Kontaktpunkte

Wie man einen Hai sucht und Andere(s) findet

„Haidrun“ ist weg. Ich habe jeden Quadratzentimeter in unserem Zuhause nach diesem Lieblingskatzenspielzeug abgesucht: Nix. Das kleine Stofftier in Form eines Hais, mit dem die eine Katze kuschelt und Fußball spielt und das die andere Katze im Maul von A nach B trägt, ist und bleibt verschollen. Wahrscheinlich ist es irgendwo hin verschleppt worden, wo nur die Katzen sich auskennen (wer weiß, wo Mucklas leben, weiß auch, wo Haidrun ist 😉 ).
Wir haben in den letzten Tagen sehr viel Zeit damit verbracht, dieses Spielzeug zu suchen- im Grunde habe ich persönlich noch nie zuvor so ausgiebig nach irgendetwas gesucht.
Heute Vormittag ist dann jemand von uns losgezogen, um ein neues Spielzeug zu kaufen- eins, das nur ein mickriger Ersatz für Haidrun sein kann, aber zumindest schon mal von der einen Katze abgeleckt wurde. Wir werden sehen…

Was mich in dem ganzen Zusammenhang wirklich beschäftigt, ist die Selbstverständlichkeit und Hartnäckigkeit, mit der gesucht wurde. Wir wollten Haidrun finden- und wir haben gemeinsam gesucht.

Könnten wir das vielleicht auch innen umsetzen? Was ist mit Innenpersonen, die lange nicht da waren, die nicht oder nur schwer erreichbar sind? Was ist mit Infos, Wissen, Erkenntnissen, Kontakten, die Mühe, Energie und Geduld benötigen, um an sie heranzukommen?
Ja, es ist ein Unterschied, sich mit einer Taschenlampe unters Sofa oder Bett zu robben, in der Hoffnung, dort ein blaugraues Stofftier liegen zu sehen, oder sich im Innern mehr oder weniger orientierungslos bewegen zu müssen – das ist emotional überhaupt nicht vergleichbar.
Aber die Wichtigkeit, an etwas dran zu bleiben, das lange dauert und nicht (sofort) von Erfolg gekrönt ist, die kann man schon ein bisschen vergleichen.
Irgendwann wird Haidrun schon wieder auftauchen- sie KANN nicht vom Erdboden verschluckt sein.
Und so ist das innen auch. So ähnlich jedenfalls.

Es gibt sowohl bei/in uns, als auch bei anderen Betroffenen und „Traumafachleuten“ verschiedene Haltungen und Ideen dazu, was im Innern alles (nicht) möglich sein kann. Fakt ist: Imaginationsfähigkeiten, bildliche Vorstellungskraft, emotionales Erleben, Wahrnehmungsebenen u.a. sind ja vollkommen individuell. Was für die Einen total selbstverständlich und klar ist, ist für die Anderen gar nicht vorstellbar und fremd. Wir finden es schwierig, wenn man jemandem ein bestimmtes Erleben abspricht, weil man es selbst anders oder gar nicht kennt.

Dass im Innern etwas oder jemand (zeitweise) „verschwindet“, ist logisch, wenn man dissoziativ strukturiert ist. Man hat eben nicht ständig Zugriff auf Inhalte, Wissen, Bewusstsein, Wahrnehmung- und somit auch nicht auf alle Persönlichkeitsanteile/Innenpersonen. An der Innenkommunikation und dem Innenkontakt zu arbeiten, ist eine permanente Aufgabe und nichts, was man an einem Punkt erfolgreich geschafft und für die Zukunft dann erledigt hat- so erleben wir das jedenfalls. Wer wie innen erreichbar ist und bleibt, wie viel wahrnehmbar ist und wo welche Ressourcen nutzbar sind, das gestaltet sich dynamisch und eben nicht statisch.

