroffene auszurichten, in der Hoffnung, dadurch etwas zu „heilen“ oder zu lindern. Ein Stück weit kann das auch auf diesem Wege klappen, aber gleichzeitig kann es auch Druck erzeugen, sich über so viel Zuwendung und Herzlichkeit besonders freuen zu müssen. Und wenn das dann (logischerweise, weil biographisch begründet) nicht auf Anhieb und „ganz natürlich“ klappt, setzt sich evtl. eine Schuldgefühlsspirale in Gang- und das ist Wasser auf die Mühlen vom Traumawiederholungskreislauf.
  • Schuldgefühle sind da und Bestandteil der Traumageschichte. Es macht keinen Sinn, gegenzuargumentieren, wenn der/die Betroffene im Hochstress ist- das Gehirn ist in solchen Momenten/Zeiten nicht dazu in der Lage, auf diese kognitive Spur umzuschalten. Schuldgefühle brauchen Anerkennung, um irgendwann mal evtl. losgelassen werden zu können. Die Kunst des aufmerksamen Zuhörens und „Nicht-Wertens“ kann idealerweise von der/dem Angehörigen praktiziert werden- das Mitteilen der eigenen Sichtweise kann ja zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen.
  • Reizüberflutung vermeiden. Weniger ist mehr.
  • Körperversorgung nicht vergessen: Manchmal ist es unterstützend, an Essen, Trinken, Schlafen, Bewegen, Wärme, frische Luft erinnert zu werden. Manchmal ist es auch hilfreich, bei körperlichen Verletzungen versorgt zu werden oder eine Massage, Umarmung, körperliche Nähe zu erleben.
  • Bewegung erleben, auch wenn man innerlich erstarrt ist: Auch „diese Tage“ gehen zu Ende und es kommen neue/andere. Sonne kommt und geht, Mond auch. Das ist ein normaler, natürlicher Rhythmus. Atmen ist auch so ein Rhythmus.
  • Grenzen sind wichtig: Wo sind die Grenzen des Aushaltbaren? Vorher besprechen, was dann ist/folgen soll. Nichts anbieten oder zusagen, was man nicht einhalten kann. Lieber tiefer stapeln als zu hoch, lieber kleine Etappenschrittchen und -ziele überlegen und angehen, als zu große. Lieber halbstündlich schauen, als stündlich oder ganztägig.
  • Kontaktabbrüche sind manchmal unumgänglich und haben oft gute, logische Gründe. Der/die Betroffene muss eine harte Zeit für sich händeln, da ist manchmal einfach kein Raum mehr für Beziehungspflege im Hier und Jetzt. Sinnvoll ist es, wenn Angehörige das nicht persönlich nehmen oder sich beleidigt zurückziehen, sondern weiter „da“ bleiben (z.B. Nachricht schicken: „Ich habe gerade an Dich gedacht. Ich hab Dich gern!“), Kommunikationsbereitschaft signalisieren und nicht an der Basis der Beziehung zweifeln. Vielleicht gibt es ja auch einzelne Innenpersonen, die doch noch erreichbar sind.
  • Krisennotfallnummern auf Zettel schreiben und an verschiedenen Orten deponieren.
  • Schöne, bewusst ausgewählte, unbelastete Kinderfilme zusammen anschauen oder Hörspiele hören.
  • Nicht klugscheißen. Niemand weiß es besser als der/die Betroffene selbst.
  • Biorhythmus ist individuell. Es ist okay, nachts wach zu bleiben. Man muss nicht schlafen, wenn es nicht geht. Und man ist nicht verpflichtet, sich ein Bett mit der/dem Partner*in zu teilen, nur „weil man das halt so macht in einer Beziehung“. Nicht persönlich nehmen, wenn jemand seinen/ihren Freiraum braucht und bitte nicht in einen Kontrollwahn verfallen!
  • Um über Suizidgedanken sprechen zu können, braucht es Vertrauen und Beziehungssicherheit. Man muss sich darauf verlassen können, dass der/die Angehörige nicht in Panik ausbricht und irgendwas über den Kopf der/des Betroffenen hinweg entscheidet, was mehr schadet als nutzt. Es geht um Offenheit miteinander und Partnerschaftlichkeit und um die Klarheit: Frei-Tod liegt im Selbstbestimmungsrecht eines jeden Menschen. Dass das eine riesengroße Herausforderung für eine Beziehung ist, ist unbestritten. Trotzdem.
  • „Es gibt mehr als das.“ Mehr als Qual, Schmerz, Leid, Ohnmacht, Wut. Mehr als Betroffenheit und Angehörig-Sein. Mehr als Feiertagswahnsinn und Wiederholungsschleifen und Gewalt. Die Welt besteht auch noch aus anderen Dingen, zum Beispiel Liebe, Freiheit, Solidarität, Hilfsbereitschaft, Vogelgezwitscher, Katzenschnurren und Käsekuchen. Das ist alles wahr und echt.

