„Ich hätte nicht erwartet, dass eine DIS-Betroffene sich so gut ausdrücken kann, wie Sie das gerade tun- das ist ziemlich untypisch, oder?“
versus
„Sie kommen doch hervorragend im Alltag klar, leben in einer langjährigen Partnerschaft, arbeiten ehrenamtlich- wozu brauchen Sie ambulante Betreuung?“
Zwei verschiedene Kommentare, zwei verschiedene Blickrichtungen- eine Gemeinsamkeit: Ableismus. Beide Äußerungen sind uns innerhalb kürzester Zeit begegnet: Die eine während einer unserer Lesungsveranstaltungen, die andere auf der Suche nach professioneller Unterstützung.
Wir erleben es immer wieder selbst und erfahren es auch von anderen Betroffenen, zum Beispiel in der Peerberatung: Menschen haben bestimmte Vorstellungen, Ideen, Haltungen zu den Stichworten „Gewaltopfer“, „Trauma“ oder „Dissoziative Identitätsstruktur“- und es gibt große Schwierigkeiten, wenn diese nicht mit der Realität der Betroffenen zusammenpassen.
„Trauma und DIS“ ist nicht immer auf den ersten Blick sicht- und erkennbar. Weder für Außenstehende, noch für die Betroffenen selbst. Persönlichkeitswechsel und Amnesien können völlig unbemerkt stattfinden, ein Leidensdruck kann innerlich verborgen bleiben bei gleichzeitig möglicherweise hohem Funktionsniveau im Außen. Die eigene Wahrnehmung einer Traumafolgesymptomatik kann durch (strukturelle) Dissoziation verunmöglicht werden. Alles scheint irgendwie „in Ordnung“- bis es an einer oder mehreren Stellen „wie aus heiterem Himmel“ zu bröckeln anfängt oder plötzlich „gar nichts mehr geht“. Betroffene geraten in solchen Situationen häufig in einen Druck, irgendwie „beweisen“ zu müssen, dass sie tatsächlich Hilfe brauchen -oder zumindest erklären zu können, warum sie „auf einmal dekompensieren“ (vorher ging doch noch alles?)- … während sie innerlich mit sich selbst sowieso schon in Konflikt sind, sich so ein „Schwächeln“ überhaupt zuzugestehen.
„Trauma und DIS“ kann auch deutlicher bemerkbar sein. Die Aktivität unterschiedlicher Persönlichkeiten, Zeitlücken, diverse Traumafolgesymptome, Brüche in der Biographie, Dysfunktionalität, Suizidalität usw. können sicht- und wahrnehmbarer Bestandteil des Lebens von Betroffenen sein. Es kann Wellenbewegungen darin geben oder auch eine gewisse Konstanz. Der Druck, die Anstrengung und der innere und äußere Anspruch, „trotzdem“ irgendwie leben zu können, mit dem Gefühl von „Selbstwert“, Sinnhaftigkeit, Eingebundensein, gesellschaftlicher Teilhabe, Anerkennung, usw.- all dies findet häufig wenig Raum und Resonanz.
Das Erleben, alleine und/oder isoliert zu sein oder zu werden -als Einzelkämpfer*in, als „Exot*in“ oder „Alien“-, kennen viele Betroffene. Das Schwanken zwischen „Anpassung an innere und äußere Ansprüche“ und „Zulassen/Wahrnehmen von Handicap/Verletzung/Erschöpfung“ ist eine echte Herausforderung:
Wie viel „Funktion“ möchte/kann/will/muss ich gewährleisten (für wen und warum?) und wie kann das gehen? Und wo/wann ist Platz für das, was sonst noch so da ist (weiter hinten/innen, verborgen, vergessen, dissoziiert, geleugnet, u.a.)? Welchen Raum gibt es für mich, in dem ich geschützt und sicher „die Flügel hängenlassen kann“, mich dem zuwenden kann, was schmerzhaft, krisenhaft, krank, müde, traumatisiert ist? Wie halte ich dabei eine Balance? Was ist, wenn ich meine Stabilität verliere? Was ist das Minimum an Stabilität, das ich brauche, um weiterleben zu können? Ist es händelbar, bei der inneren Auseinandersetzung ein gewisses Risiko einzugehen, ein bisheriges Funktionsniveau (teilweise) zu verlieren?
Es ist nicht immer möglich, sich bewusst mit diesen Fragen auseinanderzusetzen oder innere Vorgänge und Prozesse zu regulieren. Manchmal kann man nicht „langsamer machen“, etwas stoppen, etwas dosieren. Manchmal passiert etwas schnell und radikal, manchmal entwickelt sich etwas über einen längeren Zeitraum. Es kann Phasen geben, in denen weniger oder auch deutlich mehr äußere Unterstützung benötigt wird. Solche Phasen können sich abwechseln und dabei auch „irgendwie (vermeindlich) unlogische/unerklärliche“ Abfolgen aufweisen. In jedem Fall ist es wichtig, den Betroffenen zuzuhören und sie ernst zu nehmen in dem, was sie äußern/zeigen. Wenn jemand „viel“ vom Außen braucht, sagt das nichts über persönliche Kompetenz, Ausmaß der Traumatisierung, Anspruchshaltung, Motivation, o.a. aus- genauso, wie wenn jemand „wenig“ braucht (oder es nicht mitteilt). Sichtbar ist nie „das Ganze“.
Wenn ein*e Betroffene*r in Vollzeit arbeitet, sagt das nichts über den Schweregrad der Traumafolgen oder Belastungsgrenzen aus. Berufliche Funktionalität ist kein Beweis für „weniger Leid“, „weniger Einschränkung“ oder „mehr Kraft“ oder „mehr Wollen“.
Wenn ein*e Betroffene*r nicht alleine wohnen kann/will, Begleitung beim Einkaufen, Bahnfahren oder Arzt-/Ärztinbesuch braucht, sagt das nichts über Ressourcen, Abhängigkeiten oder gar Intelligenz aus. Alltagsunterstützung, therapeutische Hilfen und Kriseninterventionen bekommt leider niemand „einfach so geschenkt“, auch dann nicht, wenn das Leid glasklar erkennbar ist- dafür müssen Betroffene meistens sehr ackern.
Wir können vor 50, 60, 70 Menschen lesen und mit ihnen diskutieren/sprechen. Wir können dabei zweieinhalb Stunden offen und freundlich und konzentriert sein. Das sagt nichts über unser Selbstbewusstsein, unsere Alltagskompetenz oder generelle Kontaktfähigkeit aus. Würden Menschen nur diesen öffentlichen Aspekt unserer Gesamtstruktur berücksichtigen, wenn sie sich ein Bild von uns machen und eine Haltung dazu entwickeln, würden sie uns gewaltvoll beschneiden. Gäbe es einen ausschließlichen Fokus auf „Opfer“, „beschädigt“, „zerstört“ und „behindert“, wäre es genauso.
„Sowohl…, als auch…“ – eigentlich ganz simpel, oder?