Kontaktpunkte

Du und wir und die Grenzen darin

Liebe*r Freund*in, Partner*in, Bekannte*r, Unterstützende*r, Herzmensch,

ich kenne Dich nicht, aber ich weiß, dass es Dich gibt. Du bist Eine*r von jenen Personen, die an der Seite eines Viele-Systems sind, mit ihm/ihr leben und/oder wohnen und/oder arbeiten. Jemand, der/die sich als an- oder zugehörig bezeichnet oder als „Helfer*in“. Oder auch anders.

Ich schreibe Dir, ohne Dich zu kennen, aber mit Erfahrungen und Vorstellungen aus dem eigenen Leben und eigenen Kontakten.

Ich möchte Dir etwas ganz Grundsätzliches sagen:

Deine Grenzen sind wichtig!

Vielleicht denkst Du, dass das doch eigentlich klar sein und gar nicht mehr betont werden müsste. Und vielleicht erlebst Du aber gleichzeitig, dass es sich immer wieder auch anders anfühlt. Theorie und Praxis können auseinanderdriften.

In jedem Kontakt zwischen Menschen sind Grenzen wichtig- egal, welche Hintergründe vorliegen. Es ist kein Alleinstellungsmerkmal einer Beziehung zwischen Vielen und sogenannten „Unos“, dass Grenzen Herausforderungen darstellen. Aber es kann ein besonderes Dauerthema sein, das Aufmerksamkeit und viel Kommunikation braucht- als ein Aspekt von „Leben mit Gewalttraumafolgen“.

Ich weiß nicht, welche Beziehungsform Euch beide/alle konkret verbindet; was es bedeutet, dass Du „an der Seite der Vielen bist“; wie Deine eigene Biographie aussah/aussieht; wie ihr miteinander kommuniziert und ob Du mit anderen vernetzt bist. Ich weiß nicht, ob es einen Arbeitsauftrag für Dich gibt; ob Du mit Deiner Begleitung Geld verdienst und inwiefern Du professionell ausgebildet bist. Natürlich macht es Unterschiede, ob Eure Beziehung privater oder beruflicher Natur ist. Möglicherweise sind Grenzen einfach dadurch schon genau definiert und klar, weil Deine Rolle therapeutisch, sozialarbeiterisch, o.a. ist. Eventuell erlebst Du darin aber auch eine Schwammigkeit oder etwas „Fließendes“ und bist manchmal unsicher- oder allein auf weiter Flur zwischen diversen Kolleg*innen, die es „anders machen würden“.

Ich möchte Dir hier einen Satz schreiben: Du hast das Recht, Dich im Kontakt, in Beziehung mit einem Vielesystem genervt, gestresst, verletzt, enttäuscht, erschöpft, mutlos, frustriert zu fühlen. Egal, wer Du bist und welche Position Du in der Beziehung hast: Du hast das Recht auf diese Empfindungen! Du bist wichtig in diesem Kontakt. Mit Deinen Grenzen und Bedürfnissen. Egal, ob Du Freund*in oder Therapeut*in bist.

Der Unterschied zwischen privaten und beruflichen Beziehungen liegt meiner Ansicht nach vor allem im Umgang mit etwas. Wenn sich ein*e professionelle*r Helfer*in so fühlt wie oben beschrieben, braucht es eine andere Art der inneren Auseinandersetzung und Konsequenz, als wenn es sich auf eine*n An-/Zugehörige*n bezieht. Und auch die Kommunikation darüber miteinander unterscheidet sich.

Eine Beziehung ist meiner Meinung nach trotzdem keine Einbahnstraße- auch nicht, wenn es eine therapeutische Beziehung ist. Beide/alle Beteiligten sind wichtig.

Ich habe darüber nachgedacht, was Dich beschäftigen, belasten und herausfordern könnte- und worüber Du vielleicht gar nicht so oft und offen sprechen kannst. Weil es kein Gegenüber gibt, dass Deine Erfahrungen nachvollziehen oder verstehen könnte, oder weil Du Hemmungen hast, Dich damit zu zeigen. Oder aus anderen Gründen.