Fähigkeiten, Rechte- und die Gewalt darin.

Jeder Mensch hat das Recht, selbst über sein Leben zu bestimmen, eigene Entscheidungen zu treffen, eigene Wege zu gehen.

Nicht jeder Mensch kann dieses Recht zu jeder Zeit wahrnehmen und umsetzen. Überlebende organisierter, sexualisierter und/oder ritueller Gewalt haben häufig Schwierigkeiten damit, persönliche Rechte überhaupt für sich ernst zu nehmen und zu beanspruchen. Und selbst wenn man kognitiv verstanden hat und weiß, was z.B. Selbstbestimmung eigentlich theoretisch bedeutet, kann man sich noch lange so fühlen, als hätte man diese persönliche Freiheit praktisch gar nicht „verdient“, als könne man sie gar nicht „aushalten“ oder verteidigen.

Selbstbestimmung darf nicht an (Nicht-)Fähigkeiten geknüpft werden. Es handelt sich um ein menschliches Grundrecht. Man muss nicht erst bestimmte Dinge „können“, um dieses Recht für sich zu „erarbeiten“. Es ist einfach da!

Überlebenden organisierter, sexualisierter und/oder ritueller Gewalt begegnet zusätzlich auch noch viel strukturelle Gewalt, z.B. in Form von Diskriminierung, Ableismus, Abhängigkeiten von Sozialleistungsträgern, medizinischer und therapeutischer Unterversorgung, fehlender oder mangelhafter Schutzkonzepte, u.a.

Der eigene Einsatz für ein „gutes* Leben“, in dem die persönlichen Rechte gewahrt werden und Sinnhaftigkeit gespürt werden kann, fühlt sich oftmals wie ein jahrzehntelanger Kampf an- und ist es faktisch wohl häufig auch. Da ist so viel schwer und mühsam, einsam und frustrierend, verletzend und verletzt, zum Teil auch lebensbedrohlich und unaushaltbar. Die Gewalt, bzw. ihre Folgen ziehen sich als roter Faden durch die eigene Existenz.

Und gleichzeitig finden Bewegungen, Entwicklungen, Veränderungen statt. Man erlebt Neues, das sich gut anfühlt; trifft vielleicht zugewandte, freundliche Menschen, die begleiten möchten und können; denkt über Träume, Pläne, Ideen nach; bekommt Zugang und Bewusstsein zum eigenen Innern und den Prozessen darin- und irgendwie entsteht vielleicht mehr Gleichgewicht: Da ist Zerstörtes und Leidvolles und Lebendiges und Gesundes und Hoffnung- und all das ist in mir drin. Alles darf nebeneinander und miteinander „da sein“ und ich lerne immer mehr, liebevoll mit mir zu sein. Weil ich es will und kann.

Der rote Faden ist nicht nur die Gewalt, sondern enthält Beine und Füße, die tragen; ein lebendiges Herz, das konstant schlägt und fühlt; ein Kopf, der verstehen kann und will und (Lösungs-)Strategien entwickelt.

Schwere, langjährige Gewalt zu überleben, hat für uns nichts mit Helden*innentum zu tun. Ein menschlicher Körper ist am Leben geblieben, weil Täter*innen ihn nicht haben sterben lassen und weil individuelle Mechanismen ihn „aufrecht erhalten“ haben.

