Kontaktpunkte

Vernetzung: Rückblick, Einblick, Ausblick

virtuelles Selbsthilfeforum, ca.2003:

Unsere ersten ausgestreckten Fühler zu anderen Menschen mit DIS… Wir lesen viel Ähnliches, Fremdes, Irritierendes, Verstörendes. Es gibt Support, Diskussionen und Mobbing. Wir bekommen zum ersten Mal einen Eindruck davon, wie Gewalt im Internet abläuft und welche Rolle dabei auch Neid und Missgunst spielen können. Menschen mit DIS sind nicht automatisch eine funktionierende, freundliche, solidarische Community- das erleben wir bis heute so.

Trotzdem, bzw. gleichzeitig lernten wir im Laufe der Zeit einzelne Personen etwas näher kennen und spüren auch positive, unterstützende Verbindungen mit anderen Vielen.

Wichtig war und ist: Das „sowohl…, als auch…“ im Blick zu behalten- und zu realisieren, wie kraft- und machtvoll Gewalt strukturell gefestigt und gewollt ist.

Opferentschädigungs- und Strafverfahren, irgendwann zwischen 2003 und 2013:

Wir werden mehrfach hinsichtlich unserer Aussagefähigkeit, Glaubhaftigkeit und Pathologie begutachtet. Immer wieder taucht dabei die Frage auf, ob wir Kontakt zu anderen Betroffenen haben/hatten und inwiefern wir Fach- oder Selbsthilfeliteratur gelesen haben.

Beides stellt Risiken für uns und Vorteile für die Täter*innen dar: Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Sein und Erleben, den Erinnerungen und inneren Strukturen ist zwar im „stillen Kämmerlein mit sich alleine“ nicht so dramatisch, wehe aber jenen, die damit nach außen gehen und evtl. spiegelnden Kontakt zu Anderen (sowohl Betroffenen/ Peer`s, als auch Unterstützungspersonen wie z.B. Psychotherapeut*innen) suchen- dies kann geradezu ein K.O.-Kriterium bei forensischen Begutachtungen darstellen.

Für die Beschuldigten hingegen gilt das natürlich nicht.

Wenn sie sich z.B. bei „False Memory“-Gruppierungen/Gurus beraten und anwaltlich von einschlägig bekannten Strafverteidiger*innen vertreten lassen, spricht das in Gerichtsverfahren eher für ihr großes Bemühen, ihre vermeintliche Unschuld beweisen zu lassen, als dafür, dass sie Dreck am Stecken haben. Sie können sich in Vereinen „zu Unrecht Beschuldigter“ vernetzen und solidarisieren, können sich in Medien präsentieren, laut sein, Aufstände fabrizieren, sich gegenseitig Geld „spenden“, usw. usf.- ohne negative Auswirkungen auf ihre „Glaubhaftigkeit“ aus Sicht der Justiz oder Forensik. Die „Unschuldsvermutung“ wird einseitig praktiziert. Klar…

„DIS-kurs“-Tagung, 2013:

Wir veranstalten einen „Selbsthilfekongress“ mit zwei anderen Betroffenen, zu dem ca.100 Menschen kommen. Wir erleben sehr viel konstruktiven Austausch, großes Interesse und ein tolles Zusammenwirken. Betroffene und professionell und privat Unterstützende sitzen gemeinsam an „bunten Tischen“, gestalten gemeinsam Workshops und Diskussionsrunden- auf Augenhöhe.

Es wird deutlich, wie groß der Bedarf an Vernetzung auf allen Seiten und wie groß der Wunsch nach Folgeveranstaltungen ist. Wir sind motiviert und erschlagen gleichzeitig.

Wie möchten wir in Zukunft Öffentlichkeitsarbeit machen? Was müssen wir dabei beachten? Welche Fehler wollen wir vermeiden? Wie wird DIS eigentlich in Medien dargestellt? Und wo, verflixt noch mal, bekommt man für verschiedene Projekte finanzielle Mittel her?

Öffentlichkeitsarbeit ist Arbeit! In unserem Themenbereich kann man damit leider nicht so schnell einen Blumentopf gewinnen, da geht´s um „die gute Sache“, die aber vielen Menschen doch etwas zu anstrengend ist und wenn man die Wahl hat, vielleicht sonntags abends dem Serienkiller im „Tatort“ zuzuschauen oder sich mit einer Dokumentation zu den Folgen organisierter, sexualisierter Gewalt auseinanderzusetzen, dann kann man im Grunde keinem verübeln, wenn er/sie sich einfach eine DVD vom „Traumschiff“ einlegt…

Start der Peer- und Angehörigenarbeit, 2020:

In der E-Mail-Beratung erreichen uns viele Anfragen, von Menschen mit (p)DIS, An-/Zugehörigen und professionellen Helfer*innen. Wir sind konfrontiert mit den Auswirkungen der katastrophal mangelhaften, psychotherapeutischen Versorgungslage und der fehlenden Schutzeinrichtungen; den überforderten, erschöpften, alleingelassenen Unterstützer*innen und unserer Frage: „Wo/Wie können wir uns mit Anderen zu unserer Arbeit austauschen?“.