Wie ist das für Dich, zu erleben, dass Du die Vielen nicht retten konntest und kannst? Wie fühlst Du Dich damit?

Wie ist das für Dich, wenn Du Rückschläge, Blockaden, Lähmungen, Selbstverletzungen miterlebst? Gestattest Du Dir Ungeduld, Verständnislosigkeit, Wut?

Wie ist das für Dich, wenn es im Zusammenhang mit der DIS Störungen im Alltag gibt; wenn zur falschen Zeit die „falschen/unpassenden Innenpersonen“ da sind? Wenn Pläne platzen, Vorhaben nicht umgesetzt werden können? Hast Du immer Mitgefühl und denkst „Sie können ja nichts dafür!“, oder erlaubst Du Dir eigene Enttäuschung, Frust und Ansprüche?

Wie ist das für Dich, wenn Du Innenkinder versorgst oder versorgen musst, weil keine erwachsene Person erreichbar ist? Wenn es Hilflosigkeitssituationen gibt, in denen Du dringend gebraucht wirst? Denkst, fühlst oder sagst Du manchmal „Ich kann jetzt nicht!“, oder „Ich habe gerade keine Lust!“?

Wie ist das für Dich, wenn in der Öffentlichkeit etwas passiert, das mit Kontrollverlust und „Auffälligkeit“ in Verbindung steht? Kennst Du so etwas wie „Fremdscham“ oder „Peinlichkeit“, oder bist Du davon distanziert?

Wie ist das für Dich, Sorge, Angst oder Panik um die Vielen zu fühlen? Wenn Deine Gedanken ständig bei ihnen sind? Wenn eine Krise die nächste ablöst, es gar nicht „besser“ oder „leichter“ zu werden scheint und der Adrenalinspiegel nie zur Ruhe kommen kann? Schaffst Du es, trotzdem noch gut zu schlafen, zu essen, zu entspannen, für Deine (Grund-)Bedürfnisse zu sorgen und zu lachen? Bist Du so nah dran, dass das nicht mehr geht?

Wie ist das für Dich, eine Beziehung zu einem Vielesystem zu haben und das eigentlich ganz normal zu finden- Deine anderen sozialen Kontakte sehen das aber nicht so? Wie ist das, sich „irgendwie alleine“ damit zu fühlen? Wie ist das, sich rechtfertigen zu müssen oder bemitleidet zu werden, weil die Beziehung von anderen als „Last“ angesehen wird?

Wie ist das für Dich, jemanden, der/die Viele ist, zu lieben, zu mögen, zu begleiten? Mit ihnen zu gehen durch Krisen, Probleme, Achterbahnfahrten, Glück, Freude- und zu spüren, wie viel Euch verbindet? Fühlen sich Grenzen zwischen Euch manchmal viel zu kompliziert oder sogar unnötig und anstrengend an? Hast Du Angst vor Verlust von etwas sehr Fragilem?

Ich schreibe Dir, weil ich an Dich denke. An Deine Identität:

Wer und was bist Du, außer „der/die an der Seite von Vielen“?

Wo fängst Du an und wo hörst Du auf?

Wie schön, dass es Dich gibt!

Viele freundliche Grüße von Einer von Vielen

8 Kommentare

  1. Ganz lieben Dank für Euren Text, der hilft gerade sehr … !
    Mir fällt mir dazu ein, das wahrscheinlich keinem (auf lange Sicht) geholfen ist, wenn der eine oder der andere Part seine Grenzen immer weiter verschiebt.

  2. Danke. Den Text werden wir unseren beiden Herzensmenschen zeigen. Wir versuchen oft, das zu betonen, dann kommt es aber oft auch aus einem „oje ich hoffe wir sind nicht zu viel“-Gefühl heraus. Der Text hat auch für uns Dinge sortiert, klarer und einfacher gemacht.

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