Wenn ein Kind während massiver Gewalteinwirkung nicht stirbt und die traumatische Zange es nach der Erstarrung in die Fragmentierung treibt- dann ist die Entwicklung einer Dissoziativen Identitätsstruktur eben KEINE Lebensrettung, sondern das Ergebnis von „am Leben bleiben“! „Wir sind Viele geworden, weil wir nicht gestorben sind“ versus „Wären wir nicht Viele geworden, wären wir gestorben!“

Eine Dissoziative Identitätsstörung als Traumafolge ist weder eine zufällige Erkrankung, noch eine selbstgewählte „alternative Lebensform“, sondern eine absolut logische, menschliche Reaktion, die weder selten, noch „bewundernswert“ ist.

Die Vielschichtigkeit, in der das Gehirn diese innere dissoziative Struktur ausgestaltet hat, kann man als „kreativ“ bezeichnen- daneben ist sie aber vor allem eine Anpassungsleistung an ein zerstörerisches Umfeld und lebensbedrohliche Angriffe.

Vom Vorliegen einer DIS darauf zu schließen, dass der betroffene Mensch besondere, möglicherweise „überdurchschnittliche“ Fähigkeiten haben muss, im Leben „zurecht zu kommen“ (wenn man diese Fähigkeiten nur alle entsprechend zu Tage fördern würde), ist keine respektvolle Anerkennung. Im Gegenteil: Der Fokus wird auf das gelegt, was eine Gewalttrauma-assoziierte Behinderung darstellt.

Weshalb sollte ein Mensch, dessen Gehirn über viele Jahre Dissoziation in ausgeprägter Form „etablieren“ musste (und dessen Gehirn sich dadurch auch strukturell veränderte!), stärker, resilienter oder „veränderungsfähiger“ sein als andere Menschen mit nicht-dissoziativer Persönlichkeitsstruktur?

Und warum sollte er andererseits aufgrund dieser Struktur zwangsläufig eingeschränkt sein in der Wahrnehmung seines Selbstbestimmungsrechtes?

Die besonderen Chancen, die eine DIS mit sich bringen kann, sehen wir zum Beispiel darin, Vielfältigkeit greifbarer werden zu lassen. Verschiedene Persönlichkeitsanteile haben unterschiedlichen Zugang zu Eigenschaften, Interessen, Fähigkeiten, inneren Bildern, Erinnerungsinhalten, Emotionen, u.a. Diese Aspekte für sich (und evtl. andere) sicht- und fühlbar werden lassen zu können, ermöglicht auch kreative, individuelle Wege und Kräfte. Eventuell liegen ein_e hohe_s Durchhaltevermögen/Durchhaltebereitschaft vor.

Gelingt es, mit diesem inneren Material zu arbeiten, sich mit all dem „in sich zu Hause“ und sicher zu fühlen und daraus Energie zu transformieren- dann kann ein Leben in Verbindung zu den persönlichen Rechten möglich werden und sein.

Wenn jemand die Selbstbestimmung eines Anderen einschränkt, weil spezielle Fähigkeiten (noch) nicht vorhanden sind oder man ihm/ihr diese Fähigkeiten nicht zutraut, ist das Gewalt.

Menschen anhand individueller Merkmale in (besonders) „fähig“ oder „unfähig“ zu bewerten und zu be-vorurteilen, ist Gewalt.

Eine Traumafolge wie die Dissoziative Identitätsstörung zu glorifizieren, oder sie als individuelle Entscheidung  schön zu reden und daraus eine besondere Überlebensstärke (auch für die Zukunft) abzuleiten -die „es doch ermöglichen müsste, besonders gut zurecht zu kommen“-, ist Gewalt.

… Und zum Schluss, weil es so wichtig ist:

Ich habe das Recht auf körperliche und seelische Unversehrtheit.

Ich habe das Recht auf Abgrenzung, Abwehr, Rückzug und Schutz meiner Privatsphäre.

Ich habe das Recht, Kontakte zu anderen Menschen aufzunehmen, zu halten und zu beenden.

Ich habe das Recht, selbst zu entscheiden, wo und wie ich wohnen möchte. (Fehlende finanzielle Mittel oder fehlender Raum tangieren dieses grundsätzliche Recht nicht.)