Peerarbeit im Bereich der „Traumafolgestörungen“ scheint noch nicht besonders etabliert zu sein- wir fühlen uns „allein auf weiter Flur“, suchen nach Fort- und Weiterbildungsmöglichkeiten und veröffentlichen einen Aufruf zur Gründung einer „Austauschgruppe für Menschen mit DIS, die im psychosozialen Bereich arbeiten“. Die Resonanz ist toll- und bis heute hat sich daraus eine konstante, vertrauensvolle Gruppe entwickelt.

Immer wieder beschäftigt uns darin die Frage, wie viel DIS-Outing eigentlich wo gehen kann oder soll oder will- und wo und wie sichere Begegnungen mit anderen Menschen stattfinden können. Sowohl im beruflichen, als auch im privaten, als auch im „Hilfe-bedürftigen“ Kontext.

Sommer und Herbst, 2022:

Wir treffen andere Viele und Begleitende zu einem selbstorganisierten Sommerpicknick („Könntet Ihr sowas vielleicht auch in NRW/Österreich/Niedersachen etc. anbieten? Macht Ihr das nächstes Jahr wieder?“- und wir mittendrin); nehmen am Abschlusstreffen eines sich verabschiedenden „Arbeitskreises gegen rituelle Gewalt“ teil („Wie schade, dass es nicht weitergehen kann!“ -„Will vielleicht jemand in Zukunft die Organisation übernehmen?“ – „Äh, nein, das schaffe ich zeitlich/kräftemäßig nicht… So viele Überstunden und überhaupt!“- und wir mittendrin); lesen und sprechen in Köln (mit erhobenen Stinkefingern Richtung ortsansässige Täter*innen); beenden nach einem Jahr erfolglos unsere Suche nach einem ambulanten Therapieplatz für uns selbst und werden von Psychotherapeut*innen in der Emailberatung gefragt, ob wir als Urlaubsvertretung für ihre Klient*innen da sein könnten und zudem auch evtl. einen Emailverteiler zur Vernetzung anbieten würden.

Wir erkennen, wie oberwichtig plötzlich das Grenzenspüren und -setzen geworden ist. Und wie wenig Lust wir auf Alleinverantwortlichkeit, „Quotenbetroffenenrolle“ und „Weltrettung“ haben.

Anfang Mai, 2023:

Wir sitzen in einem Saal mit 200 Menschen und hören einem ärztlichen Direktor dabei zu, wie er die lange erwartete Stellungnahme der DGTD zum Spiegel-Artikel („Im Teufelskreis“, 11.03.2023) vorliest.

Dabei vermissen wir nicht nur eine Bezugnahme auf die inhaltliche Differenzierung des Begriffes „rituelle Gewalt“, sondern auch weniger Egozentrik.

Im weiteren Verlauf der Tagung mit dem Titel „Gewalt – Macht – Sinn; Trauma, Dissoziation und Spiritualität“ fällt uns an verschiedenen Stellen immer wieder ein flapsiger, süffisanter Unterton auf; wir spüren eine herablassende, zum Teil elitäre „Energie“ oder „Stimmung“ einzelner „Fachleute“ und beobachten irritierte, frustrierte und enttäuschte Reaktionen/Kommentare von anderen Teilnehmenden.

Fehlt der Bezug zur Arbeitspraxis? Die Verbindung zur Basis?

Es gibt auch in Therapeut*innen-Kreisen eine gewaltvolle Hierarchie, ein „die da oben“ (Klinikleitung, Fachärzt*innen, Psychotherapeut*innen, u.a.) und „die da unten“ (Sozialarbeiter*innen, Erzieher*innen, Seelsorge, Pädagog*innen, u.a.)!

Wie vernetzen sich eigentlich professionelle Helfer*innen untereinander?

Glücklicherweise gibt es auch diverse Lichtblicke an diesem Tagungswochenende:

(Mindestens) Zwei sich als von Gewalt komplextraumatisiert „outende“ Referent*innen zeigen sehr gut, dass „Betroffenenrolle“ und „Profirolle“ durchaus zusammen funktionieren können (und vermitteln wertvolle, arbeitspraktische, nicht „abgehobene“ Inhalte); es finden viele inspirierende, verbindende Gespräche in den Pausen und am Abend statt; es gibt eine berührende, kraftvolle Kunstausstellung einer Betroffenen; spannende, differenzierte ethische Sicht- und Denkweisen zum Thema „Schuld und Vergebung“ sind zu hören – und ein Vortrag zu spiritueller Gewalt, besonders in christlichen Zusammenhängen; gehalten in einem christlichen Akademiehaus mit Bibeln in jedem Zimmer.

