„Unsere“ Täter*innen hatten 22 Jahre lang Zeit, physische und psychische Gewalt gegen uns auszuüben. Sie beeinflussten jede Entwicklungsphase in unserer Kindheit und Jugend. Sie initiierten und prägten unser dissoziatives Persönlichkeitssystem, hatten wortwörtlich immer irgendwo die Finger im Spiel- und sehr lange war mir/uns das nicht mal bewusst.
22 Jahre aktive Gewalt. Das sind so viele Jahre, wie es braucht, vom Liegen ins Krabbeln, ins Stehen, ins Laufen, ins Abitur-machen und Studieren, ins Verlieben und Verlassen und auch ins „selbst-ein Kind-gebären“ zu kommen. 22 Jahre sind möglicherweise ein Drittel eines ganzen Lebens. Oder auch nur die Hälfte, für manche.
Krankenkassenfinanzierte Psychotherapie bei Traumafolgestörungen ist eine Frage der Stundenzahl. Sie ist oftmals eben nicht „bedarfsgerecht“, sie orientiert sich nicht am Tempo der Betroffenen. Mir ist es ein Rätsel, wie Gutachter*innen zu der Ansicht gelangen, dass Menschen, die 10, 20, 30 Jahre massiven Gewalttraumatisierungen ausgesetzt waren, nach 100, 200 oder meinetwegen auch 300 Psychotherapiestunden „fertig versorgt“ sein könnten.
Wenn die Gewalteinwirkungen auf Körper und Seele beendet wurden (oder die Entscheidung getroffen wurde, das erreichen zu wollen) und überhaupt erst mal Raum und Zeit entsteht, sich mit den Folgen, Beschädigungen, Zerstörungen intensiver auseinander zu setzen- dann stehen Betroffene eben nicht vor einem reich gedeckten Tisch, an dem sie sich bedienen können: „Was möchtest du haben, was brauchst du? Im Buffet befinden sich stationäre und ambulante Psychotherapie, alternative und auch körperbezogene Therapieformen, betreutes Wohnen, Pflegedienst, Tagesstätte, Selbsthilfegruppe, Sozialdienst, Krisendienst, Notfallhotline, Familienhilfe, usw., usf.“
Es muss probiert werden, was helfen könnte auf dem Weg der/des Betroffenen, orientiert an seinen/ihren Zielen und Vorstellungen von einem „guten Leben“. Er/Sie hat das Recht, selbst zu bestimmen. Theoretisch. Praktisch stehen viele erst mal alleine da und müssen Informationen, Wissen, Kontakte mühsamst selbst zusammenkratzen- während sie dabei sind, sich am/im Leben zu halten.
Die Crux an der Sache ist zudem: Woher soll ich wissen, dass ich Unterstützung brauche, wenn ich gar nicht fühlen kann, dass es mir schlecht geht UND dass ich Hilfe haben darf? Nach einem, zwei, drei Jahrzehnten Gewaltnormalität?
Es gibt Aus-Wege und es gibt Menschen, die unterstützen wollen und können. Sei es als Freund*in, Partner*in, Bekannte*r, Nachbar*in, sonstwie Verbündete*r- oder als beruflich tätige*r Helfer*in. Es gibt Menschen, die da sind und bleiben, weil sie es wollen.
Für (menschen-)gewalttraumatisierte Personen ist es jedoch nicht selbstverständlich, dort beherzt zuzugreifen, wo man ihnen freundliche Hände hinhält. Wie lassen sich solche vertrauenswürdigen Hände überhaupt identifizieren; wie kann man sich darauf verlassen, dass eine Beziehung konstant bleibt; wie fühlt es sich an, in einem Kontakt präsent zu bleiben, wenn man sich doch sonst routiniert auflöst? Und so weiter, und so fort.
Zeit zu brauchen ist kein Fehler. Es ist auch kein „Extrawurstgedöns“, VIEL Zeit zu brauchen. Zu spüren, dass eine Stunde Psychotherapie in der Woche nicht ausreicht, um mit dem Prozess und der Beziehung verbunden zu bleiben, ist keine Jammerei und erst recht keine Anmaßung.
Sich mit dem zu arrangieren, was man bekommen kann -auch wenn es sich nicht (ganz) passend oder „zu wenig“ anfühlt-, weil man keine Kraft oder Möglichkeit hat, das einzufordern, was man tatsächlich braucht- das ist kein „selbst Schuld!“-Ding!
Täter*innen nehmen sich sehr, sehr viel Zeit-Raum aus dem Leben ihrer Opfer und füllen ihn mit dem, was ihnen wichtig ist.
Hier und jetzt und in Zukunft müssen Betroffene selbst bestimmen dürfen und können, wie viel und welche Zeit-Räume sie wofür brauchen und nutzen wollen.
So ist es. Danke
Zeit zu brauchen. Ja. Volle Zustimmung… Und ergänzen würden wir gerne: Auch Menschen zu „brauchen“. Menschen taten uns Gewalt an. Menschen brauchen wir nun für neue freie, liebevolle, zugewandte, heilsame Erfahrungen.