2001 machten wir in aller Konsequenz unsere Schritte raus aus der organisierten Gewalt. Wir waren aufgrund der komplexen posttraumatischen Belastungsstörung und Dissoziativen Identitätsstruktur bereits seit 1998 sowohl in ambulanten, als auch in stationären psychotherapeutischen Behandlungen gewesen. Dies ermöglichte uns, den Schritt zu wagen, „von dort wegzugehen“.
Die Entscheidung zu treffen, alle Kontakte abzubrechen, für körperliche Sicherheit zu sorgen und „erst mal in der Anonymität zu verschwinden“, schafften wir damals auch deshalb, weil es Menschen gab, die uns darin unterstützten. Weil es positive Beziehungs- und Bindungserfahrungen gab, (auch) mit Personen, die dem Hilfesystem angehörten. Die wenigsten von ihnen hatten Erfahrungen und Fachwissen zum Thema „Dissoziative Identitätsstruktur“ und „organisierte, sexualisierte Gewalt“. Sie waren jedoch offen für uns, bereit zu lernen, auszuprobieren, mitzugehen, zu reflektieren – sich einzulassen und uns in dem, was wir ausdrückten, brauchten, mitteilten ernst zu nehmen und anzuerkennen.
„Uns in Sicherheit zu bringen“ erwies sich als komplizierter, als gedacht/gehofft: Wo gibt es Schutzeinrichtungen? Wer begleitet einen „Ausstieg“ aus organisierten Strukturen? Wie schafft man es, „unter dem Radar“ zu verschwinden?
Das, was es damals, vor 24 Jahren, für uns gab, war eine kurzzeitige Unterbringung in der geschlossenen Psychiatrie und ein anschließender Platz in einem Frauenhaus. Einem Haus, das zuvor noch nie (bewusst) einen Menschen mit einem Hintergrund wie unserem aufgenommen hatte und trotzdem (!) bereit war, mit uns zu schauen, was wie gehen kann. Und dann an seine Grenzen kam.
Heute sieht die Versorgungssituation für gewaltbetroffene Menschen, die „sich in Sicherheit bringen wollen“, leider nicht besser aus, obwohl Verantwortungsträger*innen wissen, wie schlimm die Lage ist. Frauenhausplätze sind rar, Hilfeinstitutionen müssen um die Finanzierung ihrer Arbeit bangen und kämpfen, spezielle Schutzeinrichtungen für Opfer von Menschenhandel, Zwangsprostitution, organisierter Gewalt sind praktisch nicht vorhanden. Wie jedes Jahr weisen auch heute wieder viele engagierte Menschen auf die Bedeutung des 25.Novembers, dem „Tag gegen Gewalt gegen Frauen und Mädchen“ (#orangedays) hin (wir bezeichnen ihn lieber als „Tag gegen patriarchale Gewalt“), es wehen Fahnen und Banner, Politiker*innen sagen dies und jenes (und kürzen trotzdem)- und „in Sicherheit“ sind weiterhin zu wenige.
Manchmal fehlt uns in Diskussionen über patriarchale Gewalt und ihre Formen und Varianten ein Fokus auf das Leben mit den Folgen. Was bedeutet für die Betroffenen denn eigentlich „Sicherheit“? Wie geht es für sie weiter, nach dem Frauenhaus, nach der Ambulanz, der vertraulichen Spurensicherung, der Akutpsychiatrie, dem Gerichtsprozess? Was brauchen sie mit den Folgen der erlebten Gewalt in ihrem Leben, um fühlen zu können: „Das ist mein Leben, ich bin selbstbestimmt und frei und ich mag es, dass ich da bin!“?
Es ist wichtig, dass das Beleidigen, Bedrohen, Belästigen, Schlagen, Vergewaltigen aufhört. Dass Körper und Seele geschützt werden vor weiteren Übergriffen, so gut das irgendwie möglich ist. Dass der Einfluss des/der Täter*in(nen) auf die/den Betroffene*n unterbunden wird. Das Ende der äußeren Gewalt ermöglicht einen Anfang: Zur Ruhe kommen und Erholung suchen, Grundbedürfnisse erkennen und versorgen, sich selbst wahrnehmen, sich selbst verstehen – wieder mehr zu sich kommen und dann herausfinden, wie es weitergehen kann/soll.