Ich habe das Recht auf Hilfe und Unterstützung und ich habe das Recht, deren Wirksamkeit selbst zu definieren und zu bewerten.

Ich habe das Recht, mir Vertrauenspersonen selbst auszusuchen.

Ich habe das Recht der freien Arzt/Ärztinnen- und Therapeuten*innen-Wahl.

Ich habe das Recht, Angebote abzulehnen.

Ich habe das Recht, zu sagen, dass ich die Meinung meines Gegenübers nicht hören möchte.

Ich habe das Recht auf eigene Gedanken, Bewertungen und Meinungen und das Recht, sie zu ändern.

Ich habe das Recht, mein Leben zu beenden, wenn ich das möchte.

Ich habe das Recht, mich zu verändern oder auch nicht.

Ich habe das Recht, Gewalt als solche zu benennen, auch wenn andere Menschen das anders sehen.

Über die Nase direkt zur Basis

Was passiert bei mir, wenn ich die Worte “Zimt“, “warmer Apfel“ und “frische Luft“ lese? Ich muss diese Düfte nicht mal im Hier und Jetzt erneut riechen, sondern kann die Wahrnehmung dessen quasi reaktivieren und mich erinnern – inklusive des Kontextes: Das letzte Picknick mit der Freundin draußen mit diesem leckeren Kuchen…

Der Geruchssinn hat eine Direktleitung zur Basis. Die Eindrücke müssen nicht erst in der Großhirnrinde verarbeitet werden (so wie beim Sehen, Hören, Fühlen), sondern landen unmittelbar im Limbischen System; dort, wo Emotionen verarbeitet, Hormone gesteuert und das vegetative Nervensystem beeinflusst werden.

Der Geruchssinn ist im biologisch ältesten Teil des Gehirns angesiedelt. Er warnt vor Gefahren (Feuer, Gase, u.a.) und hilft bei der Suche nach Wasser und Nahrung (genießbar/ungenießbar?). Das Geruchsgedächtnis wird vor allem in den ersten drei Lebensjahren gebildet. In dieser Zeit sammelt man den Großteil seiner olfaktorischen Eindrücke, die alle eine Spur im Gehirn hinterlassen.

Düfte gleiten also an der Kognition vorbei und können so unkontrolliert innere Türen öffnen.

Sie funktionieren hervorragend als Trigger. Auch verschüttete, vergessene, sehr alte Erinnerungen können plötzlich wieder hochkommen – was sich sehr schön oder auch sehr schlimm anfühlen kann.

Traumatisierte Menschen kennen häufig die besondere Gemeinheit von Geruchstriggern, vor denen man sich nicht schützen kann. Noch bevor man sie identifiziert hat, sind sie bereits “oben gelandet“ und wirken schon. Im besten Fall gelingt es, dem etwas entgegenzusetzen und sich wieder zu orientieren und zu beruhigen. Im schwierigsten Fall ist die Amygdala schon so außer Rand und Band, dass es erst mal nur ums “Weiterleben“ (Atmen) geht.

Häufig wird der Geruchssinn auch von helfenden Personen genutzt, um den/die Betroffene*n aus einem Flashback, einer Dissoziation, o.a. “herauszuholen“. Notfallsanitäter*innen, Pflegepersonal in Kliniken, u.a. setzen meiner Erfahrung nach oft Düfte ein, die den schmerzempfindlichen Geruchsnerv Trigeminus reizen, z.B. Ammoniak. Vermutlich funktioniert dies als “Stopp“ besonders zügig und zuverlässig – der Effekt gleicht aber dem Schock einer Ohrfeige und ich würde mir wünschen, es würden häufiger andere Möglichkeiten überlegt und genutzt.

Düfte können positive Bindungen verankern. Das geliehene Shirt der verreisten Freundin kann über das Vermissen in der Urlaubszeit hinwegtrösten – und den inneren Kontakt halten. Bindungstraumatisierten Menschen fällt es schwer, die Verbindung zum Gegenüber weiter zu fühlen, wenn eine äußere Distanz entsteht. Es kann unterstützen, Fotos anzuschauen, zwischendurch zu telefonieren/schreiben – besonders gut wirkt unserer Erfahrung nach aber vor allem eine Verankerung über die Nase.

