Kontaktpunkte

Für heute

Erster Mai, „Tag der Arbeit“. Gleichzeitig: Du leistest jeden Tag „unsichtbare“ Arbeit. Nur ein kleiner Teil deines Lebensalltags besteht vielleicht aus Erwerbsarbeit- oder auch aus Armutsbewältigung (die mehr Zeit und Kraft frisst, als manche meinen).

Wann ist mal Pause? Gibt es so etwas wie Urlaub? Wie sieht der Lohn für diese Arbeit aus? Wer stärkt deine Rechte? Wer geht wann und wie dafür auf die Straße?

Ich wünsche dir, dass du heute mal besonders tief durchatmen kannst. Dass du Ruhe und Entspannung findest, sich Momente leicht anfühlen und die Sonne dich innerlich und äußerlich wärmt.

Frei-Zeit.

Für die Seele sorgen

„Seelsorge“ ist eigentlich eine schöne Bezeichnung- wenn da nicht dieser kirchliche, religiöse Bezug wäre. Der Seele Gutes tun, sie wärmen, liebevoll begleiten, schützen, trösten, sie also herzlich umsorgen- wie geht das eigentlich? Wie kann man das nachträglich lernen, wenn man in Kindheit und Jugend emotional vernachlässigt wurde? Und wie soll das gehen, wenn im Außen niemand beim Lernen unterstützt?

Ich glaube, dass manche innere Prozesse durch Psychotherapie zwar in Gang gebracht, gestärkt und unterstützt werden können, aber noch mehr und anderes gebraucht wird. Psychotherapie und andere professionelle Hilfen im Umgang mit Traumafolgen sind ein (!) Bereich, der im/für das Leben wichtig sein kann. „Seel(en)-Sorge“ beinhaltet meiner Meinung nach auch noch Freundschaft und andere private Beziehungen, liebevolle Zuwendung, das Erleben von Gehaltensein, körperliche Nähe, u.a.

Professionelle Hilfen können diese Form der Unterstützung nicht ersetzen: Sie sind inhaltlich und zeitlich begrenzt und für viele Betroffene auch teilweise oder komplett unzugänglich. Ohne Therapie klarkommen zu müssen, kennen viele Gewaltüberlebende.

Für die Seele sorgen, das Herz erwärmen- das kann man auch mit kleinen Gesten erleben und weitergeben: Zuhören, nachfragen, dran bleiben, körperliche Nähe und Zuwendung geben (falls okay für beide/alle), sich melden, miteinander kochen, backen, einen Ausflug machen, malen, weinen, lachen…

Trauma ausradieren kann man damit nicht. Aber kurz- oder auch längerfristig ein Gegengewicht setzen- das geht damit schon.

„Seelsorge“ sollte ein von Kirche/Religion entkoppelter Begriff werden, der sowohl privat als auch fachlich mehr Bedeutung und Anerkennung bekommen sollte.

Lesungen und Gespräche

Am nächsten Dienstag, den 23.4.24, lesen wir in Lüchow aus unserem Buch „zusammen gehalten“.

Lesungsveranstaltungen sind für uns nie reine (Vor-)Lesungen, sondern immer Orte, Räume und Möglichkeiten zum Austausch, zur Vernetzung und Begegnung. Die Verbreitung unserer Texte oder das Bekanntwerden unseres Buches ist uns weniger wichtig – im Grunde benutzen wir unsere geschriebenen Worte eher als Medium, um weiterführend Kontakt herzustellen. Zwischen uns und anderen und zwischen anderen miteinander.

Wir erleben immer wieder, dass unsere Texte wie Türöffner wirken und unsere Sichtbarkeit, Offenheit und Kontaktbereitschaft Menschen darin bestärken, sich selbst auch einzubringen. Das ist für uns immer eine besondere Freude und berührt uns nachhaltig, wenn wir auf unseren Veranstaltungen merken, dass Türen geöffnet werden und man sich respektvoll, aufmerksam und interessiert begegnet.

