Kontaktpunkte

Die Traumata, die DIS, der Rahmen und die 161

Die Dissoziative Identitätsstruktur ist eine sogenannte Traumafolgestörung. Welche Traumata ursächlich dafür verantwortlich waren, dass ein Mensch mit einer DIS lebt, ist individuell verschieden. Welche Hilfe(n) ein betroffener Mensch im Alltag benötigt, ob überhaupt irgendwo Unterstützungsbedarf besteht, wie lange er worunter wie intensiv leidet- auch das ist unterschiedlich.

Unsere „Erfahrungswerte“ mit dem Thema „DIS“ sind nicht nur subjektiver Natur, weil wir eben selbst betroffen sind. Im Rahmen der Peerberatung haben wir seit dem Start vor gut drei Jahren mit ca.160 Betroffenen (und mit ca.60 An-/Zugehörigen und anderen Unterstützungspersonen) näheren Kontakt und Austausch gehabt. Auch im Kontext unserer Lesungen oder anderer Öffentlichkeitsarbeit erfahren wir immer wieder Persönliches von und über Menschen mit DIS.

Das, was wir dabei hören und erleben, bezieht sich hauptsächlich auf Betroffene, die in Deutschland leben. Es geht immer wieder um die Schwierigkeit, therapeutische, sozialarbeiterische, medizinische oder auch juristische und finanzielle Hilfe zu bekommen. Die meisten der Vielen, mit denen wir in der Peerberatung Kontakt hatten und haben, sind armutsbetroffen oder -gefährdet, zum Teil sozial isoliert und auch körperlich chronisch krank. Manche sind in einer Berufstätigkeit chronischem Stress und Überforderung ausgesetzt, z.B. weil sie Therapieselbstzahler*innen sein müssen, weil keine andere Institution diese Kosten übernimmt.

Komplextraumatisierte Menschen, die in Deutschland leben, sind meistens permanent damit konfrontiert, um Unterstützung kämpfen zu müssen. Es gibt zwar zuständige Stellen, zum Beispiel Kranken- und Pflegekassen, Sozialämter, Jugendämter, Versorgungsämter, Justiz u.a., aber die Möglichkeiten der Hilfe sind und werden massiv eingeschränkt. Es wäre anders möglich, wenn verantwortliche Personen ihre Macht zur Entscheidung über die Verteilung von Geldern sinnvoll und gerecht einsetzen würden- und wenn der Zugang zu Hilfsangeboten niedrigschwellig, barrierefrei und auch sprachlich „einfach“ für Betroffene wäre.

Dass es in Deutschland nicht genügend Psychotherapieplätze gibt, spüren alle psychisch erkrankten Menschen. Dass der Zugang zu den wenigen freien Plätzen für komplextraumatisierte Menschen, speziell mit DIS, besonders erschwert ist, hat unserer Ansicht und Erfahrung nach nicht nur damit zu tun, dass es zu wenige traumatherapeutische Angebote gibt, sondern auch damit, wie die Dissoziative Identitätsstruktur mystifiziert und spezifiziert wird.

Eine DIS therapeutisch zu behandeln heißt erst mal, einen komplex traumatisierten Menschen zu behandeln. Dieser Mensch könnte auch mit einer Depression, einer Essstörung, Ängsten, psychosomatischen oder anderen Beschwerden, die nicht direkt als Traumafolgen identifizierbar sind, in einer Praxis auftauchen. Es geht erst mal um die Symptome, unter denen der Mensch leidet und wofür er Unterstützung braucht. Viele Menschen mit einer DIS überlegen sich auf der Suche nach Hilfe, ob sie überhaupt „outen“ sollten, dass sie Viele sind. Weil sie bereits wissen und erlebt haben, wie oft diese Traumafolge als Ausschlusskriterium angesehen wird: Zu schwerwiegend, zu komplex, zu langwierig, zu anspruchsvoll, zu bedrohlich, zu irgendwas. Aber stimmt das (immer) so? Und wenn es stimmt: Was (wer) trägt denn dazu bei?