Es gibt Zeiten, in denen Verbindungen innen weniger spürbar sind. Oder in denen Innenpersonen, die sonst häufiger im Alltag und/oder in der innersystemischen Wahrnehmung präsent waren, kaum oder gar nicht mehr auftauchen. Das kann sehr verunsichern und destabilisieren oder auch erst sehr spät auffallen. Wir kennen es, dass Monate vergehen können, in denen einzelne Innenpersonen „verschwunden“ sind (d.h. auch für uns selbst nicht mehr „greifbar“), bevor das überhaupt jemand von uns realisiert: „Was ist eigentlich mit XY? Weiß jemand, wo sie/er ist und wie es ihr/ihm geht?“ Je nachdem, welche Präsenz die jeweilige Innenperson sonst in unserem Alltag hat, dauert so ein Erkennen mehr oder weniger lange. Wenn jemand fehlt, der/die z.B. sonst Verantwortung für Arbeit oder soziale Kontakte trägt, fällt es früher auf, wenn er/sie nicht mehr da ist- weil dann eben eine Lücke im Alltag entsteht, die auch zügig geschlossen/ersetzt werden muss. Handelt es sich um das „Verschwinden“ einer Innenperson, die sonst eh schon wenig im Alltag außen aktiv war, oder die innen Aufgaben hat, die seltener ausgeführt werden müssen- dann wird sie auch nicht so schnell von sogenannten Alltagspersonen vermisst.

Die Frage, wer wann wie schnell als fehlend wahrgenommen wird, wer wann (von wem) vermisst und schließlich aktiv gesucht wird, hat ganz viel Verletzungs- und Schmerzpotenzial. Es geht dabei natürlich auch um die (Selbst-)Wahrnehmung von „Wert“ oder „Wichtigkeit“. Die Haltung, dass alle gleichermaßen „wichtig“ sind, wäre schön- passt aber häufig nicht zur konkreten Alltags- und Lebensgestaltung. Nicht Jede*r hat gleichermaßen viel Mitsprache- und Bestimmungsrecht, nicht zu jedem Zeitpunkt funktioniert im Innern Demokratie. Trotzdem gibt es an einem basalen Punkt „Gleichheit“: Jede*r hat absolut Wichtiges zum Überleben beigetragen. Jede*r Einzelne existiert, weil sie/er gebraucht wurde und heute noch wird- weil sie/er ein Teil eines Ganzen ist. Eines Systems, das von Vielen zusammengehalten wird.

Egal, wie viel jemand zu einem funktionierenden Alltag beiträgt. Egal, ob jemand für Arbeit, Einkauf, Autofahren, Behördenkram, Sport, gesunde Ernährung, oder für Schlaf, Spielen, Bindungsarbeit, innere Streitschlichtung, innere Informationsvermittlung oder was auch immer „zuständig“ ist. Egal, ob jemand ausschließlich im Innern und nie im Außen präsent ist. Egal, ob jemand als Person, Anteil, Fragment, Modus o.a. bezeichnet wird. Er/sie/es existiert und kann wahrgenommen werden, also braucht es Anerkennung. Punkt.

Das, was ein Gesamtsystem ausmacht, befindet sich im Innern. Wir kennen es nicht, dass etwas oder jemand daraus sich wirklich auflöst und auf Nimmerwiedersehen verschwindet (wohin denn auch?). Insofern kennen wir es auch nicht, dass eine Innenperson „stirbt“. Im Zusammenhang mit Fusionen haben sich Innenpersonen bei uns schon miteinander verbunden, so dass die einzelnen Aspekte von jemandem nicht mehr unbedingt separat erkennbar waren. Es entstanden dadurch „Mischformationen“, aus denen bestimmte Eigenheiten manchmal „herausschimmerten“ und zum Teil wiedererkennbar (personell zuzuorden) waren. Das, was zuvor Person A, B oder C ausmachte, wie er/sie dachte, handelte, sich verhielt, was er/sie mochte, u.a., war nicht immer „haltbar“ nach Fusionen- aber ihr jeweiliger Kern; das, wodurch und wofür sie entstanden sind; was sie mitbrachten, um das Gesamtsystem zu schützen und (über-)lebensfähig zu halten- all das blieb innerlich zugänglich und spürbar, auch wenn nach Fusionen neue Konstellationen entstanden waren.

Wenn nun innerlich etwas oder jemand abhanden gekommen ist und man sich auf die Suche macht- dann braucht das oft viel Durchhaltevermögen. Und die Bereitschaft zu fühlen. Es gibt Gründe, warum etwas oder jemand „hinten weg gefallen ist“, oder sich zurückgezogen hat. Und es gibt Gründe, warum das zunächst vielleicht nicht wahrgenommen werden konnte oder durfte. Auf jeden Fall geht´s dabei auch um Einsamkeit- und deshalb ist es so wichtig, (weiter) zu suchen, auch wenn das Finden länger dauert.

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