Damit es ein „Danach“ (nach der Gewalt) und/oder „Vorwärts“ überhaupt geben kann, brauchen Betroffene Unterstützung, die über „akut“ hinausgeht: Langfristige Begleitung komplextraumatisierter Menschen bedeutet zum Beispiel ambulante und stationäre Psychotherapie, Familienhilfe, Assistenzleistungen, Rechtsbeistand, medizinische und verschiedene therapeutische Versorgungen, „betreutes Wohnen“, finanzielle Unterstützung, u.a. Nichts davon ist für Betroffene wirklich leicht und zuverlässig zugänglich und erhältlich. Nichts davon ist etwas, das ganz selbstverständlich zu einem „Sicherheitspaket“ für jemanden, der patriarchale Gewalt erlebt und verlassen hat, gehören würde.
Wie sie mit den Gewalterfahrungen und ihren Folgen (weiter-)leben können und/oder wollen, ist ein großer Teil der inneren Auseinandersetzung von Betroffenen. Irgendwie muss/soll/will das, was erlebt wurde, „integriert“ werden und irgendwie muss/soll/will ein Platz in dieser Welt, in dieser Gesellschaft gefunden werden, d.h. Verbindung im Innern und im Außen hergestellt werden. Wir wünschten, Betroffene wären in diesem Prozess nicht so häufig so allein und „unbegleitet“, sondern hätten viel mehr „Andockmöglichkeiten“, sowohl im Privatbereich, als auch im „Hilfesystem“.
Als wir 2002 nachts im Zug auf dem Weg nach „weit weg“ saßen, waren wir krank. Wir hatten eine turbulente, temporeiche, sehr belastende Zeit hinter uns, bis unsere damalige gesetzliche Betreuerin einen einigermaßen „geschützten“ Wohnplatz für uns gefunden hatte. Sie saß uns gegenüber und schlief die ganze Fahrt, während wir bei jedem Halt des Zuges den Impuls verspürten, rauszuspringen. Wir waren zu krank, zu erschöpft und zu erstarrt, um das wirklich umzusetzen- und wir hatten wahnsinnige Angst. Vor dem, wovor wir flüchteten- aber viel mehr noch vor dem, was auf uns zukam. Wir fuhren in ein großes, umfassendes Nichts, hatten keine Ahnung, was eigentlich „Sicherheit“ für uns bedeuten könnte und ließen alles zurück, was wir kannten.
Inzwischen haben wir Klarheit, Wissen, Fühlen, Erfahrung dazu, wofür es sich lohnte, diesen Weg zu machen. Wir fühlen uns dort, wo wir leben, verbunden und „zu Hause“, haben weitere gute Beziehungs- und Bindungserfahrungen machen dürfen, uns stabilisiert, traumaverarbeitende, integrative Prozesse durchlaufen, sinnstiftende Tätigkeiten etabliert, u.a.
„Es ist richtig und wichtig, dass wir da sind und dass es unser Leben so für uns gibt!“ können wir denken, fühlen und sagen.
Vielleicht ist das ein „gutes Danach“, nach einer bisher sehr gewaltvollen, traumatisierenden Biographie.
Verletzt bleiben wir, auch wenn gleichzeitig Heilung stattfindet- weil Heilung von komplexen Gewalttraumatisierungen unserer Ansicht nach keinen „Endzustand“ meint, sondern einen lebenslangen Prozess.
Unser „Danach“ bedeutet eben nicht „vorbei“, sondern eher „daneben, dazwischen, parallel“.
So geht es vielen anderen Betroffenen ebenfalls.
Und das sollte man heute und ganz generell nicht vergessen.
Liebe Paula,
da können wir euch mal wieder nur zustimmen: das Leben nach der akuten Gewalt ist und bleibt „work in progress“ und es wäre schön, wenn es auch dabei mehr bzw. einfacher zugängliche Hilfen gäbe.
Ich fürchte allerdings es wird eher schwieriger damit, als leichter.
Liebe Grüße
Sanne
Liebe Sanne, ja, das kennt Ihr alles auch ähnlich, stimmt’s? Und fällt dazu „backlash“ ein… Liebe Grüße von uns