Unterstützende, nahe Bezugspersonen von traumatisierten Menschen sollten sich also nicht scheuen, auch über Düfte zu kommunizieren und Kontakt zu halten. Gemeinsame, schöne Erlebnisse duften nach irgendwas, ganz sicher. Bei einer tröstlichen, schützenden, liebevollen Umarmung speichert man unbewusst den ureigenen Körpergeruch des Gegenübers ab – und kann ihn z.B. über ein geliehenes Kleidungsstück bewusst einsetzen, um das Gefühl zu reaktivieren: “Dieses Halstuch duftet nach Geborgenheit, Wärme, Liebe, Sicherheit. Hier und jetzt fühle ich das wieder, auch wenn Person XY gerade gar nicht da ist.“

Es lohnt sich auch, den Geruchssinn zu trainieren. Vielleicht ist er durch verschiedene Faktoren etwas “eingeschlafen“ und kann nicht (mehr) so gut differenzieren. Dann kann es Sinn, Freude und innere Veränderung machen, ihm neue Herausforderungen zu bieten und ihn wichtiger zu nehmen als bisher.

Wann habt Ihr Euch zuletzt ganz bewusst und aufmerksam mit Eurer Nase und ihren Fähigkeiten beschäftigt?

Rezension: „Liebe mit Köpfchen“ von Constanze Schwärzer-Dutta

Mehr als ein Beziehungsratgeber und nicht nur für neurodiverse Paare

„Liebe mit Köpfchen“ ist ein kreatives, interessantes, schlaues und vor allem liebevolles Buch, das in 7 Abschnitten (plus Literaturtipps, Begriffsklärungen, u.a.) diverse Aspekte von neurodiversem Beziehungs(er)leben aufgreift.

Es geht ums achtsame Kennenlernen, Annähern, Streiten und Verstehen; um Respekt, Toleranz und Hinwendung zu sich selbst und zu einem Menschen, der anders strukturiert ist, als man selbst.

Constanze „Conni“ Schwärzer-Dutta ist Autistin und Paarberaterin für neurodiverse Paare. Ihr Buch richtet sich sowohl an autistische Menschen, als auch an nicht autistische Partner*innen und zeigt mögliche Probleme und Lösungen, Methoden und kreative Ideen zur Kommunikationsgestaltung und gegenseitigem Verstehenlernen auf.

Die Autorin schreibt aus eigenen Erfahrungen und eigenem Erleben heraus, erzählt Beispiele aus ihrem Alltag und persönliche Entwicklungen im Laufe der Zeit- was ein besonderes Einfühlen und Begreifen des Lesers/ der Leserin möglich werden lässt. Ihr fachliches Wissen und beruflicher Background kommen hinzu- und daraus entsteht eine gut verständliche, lebensnahe, klar gegliederte Kombination aus Theorie und Praxis.

Für mich ist dieses Buch nicht nur ein Ratgeber. Es ist ein Mutmacher und Haltgeber. Neurodiversität in Beziehungen zu erleben, ist herausfordernd und zum Teil sehr konfliktreich- aber es gibt Veränderungs- und Lösungsmöglichkeiten! Es geht darum, sich mit „Herz und Köpfchen“ der/dem Anderen zuzuwenden und verstehen zu wollen, was in ihm/ihr warum vorgeht und was das für die Beziehung bedeutet- und das Buch ist für mich eine freundliche, unaufgeregte, stärkende Begleitung dabei.

Auch für sogenannte „neurotypische“ Paare oder Single-Menschen kann „Liebe mit Köpfchen“ eine wertvolle Fundgrube an Tipps und Tricks zur Beziehungsgestaltung sein- und eine 188 Seiten starke Erinnerung daran, in Bewegung zu bleiben:

Bleiben Sie auf sich selbst und aufeinander neugierig. Sie sind liebenswert! Haben Sie den Mut Beziehungen einzugehen und diese bewusst zu gestalten!“ (S.13)

„Liebe mit Köpfchen“ von Constanze „Conni“ Schwärzer-Dutta ist am 1.Juli 2022 bei der „edition assemblage“ erschienen und kostet 16 Euro.