Insofern besteht also so ein „Paula Rabe -Lesungsnachmittag/-abend“ neben einem Leseteil immer auch aus einem Gesprächs-, Frage-, Austauschteil. Wie er verläuft, wie intensiv gesprochen wird und welche Themen dann aufkommen, ist ganz unterschiedlich und verschieden, so wie eben auch die Menschen es sind, die teilnehmen.

Niemand muss etwas sagen. Es ist auch okay, dabei zu sein und nur zuzuhören.

Wir freuen uns auf Euch!

Warum es wichtig ist, auch nach schwierigen Tagen aufmerksam zu bleiben

Schwierige Tage geschafft? Gut für sich gesorgt, gut durch die Zeit gekommen, relativ wenige posttraumatische Belastungssymptome gespürt?

Stolz und/oder erleichtert, dass es okay geklappt hat, es evtl. keine oder nur milde Selbstverletzungen gab, keinen Suchtrückfall, keinen Täter*innenkontakt?

Oder vielleicht eher froh, dass es nicht ganz so dramatisch wie befürchtet oder erwartet gekommen ist?

Oder auch: Super funktioniert, trotz allem?

Und dann?

Dann sind die „schwierigen Tage“ vorbei, die Notfallpläne werden wieder zur Seite geschoben, man atmet irgendwie (kurz) durch – und plötzlich brennt die Hütte. Tage nach „den Tagen“ geht nichts mehr; da packen dich evtl. die bodenlose Erschöpfung und der Schmerz, der Körper „spielt verrückt“, du bist bis in die Haarspitzen reizüberflutet und dich triggern Dinge so massiv, wie „schon lange nicht mehr“. Vielleicht gerätst du in einen heftigen Selbstverletzungsdruck, spürst Drang zu Menschen hin, die dir schaden, usw. Oder du verstummst, verhärtest, erkaltest, ziehst dich innerlich von allem/allen zurück, fühlst dich so weit weg von „deinem Alltag“ und dir selbst.

Vielleicht schämst du dich dafür, weil die „schweren Tage“ doch vorbei sind und es keinen Grund gibt, jetzt so „abzurutschen“? Vielleicht weißt du nicht, wohin du dich wenden kannst, weil Notfallkontakte oder Zusatzgespräche o.a. nur für bestimmte Daten vereinbart waren- und doch jetzt eigentlich alles wieder gut sein müsste…?

Ich möchte dich ermutigen und bestärken: Versuche, dich nicht fertig zu machen dafür, dass und wann du leidest. Versuche, Krisen nicht als persönliches Versagen anzusehen, sondern als Signal für missachtete Bedürfnisse oder auch überschrittene Grenzen.

Mit komplexen Traumafolgen zu leben, bedeutet chronischen Stress. Den zu kompensieren und im Alltag irgendwie zu „funktionieren“, hast du zwar sehr trainiert und verinnerlicht, aber das heißt nicht, dass es dir und deinem gesamten System „nichts ausmacht“.

Sobald du spüren kannst, WIE hart das ist und wie schrecklich allein du dich damit eigentlich fühlst, ist der Weg vom reinen „Überleben“ ins „Leben“ geöffnet.

Hinweise zu unserer Öffentlichkeitsarbeit

Weil wir öfter gefragt werden, was wir im Kontext unserer Öffentlichkeitsarbeit eigentlich konkret tun, antworten wir hier mal:

Neben der Peer- und Angehörigenberatung (per Email) bieten wir weiterhin Lesungen aus unserem Buch „zusammen gehalten“ (bei uns und im örtlichen Buchhandel bestellbar) mit anschließendem Gespräch/Austausch an.

Außerdem beteiligen wir uns an Vernetzungs- und Selbsthilfeaktionen, begleiten Gründungen von Selbsthilfegruppen für Menschen mit DIS und auch für An-/Zugehörige, geben unsere Erfahrungen mit dem Aufbau der Peerberatung weiter, u.a.