Die Dissoziative Identitätsstruktur gilt als „schwere Traumafolgestörung“. Sie entwickelt sich in der Kindheit in einem traumatisierenden Kontext, der über lange Zeit besteht und aus dem es keinen Ausweg und keine Rettung gibt. Das bedeutet, dass ein Mensch mit einer DIS immer auch ein von der Gesellschaft alleingelassenes, ignoriertes oder vergessenes Kind war- und als Erwachsene(r) oftmals ähnliche Erfahrung mit „Hilflosigkeit“ machen muss. Dass komplextraumatisierte Kinder überhaupt so schwere Schäden davontragen können, hat auch damit zu tun, dass sie keine oder nicht genügend oder passende Hilfe im sozialen Gefüge des Kindergartens, der Schule, der Nachbarschaft, des Vereins, der Behörden etc. erhalten. Wird ein Kind nach einem traumatischen Erlebnis sofort umfassend therapeutisch, pädagogisch, medizinisch o.a. versorgt, muss sich daraus keine (komplexe) posttraumatische Belastungsstörung entwickeln. Ist den erwachsenen Personen im Umfeld eines Kindes bewusst, dass emotionale, sexualisierte, körperliche oder sonstige Gewalt zum Lebensalltag gehören kann und sie (Mit-)Verantwortung dafür tragen, dass ein betroffenes Kind Schutz erfährt, muss dieses Kind nicht im Laufe der Jahre eine DIS entwickeln.

Und wenn sie dann doch entstanden ist, die DIS, und der Mensch nach vielen Jahren Lebenserfahrung des Alleingelassenwerdens Schritte macht auf der Suche nach Begleitung/Unterstützung, und dabei vor eine Wand nach der nächsten läuft; und dabei Abwertung, Leugnung, Ignoranz, Diskriminierung erlebt; und die dissoziative Symptomatik immer schlimmer und heftiger wird; und öffentlich verbreitet wird, bestimmte Gewaltformen gäbe es gar nicht, sondern seien nur Lügengeschichten; und in all dem mit ganz viel K(r)ampf die Fassade der „unerschütterlichen Funktionalität“ aufrecht erhalten wird, weil es furchtbar weh tut, wenn man nicht das leistet und schafft, was gesellschaftlich gefordert und anerkannt wird-

ist dann tatsächlich die DIS das Problem? Oder wird sie im Laufe der Zeit zu einem immer größeren, komplexeren, langwierigeren, anspruchsvolleren, bedrohlicheren (…) Problem, weil die Betroffenen nicht (zeitnah) die Hilfe bekommen, die sie brauchen?

Was wäre denn, wenn es eine umfassende, bedarfsgerechte Versorgung für komplextraumatisierte Menschen (egal mit welchen Traumafolgesymptomatiken!) gäbe? Wenn sie NICHT jahrelang nach einem ambulanten und/oder stationären Therapieplatz, nach ambulanter Begleitung, betreutem Wohnen oder „Hilfen zur Erziehung“ ihrer Kinder suchen müssten; wenn sie NICHT vor Gericht mit Klagen gegen Versorgungsämter, Krankenkassen oder andere Behörden scheitern würden; wenn sie NICHT in Medien mit Opferfeindlichkeit und Täterfreundlichkeit konfrontiert würden; wenn sie NICHT schutzlos Täterorganisationen ausgesetzt wären, weil es keine Schutzeinrichtungen für sie gibt; wenn sie NICHT unter Einsamkeit und sozialer Isolation leiden würden…? Was wäre denn dann? Wäre die DIS (immer) noch der „worst case“ für potenzielle Behandler*innen, der für sie viele Jahre großen Zeit- und Energieaufwand bedeuten würde?

Und was wäre, wenn es professionellen Unterstützungspersonen leichter gemacht werden würde, ihre Arbeit (gut) zu tun? Wenn es kein Finanzierungshickhack gäbe; wenn genügend Raum, Zeit und Möglichkeiten zur Vernetzung, Supervision, Weiterbildung, Psychohygiene vorhanden wären? Wenn der Inhalt, der Umfang und die Bedeutung der Behandlung von Komplextraumatisierten selbstverständlich angemessen entlohnt, gewürdigt und respektiert werden würde?

Sollten Betroffene wirklich immer wieder zu hören und zu spüren bekommen, dass ihre „spezielle Erkrankung“ den Rahmen sprengt? Ist die DIS das Problem oder der Rahmen? Warum ist der Rahmen denn so, wie er ist und MUSS er wirklich so bleiben? Wer kann was dafür tun, dass sich etwas ändert? Wird das denn überhaupt gewollt?