Dieser Text enthält unbezahlte Werbung. Ich habe ein kostenloses Rezensionsexemplar von der „edition assemblage“ erhalten.

Stellungnahme zur Doku “Ich bin Viele“ aus der Reihe “37°“

Aus der Sicht der “Intervisionsgruppe von Menschen mit DIS, die im psychosozialen Bereich berufstätig sind“ und der auch wir angehören:

Der oben genannte Film ist das Portrait einer einzelnen Person mit einer DIS.

Als selbst betroffene Personen schauen wir solche Dokumentationen natürlich mit besonderer Neugier an – und auch mit besonderer Hoffnung darauf, das Thema DIS auf achtsame und informative Weise in die Öffentlichkeit gebracht zu sehen.

Denn die DIS ist bis heute eine der psychischen Erkrankungen, über die im öffentlichen Bild besonders viele Mythen und Vorurteile existieren, von der völligen Ableugnung der Validität des Störungsbildes an sich, über meist schauerliche Darstellungen in Spielfilmen, bis hin zu einer gewissen Faszination, die sich in meist emotionalen und unter Umständen voyeuristischen Darstellungen von möglichst vielen Persönlichkeitswechseln ausdrückt.

Alle diese Arten von Darstellungen sind für uns Betroffene jedoch stigmatisierend, da sie nur ganz bestimmte Aspekte des Störungsbildes darstellen und damit an der Realität einer großen Gruppe von Betroffenen vollkommen vorbeigehen.

In unserem Alltag müssen wir so immer wieder Kämpfe um Glaubwürdigkeit, Anerkennung und Augenhöhe ausfechten, die belastend und unnötig wären, wenn
das Störungsbild insgesamt realistischer dargestellt wäre.

Leider hat dieser Film unsere Hoffnungen enttäuscht.

Stattdessen drängt sich uns als Betroffene der Eindruck auf, dass nach Bildern gesucht wurde, die in den Zuschauer*innen möglichst viele Emotionen wecken sollen.

Wenig nachvollziehbar beispielsweise ist die Fokussierung und Kürzung des Materials mit überwiegendem Blick auf den Moment von Persönlichkeitswechseln und eine kindliche Innen-Person, der filmerisch eine vorherrschende Rolle in der Alltagsgestaltung eingeräumt wird.

Hier werden weder die Komplexität des Störungsbildes, noch die bestehenden Kompetenzen der Betroffenen ansatzweise gewürdigt. Im Instagram-Profil der Betroffenen (Sabrinas) sowie auch in den Shownotes in der Mediathekseite wird deutlich, dass ihre erwachsene Kompetenz wesentlich stärker ausgeprägt zu sein scheint, dass beispielsweise Wechsel unter den erwachsenen Alltags-Innenpersonen weit weniger augenfällig sind und sie durchaus in der Lage ist, trotz der DIS und weiterer, schwerwiegender körperlicher Einschränkungen berufliche Kompetenzen zu entwickeln und auch in irgendeinem Ausmaß professionell zu arbeiten.

Kurz gefasst lässt sich dieser Film paraphrasieren: Menschen mit einer DIS verhalten sich kindlich, erinnern sich nicht daran und benötigen anhaltend eine 24-Stunden- Betreuung.

Die möglicherweise auch den Assistenzbedarf mit bedingenden körperlichen Erkrankungen sind in diesem Zusammenhang nicht weiter thematisiert, was neuerlich zu einer unangemessenen Reduktion führt.

Wünschenswert wäre eine Darstellung, die insgesamt die innensystemübergreifende Lebenskompetenz der Betroffenen darstellt, insbesondere in einem vergleichsweise gut recherchierten und finanzierten Format, wie es “37°“ sonst üblicherweise ist.

Als besonders schwierig aus verschiedenen Gründen empfinden wir den Beitrag des professionellen Trauma-Experten Ulrich Sachsse. Seine lapidare Erklärung der Entstehung der Störung, dass die Störung auf schwerer Gewalt beruhe und dass ein Kind, dem dies geschieht, „sich vormacht“, dass es einer anderen Person geschehe, und dass auf diese Weise die traumatischen Erfahrungen auf verschiedene Selbstzustände aufgeteilt würden, ist eine fast schon fahrlässig zu nennende, extrem verkürzte Darstellung.