Desweiteren halten wir Vorträge zum Themenbereich „DIS/Traumafolgen/organisierte sexualisierte Gewalt“, nehmen an (Podiums-)Diskussionen teil und haben Erfahrungen in der Planung und Durchführung von Tagungen und Workshops.

Wir sind offen für Anfragen von Institutionen, Einrichtungen, Teams, Journalist*innen und anderen thematisch Interessierten und schauen gerne mit ihnen zusammen, welchen Bedarf es an Informationen, Weiterbildung, Austausch, Vernetzung o.a. gibt und was wir dazu dann individuell zugeschnitten anbieten können.

Man kann uns gerne deutschlandweit einladen!

Kontaktmöglichkeit: paula minus rabe ät posteo punkt de

Peer- und Angehörigenberatung: peer minus beratung ät fhf minus stormarn punkt de

Was und wer hält Dich?

Wenn du eine schwere Zeit hast, was hilft Dir dann, Dich zu halten? Was findet in Deinem Innern statt und was brauchst Du im Außen?

Gibt es eine oder mehrere Personen, auf die Du Dich verlassen kannst, die erreichbar und vertrauenswürdig sind, bei denen Du Dich „gut aufgehoben“ fühlst? Vielleicht gibt es außen niemanden, aber innen schon?

Eine schwere Zeit kommt manchmal plötzlich und unerwartet. Manchmal kündigt sie sich auch an oder kehrt immer zum gleichen Datum wieder. Auch wenn man schon Erfahrungen damit hat, kann es trotzdem immer wieder (neu) kompliziert und belastend sein.

Wir wissen von uns, dass z.B. Ostern Krisenpotenzial für uns hat. Wir kennen uns und die Zusammenhänge, wir leben schon so viele Jahre damit. Krisenprävention können wir nur bedingt betreiben: Es ist jedes Jahr unterschiedlich, wie heftig uns diese Zeit belastet und was wir brauchen, um sie gut zu überstehen.

Es gibt kein Schema F, das uns immer zuverlässig hilft. Mal brauchen wir Rückzug, mal Kontakt nach außen; mal viele Aktivitäten, mal Ruhe; mal Fokus auf biographische Inhalte, mal Ablenkung…

Eine Frage, die uns besonders wichtig ist und die wir konsequent wiederholen, ist die nach dem Halt. Denn Halt kann für Viele unterschiedlich aussehen und auch verschiedene Aspekte haben: Grenzen, Trost, Verbindung, Stabilität, Stärkung, Sicherheit, Liebe, Freundschaft, Ablenkung, Lebendigkeit, u.a.

Innerhalb eines Vielesystems gibt’s natürlich auch viele (verschiedene!) Assoziationen und Bedürfnisse dazu. Nicht immer einfach, sie zusammen zu händeln.

Wie ist das bei Euch? Mögt Ihr zu dem Thema etwas in den Kommentaren rückmelden? Das würde uns freuen!

Innenpersonen auf Wunsch?

©PaulaRabe

DIS ist kein Selbstbedienungsladen.

Ist doch selbstverständlich, denkst Du? Naja.

Wie oft passiert es betroffenen Menschen in sozialen, privaten oder „beruflich unterstützenden“ Kontakten, dass ihnen Forderungen (deutlich ausgesprochen oder mehr oder weniger durch die Blume) entgegengebracht werden: Welche Innenperson wann wie bitteschön da zu sein hat oder bitteschön fernbleiben soll.

Was wird wann als (un-)angemessenes Verhalten bewertet; wobei handelt es sich (für wen) um Grenzüberschreitungen; wann muss was warum wie geschafft oder geleistet werden und wer ist beliebter als der/die andere und warum?

Klinikstationen, auf denen die Regel gilt, dass kindliche Innenpersonen nur innerhalb des Patientenzimmers da sein und sich keinesfalls auf dem Flur bewegen dürfen.

Arztpraxen, in denen gefordert wird, dass man sich sofort zusammenreißen möge, klar und deutlich sprechen solle, o.a.