Vernetzung findet (auch) im eigenen Kopf statt.

Mitte Mai, 2023:

Es trudeln die ersten Anmeldungen zum Vernetzungstreffen „Dissoziative Identitätsstruktur“ per Email ein. Die inhaltliche Gestaltung unserer Lesung steht auch fest. Wir fühlen uns einigermaßen gut vorbereitet und freuen uns schon. Die wegen Krankheit leider ausgefallene Lesung in Niedersachsen wird im November nachgeholt. Nebenbei denken wir über eine Wiederholung des Sommerpicknicks nach, über eine Art „mehrtägige, kreative Freizeit am Meer für Viele und Begleitende“, über weitere Lesungen und Gespräche anderswo in Deutschland- und darüber, ob „Vernetzung“ für Täter*innen(-Gruppierungen) eigentlich auch so viel Arbeit und Kraftaufwand bedeutet, wie für uns und andere (Betroffene)? Es scheint so, als hätten sie es leichter, sich gegenseitig zu stärken, zu erreichen, zu halten, zu supporten, als unserseins. Als hätten sie zum Einen einen längeren Atem und Arm, zum Anderen auch günstigere (Vor-)Bedingungen und „Mittel“. Und all das hätte dann nur sehr wenig mit „Verschwörungserzählungen“ oder alleiniger „Geld ist Macht“-Theorie zu tun, sondern vielmehr mit gesellschaftlichen Gegebenheiten und „Normalitäten“, die „wir alle“ mittragen und „brauchen“.

Tja.

Weltrettung ist nicht unser Ding.

Durchhaltevermögen im „Klein-Klein“ aber schon, mit möglicherweise langfristigen Auswirkungen auf´s „Große“…

Und da sind wir nicht die Einzigen.

17 Kommentare

  1. Danke für die Einblicke in die DGTD-Tagung.

    Vernetzung geht über Kommunikation und Vertrauen.
    Kommunikation kann man Online machen, Vertrauen wächst eher in persönlichen Begegnungen. Deshalb Vielen Dank Paula für Dein Engagement!!

      1. Ja, und wenn sich Vertrauen in einer Begegnung mit Dir entwickelt, ist das etwas ganz Besonderes, denn für Gewaltüberlebende ist es sehr schwer zu Vertrauen.
        Dieser Umstand ist vermutlich eben auch der Vernetzung von Betroffenen nicht förderlich. Aber auch da gibt es Hoffnung, hoffe z.B. auf „aus unserer Sicht“.

  2. Ein toller Beitrag, liebe Paula! 👍👍👍
    Und ja, ihr habt recht: das, was ihr tut ist unbezahlbar in vielerlei Hinsicht.
    Danke, dass ihr so beharrlich dranbleibt 🤗
    Liebe Grüße von
    Sanne
    PS: mehrtägige kreative Freizeit für Viele und Begleitende am Meer ist eine phantastische Idee.

  3. Auf diese kreative Freizeit hätten wir auch Lust…aber ernsthaft – es ist so viel schwerer für Betroffene, sich zu vernetzen. Schon allein, weil alles so emotional belastend ist/sein kann.

    Wir finden es super, was ihr alles macht und wie lange schon. Und gleichzeitig finden wir es super, dass ihr Grenzen setzt und den Weltrettungsanspruch fallen lasst. Was das allein für eine Leistung ist!

  4. Super interessant zu lesen wie euer Weg und eure Erfahrungen da bisher sind, danke für diesen Einblick, für eure Kraft, die ihr da reinsteckt und gut, wenn ihr auf diese auch achtet. Die Auswirkungen, die das eigene Tun haben, sind oft ja nur im Kleinen direkt „vor Ort“ spürbar, die Kreise, die das im Weiteren zieht/ziehen kann, bekommt man selbst nicht mit. So sachte wie sich eine Welle entwickelt und mit welcher Kraft sie dann am Strand ankommt.. wer weiß, ob das nicht so passiert. Es wäre auf jeden Fall wünschenswert.

    Wir trauen uns bisher nicht zu solchen Vernetzungstreffen zu kommen, hoffentlich irgendwann/bald mal.

  5. “[auf der ] Suche nach einem ambulanten Therapieplatz für uns selbst und werden von Psychotherapeut*innen in der Emailberatung gefragt, ob wir als Urlaubsvertretung für ihre Klient*innen da sein könnten und zudem auch evtl. einen Emailverteiler zur Vernetzung anbieten würden” diese unreflektierte und unüberlegte Anspruchshaltung (die natürlich ihren Ursprung in der grossen Bedürftigkeit durch (zeitliche und personelle) Überforderung haben wird…) ist maximal überfordernd und lässt mich fassungslos mit offenem Mund da sitzen über so viel Unprofessionalität… es tut mir soo leid, dass Du aktuell niemanden findest!

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