Auf diese Weise entsteht ein Eindruck von bewusstem Handeln auf Seiten der Opfer, der die reale Gewalt und Einflussnahme durch die Täter*innen und die insgesamte
Komplexität des Geschehens völlig verleugnet.

Des Weiteren wird das Thema Gewalt, in seinem ganzen gesellschaftlichen Kontext, im gesamten Beitrag nur nebensätzlich erwähnt, übrig bleibt vorrangig nur eine Fokussierung auf dem Leiden der Betroffenen.

Wir sehen es dabei auch nicht als Aufgabe der Protagonistin an, über erlebte Gewalt
sprechen zu müssen, aber es fehlt zumindest ein kurzer Hintergrund dazu, und es fehlt vollkommen eine Einordnung in gesellschaftliche Kontexte.

Unklar bleibt bis zuletzt, was das Ziel dieses Beitrages ist. Nicht zu vergessen ist, dass es sich hier um einen Beitrag im öffentlich-rechtlichen Rundfunk mit einer großen Reichweite und einem diversen Pool an Adressat*innen handelt, so dass wenig nachvollziehbar ist, wie ein nur so kleiner Ausschnitt ohne Verweis auf das sehr viel breitere Spektrum und Bild von Menschen mit einer DIS gezeigt wird?

Viele Betroffene mit einer DIS sind sehr funktional in ihrem Alltag, arbeiten in Vollzeit, sind in der Lage, funktionierende soziale Beziehungen zu unterhalten, sind zum Teil sehr kreativ. Gleichzeitig ist diese Stabilität – wie ja auch in dem Beitrag durchaus deutlich wurde, denn auch die Sabrinas waren früher in der Lage, zu studieren und als Lehrerin zu arbeiten – keine Selbstverständlichkeit, und es ist für sehr viele Betroffene ein ewiger Kampf, Anerkennung für ihre Einschränkungen und die benötigte Unterstützung in Form von fachkundiger therapeutischer Langzeit-Therapie zu erhalten.

Es gibt zu wenige ausgebildete Traumatherapeut*innen mit Kassensitz; wird ein Therapieplatz gefunden, so ist die Finanzierung der benötigten Anzahl an Stunden ein andauernder, belastender Kampf.

Über die Dissoziative Identitätsstruktur in all ihren Ausprägungen und in all den Schwierigkeiten, mit denen sowohl hochfunktionale als auch stark unterstützungsbedürftige Betroffene im Alltag wirklich zu kämpfen haben, könnten so viele Aspekte erzählt werden.

Sollte es das Ziel sein, ein breites Publikum mit einer schweren Lebensgeschichte zu unterhalten, „Das Faszinosum Mensch mit DIS“? Wir können uns des Eindrucks nicht erwehren, dass hier mit realem Schrecken und Gewalt „Unterhaltungsfernsehen mit Quote“ gemacht wird, ohne dass eine auch nur ansatzweise angemessene Reflexion dieser ja auch noch tagtäglich in unserer Gesellschaft stattfindenden Gewalt erfolgt. Dies ist bitter und schier nicht zu fassen, nicht zuletzt vor dem Hintergrund des Bekanntwerdens der Verbrechen in Lügde, Bergisch Gladbach und Münster und der
unverändert so immens hohen Dunkelziffer.

Wir als Menschen, die auch Viele sind, distanzieren uns von dieser Form von einseitiger, immer wieder gleicher Berichterstattung zu Lasten der Betroffenen.

Auch wenn dieser Beitrag als Portrait eines einzelnen Menschen mit DIS angelegt ist, wurde mit diesem Beitrag (erneut) die Gelegenheit verschenkt, komplexer, tiefgehender und vielfältiger, aber vor allen Dingen auf Augenhöhe mit den Betroffenen über die Dissoziative Identitätsstruktur zu berichten.

Unterzeichner*innen:

“Intervisionsgruppe von Menschen mit DIS, die im psychosozialen Bereich berufstätig sind“