Freund*innen- und Partner*innenschaften, in denen nur bestimmte Innenpersonen gemocht oder geduldet werden; in denen Konflikte mit Einzelnen nicht geklärt werden oder ausschließlich mit Einzelnen geklärt werden; in denen eine bestimmte Alltagsroutine erwartet wird, u.a.

Gespräche, in denen eine bestimmte Sprache und Ausdrucksweise vorausgesetzt und verlangt wird, ohne auf die jeweiligen kognitiven, persönlichen, altersbezogenen Möglichkeiten der jeweiligen Innenperson Rücksicht zu nehmen.

Und so weiter.

Und wie oft leben Menschen mit DIS damit, dass SIE SELBST meinen, ein Selbstbedienungsladen sein zu müssen, aus dem sie jederzeit alle erforderlichen Nützlichkeiten herauszaubern können?

Zugang nach innen zu bekommen; Kontrolle über Dinge zu erlangen, die einen bisher hinterrücks packten; sich innerlich abzustimmen; ein Team zu bilden; Aufgaben innen (neu, selbstbestimmt) zu verteilen – all das sind super wichtige Prozesse und Errungenschaften für Menschen mit DIS und nicht das, was ich mit dem Selbstbedienungsladen meine.

Mir geht’s um eine Erwartungshaltung an eine unbedingte Funktionalität und Anpassung. Um „everybody’s darling“. Um „Prince Charming“. Um „braves Kind“. Um „unkomplizierte*r Patient*in / Freund*in / Partner*in / Mitarbeiter*in…“.

Was verlangst Du von Dir? Warum?

Lesung am 23.4.24 in Lüchow-Dannenberg

Veranstaltungsankündigung von Violetta Dannenberg e.V. :

„Diese spannende Veranstaltung holen wir nun nach, ein Jahr nachdem sie leider aus Krankheitsgründen abgesagt werden musste. Wir freuen uns sehr auf die beiden Referentinnen!

Lesung, Informations- und Gesprächsveranstaltung mit Paula Rabe (freie Autorin, Überlebende organisierter, sexualisierter Gewalt, Mensch mit Dissoziativer Identitätsstruktur, Peer- und Angehörigenberaterin) und Tina Mehmel (Dipl.Sozialpädagogin und Fachberaterin für Psychotraumatologie).

Nach einem einführenden, fachlichen Einblick in die psychischen Folgen von sexualisierter, organisierter Gewalt auf Menschen, liest Frau Rabe aus ihrem Buch, beschreibt innere und äußere Gespräche, Zeitsprünge, Widerstände, Verbindungen, heilsamen Humor und mehr.

Die Gäste sind aufgefordert, sowohl miteinander, als auch mit Paula Rabe ins Gespräch zu kommen, die sich diesen direkten, persönlichen Kontakt sehr wünscht und – ebenso wie Frau Mehmel – gerne Fragen beantworten wird.

Termin: Dienstag, 23.April 2024, 16 Uhr

Ort: Allerlüd Lüchow

Referentinnen: Paula Rabe und Tina Mehmel

Zielgruppe: alle Interessierten

Diese Veranstaltung kann ohne Anmeldung kostenfrei besucht werden, Spenden sind möglich.“

Die Traumata, die DIS, der Rahmen und die 161

Die Dissoziative Identitätsstruktur ist eine sogenannte Traumafolgestörung. Welche Traumata ursächlich dafür verantwortlich waren, dass ein Mensch mit einer DIS lebt, ist individuell verschieden. Welche Hilfe(n) ein betroffener Mensch im Alltag benötigt, ob überhaupt irgendwo Unterstützungsbedarf besteht, wie lange er worunter wie intensiv leidet- auch das ist unterschiedlich.

Unsere „Erfahrungswerte“ mit dem Thema „DIS“ sind nicht nur subjektiver Natur, weil wir eben selbst betroffen sind. Im Rahmen der Peerberatung haben wir seit dem Start vor gut drei Jahren mit ca.160 Betroffenen (und mit ca.60 An-/Zugehörigen und anderen Unterstützungspersonen) näheren Kontakt und Austausch gehabt. Auch im Kontext unserer Lesungen oder anderer Öffentlichkeitsarbeit erfahren wir immer wieder Persönliches von und über Menschen mit DIS.