Eine Dissoziative Identitätsstruktur ist eine Traumafolgestörung- nicht mehr und nicht weniger. Wie sie entstanden ist, ob nun in einem familiären oder außerfamiliären gewaltvollen Kontext, im Krieg, auf der Flucht, in einer organisierten Gruppierung, in einem Krankenhaus, Heim oder in einer Pflegefamilie; durch sexualisierte oder emotionale Gewalt oder Vernachlässigung – es gibt so viele mögliche Ursachen! -, sagt nichts darüber aus, wie sehr ein Mensch aktuell leidet. Und andersherum auch nicht: Viele oder wenige alltagsbelastende Einschränkungen sagen nichts über die Massivität der Traumatisierungen aus.

Es spuken so viele Infos über die DIS in sozialen Medien, im Fernsehen, in Videos, in Büchern u.a. herum- und nicht alles davon hat Hand und Fuß. Auch in diesem Punkt finden wir es wichtig, zu hinterfragen: Woher nehme ich mein (vermeintliches) Wissen über die DIS? Wie ist das Bild, dass ich von der DIS habe, entstanden? Wo/wie bilde ich mich fort, wo/wie arbeite ich mit wem zusammen, wen empfinde ich warum als „Profi“, wem höre ich zu?

Welche Erfahrungen habe ich als Hilfsperson in der Arbeit mit Vielen gemacht? Habe ich immer gewusst, wohin ich mich bei Fragen und Unklarheiten wenden kann? Hatte ich Unterstützung und Verständnis von Vorgesetzten? Waren meine Arbeitsbedingungen so, dass ich das Gefühl hatte, gut und „frei“ aktiv sein zu können? Wann spürte ich vielleicht das erste Mal Angst, Wut, Abwehr, Skepsis, Ermüdung oder Überforderung im Kontakt mit der betroffenen Person? Wie viel davon hing unmittelbar mit den Vielen zusammen und wie viel mit „dem Rahmen“?

Es gibt durchaus Herausforderungen bei einer Dissoziativen Identitätsstruktur, die Unterstützer*innen an ihre Grenzen bringen. Dann kann es eben doch „die DIS“ sein, die sich „zu komplex“ anfühlt- denn es handelt sich ja nicht um z.B. eine „kurze Episode von Niedergeschlagenheit“, sondern um ein vielschichtiges Symptombild. Wenn es zu verwuselt, zu kriselig, zu besorgniserregend, zu lebensbedrohlich, zu widersprüchlich, zu ambivalent, verwurschtelt, nah, persönlich oder was auch immer wird- dann geht es vielleicht an dem Punkt nicht mehr weiter und braucht Anderes, Neues, weitere Hilfen. Die Möglichkeit, sich aus einer Situation, bzw. einem Kontakt, der sich „zu komplex“ (zu überfordernd?) anfühlt, zu lösen und durch die Herstellung von Distanz für sich selbst zu sorgen, haben so nur die Unterstützer*innen. Die Betroffenen bleiben damit schließlich alleine zurück. Mit dem, was für andere „zu groß“ erscheint. Was (zu) viel Raum, Zeit, Engagement, Wissen, Geld erfordert. Und sie zweifeln an sich, (erst mal) nicht am Rahmen.

160 (plus x) Betroffene, mit denen wir zum Teil über Monate intensiv geschrieben haben. 161 Leben (inklusive unserem), die sich unterscheiden und an maßgeblichen Punkten ähneln oder sogar gleichen. 161 Leben in Deutschland, wo genügend Geld vorhanden ist, um den Bundeswehretat spontan aufzustocken, Fußballer zu Millionären zu machen oder irgendeinen Kackscheiß zu vergolden. Dort, wo trotz des Privilegs der gesetzlichen Krankenversicherung und einem Haufen an „Sozial“-Gesetzen kaum jemand unkompliziert und ohne Kampf eine Anerkennung der Pflegebedürftigkeit, Schwerbehinderung oder diverser Notsituationen erhält. Dort, wo komplextraumatisierte Kinder in „Flüchtlingsunterkünften“ „geduldet“ und alleingelassen werden, weil sie ja gar nicht hier geboren wurden.

(Nur) 161 Leben von (v)Vielen.

3 Kommentare

  1. Hallo Paula,

    vielen Dank und ein großes Kompliment für diesen vielschichtigen, sehr differenzierten, analytischen Blick auf das Thema. Du sprichst mir aus dem Herzen.

    Liebe Grüße von Sanne

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