Das, was wir dabei hören und erleben, bezieht sich hauptsächlich auf Betroffene, die in Deutschland leben. Es geht immer wieder um die Schwierigkeit, therapeutische, sozialarbeiterische, medizinische oder auch juristische und finanzielle Hilfe zu bekommen. Die meisten der Vielen, mit denen wir in der Peerberatung Kontakt hatten und haben, sind armutsbetroffen oder -gefährdet, zum Teil sozial isoliert und auch körperlich chronisch krank. Manche sind in einer Berufstätigkeit chronischem Stress und Überforderung ausgesetzt, z.B. weil sie Therapieselbstzahler*innen sein müssen, weil keine andere Institution diese Kosten übernimmt.

Komplextraumatisierte Menschen, die in Deutschland leben, sind meistens permanent damit konfrontiert, um Unterstützung kämpfen zu müssen. Es gibt zwar zuständige Stellen, zum Beispiel Kranken- und Pflegekassen, Sozialämter, Jugendämter, Versorgungsämter, Justiz u.a., aber die Möglichkeiten der Hilfe sind und werden massiv eingeschränkt. Es wäre anders möglich, wenn verantwortliche Personen ihre Macht zur Entscheidung über die Verteilung von Geldern sinnvoll und gerecht einsetzen würden- und wenn der Zugang zu Hilfsangeboten niedrigschwellig, barrierefrei und auch sprachlich „einfach“ für Betroffene wäre.

Dass es in Deutschland nicht genügend Psychotherapieplätze gibt, spüren alle psychisch erkrankten Menschen. Dass der Zugang zu den wenigen freien Plätzen für komplextraumatisierte Menschen, speziell mit DIS, besonders erschwert ist, hat unserer Ansicht und Erfahrung nach nicht nur damit zu tun, dass es zu wenige traumatherapeutische Angebote gibt, sondern auch damit, wie die Dissoziative Identitätsstruktur mystifiziert und spezifiziert wird.

Eine DIS therapeutisch zu behandeln heißt erst mal, einen komplex traumatisierten Menschen zu behandeln. Dieser Mensch könnte auch mit einer Depression, einer Essstörung, Ängsten, psychosomatischen oder anderen Beschwerden, die nicht direkt als Traumafolgen identifizierbar sind, in einer Praxis auftauchen. Es geht erst mal um die Symptome, unter denen der Mensch leidet und wofür er Unterstützung braucht. Viele Menschen mit einer DIS überlegen sich auf der Suche nach Hilfe, ob sie überhaupt „outen“ sollten, dass sie Viele sind. Weil sie bereits wissen und erlebt haben, wie oft diese Traumafolge als Ausschlusskriterium angesehen wird: Zu schwerwiegend, zu komplex, zu langwierig, zu anspruchsvoll, zu bedrohlich, zu irgendwas. Aber stimmt das (immer) so? Und wenn es stimmt: Was (wer) trägt denn dazu bei?

Die Dissoziative Identitätsstruktur gilt als „schwere Traumafolgestörung“. Sie entwickelt sich in der Kindheit in einem traumatisierenden Kontext, der über lange Zeit besteht und aus dem es keinen Ausweg und keine Rettung gibt. Das bedeutet, dass ein Mensch mit einer DIS immer auch ein von der Gesellschaft alleingelassenes, ignoriertes oder vergessenes Kind war- und als Erwachsene(r) oftmals ähnliche Erfahrung mit „Hilflosigkeit“ machen muss. Dass komplextraumatisierte Kinder überhaupt so schwere Schäden davontragen können, hat auch damit zu tun, dass sie keine oder nicht genügend oder passende Hilfe im sozialen Gefüge des Kindergartens, der Schule, der Nachbarschaft, des Vereins, der Behörden etc. erhalten. Wird ein Kind nach einem traumatischen Erlebnis sofort umfassend therapeutisch, pädagogisch, medizinisch o.a. versorgt, muss sich daraus keine (komplexe) posttraumatische Belastungsstörung entwickeln. Ist den erwachsenen Personen im Umfeld eines Kindes bewusst, dass emotionale, sexualisierte, körperliche oder sonstige Gewalt zum Lebensalltag gehören kann und sie (Mit-)Verantwortung dafür tragen, dass ein betroffenes Kind Schutz erfährt, muss dieses Kind nicht im Laufe der Jahre eine DIS entwickeln.

Und wenn sie dann doch entstanden ist, die DIS, und der Mensch nach vielen Jahren Lebenserfahrung des Alleingelassenwerdens Schritte macht auf der Suche nach Begleitung/Unterstützung, und dabei vor eine Wand nach der nächsten läuft; und dabei Abwertung, Leugnung, Ignoranz, Diskriminierung erlebt; und die dissoziative Symptomatik immer schlimmer und heftiger wird; und öffentlich verbreitet wird, bestimmte Gewaltformen gäbe es gar nicht, sondern seien nur Lügengeschichten; und in all dem mit ganz viel K(r)ampf die Fassade der „unerschütterlichen Funktionalität“ aufrecht erhalten wird, weil es furchtbar weh tut, wenn man nicht das leistet und schafft, was gesellschaftlich gefordert und anerkannt wird-

ist dann tatsächlich die DIS das Problem? Oder wird sie im Laufe der Zeit zu einem immer größeren, komplexeren, langwierigeren, anspruchsvolleren, bedrohlicheren (…) Problem, weil die Betroffenen nicht (zeitnah) die Hilfe bekommen, die sie brauchen?

Was wäre denn, wenn es eine umfassende, bedarfsgerechte Versorgung für komplextraumatisierte Menschen (egal mit welchen Traumafolgesymptomatiken!) gäbe? Wenn sie NICHT jahrelang nach einem ambulanten und/oder stationären Therapieplatz, nach ambulanter Begleitung, betreutem Wohnen oder „Hilfen zur Erziehung“ ihrer Kinder suchen müssten; wenn sie NICHT vor Gericht mit Klagen gegen Versorgungsämter, Krankenkassen oder andere Behörden scheitern würden; wenn sie NICHT in Medien mit Opferfeindlichkeit und Täterfreundlichkeit konfrontiert würden; wenn sie NICHT schutzlos Täterorganisationen ausgesetzt wären, weil es keine Schutzeinrichtungen für sie gibt; wenn sie NICHT unter Einsamkeit und sozialer Isolation leiden würden…? Was wäre denn dann? Wäre die DIS (immer) noch der „worst case“ für potenzielle Behandler*innen, der für sie viele Jahre großen Zeit- und Energieaufwand bedeuten würde?

Und was wäre, wenn es professionellen Unterstützungspersonen leichter gemacht werden würde, ihre Arbeit (gut) zu tun? Wenn es kein Finanzierungshickhack gäbe; wenn genügend Raum, Zeit und Möglichkeiten zur Vernetzung, Supervision, Weiterbildung, Psychohygiene vorhanden wären? Wenn der Inhalt, der Umfang und die Bedeutung der Behandlung von Komplextraumatisierten selbstverständlich angemessen entlohnt, gewürdigt und respektiert werden würde?

Sollten Betroffene wirklich immer wieder zu hören und zu spüren bekommen, dass ihre „spezielle Erkrankung“ den Rahmen sprengt? Ist die DIS das Problem oder der Rahmen? Warum ist der Rahmen denn so, wie er ist und MUSS er wirklich so bleiben? Wer kann was dafür tun, dass sich etwas ändert? Wird das denn überhaupt gewollt?

Eine Dissoziative Identitätsstruktur ist eine Traumafolgestörung- nicht mehr und nicht weniger. Wie sie entstanden ist, ob nun in einem familiären oder außerfamiliären gewaltvollen Kontext, im Krieg, auf der Flucht, in einer organisierten Gruppierung, in einem Krankenhaus, Heim oder in einer Pflegefamilie; durch sexualisierte oder emotionale Gewalt oder Vernachlässigung – es gibt so viele mögliche Ursachen! -, sagt nichts darüber aus, wie sehr ein Mensch aktuell leidet. Und andersherum auch nicht: Viele oder wenige alltagsbelastende Einschränkungen sagen nichts über die Massivität der Traumatisierungen aus.

Es spuken so viele Infos über die DIS in sozialen Medien, im Fernsehen, in Videos, in Büchern u.a. herum- und nicht alles davon hat Hand und Fuß. Auch in diesem Punkt finden wir es wichtig, zu hinterfragen: Woher nehme ich mein (vermeintliches) Wissen über die DIS? Wie ist das Bild, dass ich von der DIS habe, entstanden? Wo/wie bilde ich mich fort, wo/wie arbeite ich mit wem zusammen, wen empfinde ich warum als „Profi“, wem höre ich zu?

Welche Erfahrungen habe ich als Hilfsperson in der Arbeit mit Vielen gemacht? Habe ich immer gewusst, wohin ich mich bei Fragen und Unklarheiten wenden kann? Hatte ich Unterstützung und Verständnis von Vorgesetzten? Waren meine Arbeitsbedingungen so, dass ich das Gefühl hatte, gut und „frei“ aktiv sein zu können? Wann spürte ich vielleicht das erste Mal Angst, Wut, Abwehr, Skepsis, Ermüdung oder Überforderung im Kontakt mit der betroffenen Person? Wie viel davon hing unmittelbar mit den Vielen zusammen und wie viel mit „dem Rahmen“?

Es gibt durchaus Herausforderungen bei einer Dissoziativen Identitätsstruktur, die Unterstützer*innen an ihre Grenzen bringen. Dann kann es eben doch „die DIS“ sein, die sich „zu komplex“ anfühlt- denn es handelt sich ja nicht um z.B. eine „kurze Episode von Niedergeschlagenheit“, sondern um ein vielschichtiges Symptombild. Wenn es zu verwuselt, zu kriselig, zu besorgniserregend, zu lebensbedrohlich, zu widersprüchlich, zu ambivalent, verwurschtelt, nah, persönlich oder was auch immer wird- dann geht es vielleicht an dem Punkt nicht mehr weiter und braucht Anderes, Neues, weitere Hilfen. Die Möglichkeit, sich aus einer Situation, bzw. einem Kontakt, der sich „zu komplex“ (zu überfordernd?) anfühlt, zu lösen und durch die Herstellung von Distanz für sich selbst zu sorgen, haben so nur die Unterstützer*innen. Die Betroffenen bleiben damit schließlich alleine zurück. Mit dem, was für andere „zu groß“ erscheint. Was (zu) viel Raum, Zeit, Engagement, Wissen, Geld erfordert. Und sie zweifeln an sich, (erst mal) nicht am Rahmen.

160 (plus x) Betroffene, mit denen wir zum Teil über Monate intensiv geschrieben haben. 161 Leben (inklusive unserem), die sich unterscheiden und an maßgeblichen Punkten ähneln oder sogar gleichen. 161 Leben in Deutschland, wo genügend Geld vorhanden ist, um den Bundeswehretat spontan aufzustocken, Fußballer zu Millionären zu machen oder irgendeinen Kackscheiß zu vergolden. Dort, wo trotz des Privilegs der gesetzlichen Krankenversicherung und einem Haufen an „Sozial“-Gesetzen kaum jemand unkompliziert und ohne Kampf eine Anerkennung der Pflegebedürftigkeit, Schwerbehinderung oder diverser Notsituationen erhält. Dort, wo komplextraumatisierte Kinder in „Flüchtlingsunterkünften“ „geduldet“ und alleingelassen werden, weil sie ja gar nicht hier geboren wurden.

(Nur) 161 Leben von (v)Vielen.