Seit kurzem genießen wir den Luxus, Gesangsunterricht nehmen zu dürfen. Zwar haben wir bereits einige Chorerfahrungen, aber dort konnten wir uns gut in der Masse verstecken. Alleine am Klavier zu stehen und nur uns selbst (und das Klavier) zu hören, ist neu, herausfordernd, mutig.
Singen bedeutet Spannung, Haltung, Öffnung, Selbstwahrnehmung, Körperbewusstsein, Atmung, Loslassen, Lebensfreude, u.a.- genau die richtigen, wertvollen Lernerfahrungen, die wir mit/nach Trauma(folgen brauchen.
Unsere Gesangslehrerin (die übrigens nichts von unserer DIS weiß) kombiniert den Unterricht mit genau dem richtigen Maß an Theorie und Praxis, an Herausforderung und Zurückhaltung, Geduld, Motivation, Unkompliziertheit und Ernsthaftigkeit. Wir verbringen einen Großteil der Stunde meistens mit Stimmübungen und den Rest mit dem Singen/Erarbeiten eines von uns oder ihr ausgewählten Songs.
Wir beschreiben mal zwei Beispiele für Stimmübungen:
1.) Der „Lippentriller“:
Bei dieser Übung geht es (unserem Verständnis nach) darum, durch die „richtige“ Muskelaktivierung in Bauch, Brust und Rücken den Atemfluss so zu steuern, dass genügend Luft reinkommt, und in einem konstanten Fluss durch die geschlossenen Lippen wieder nach außen gelangt, so dass die Lippen vibrieren/flattern. Es werden Töne und Tonfolgen dabei eben nicht mit offenem Mund „gesungen“, sondern durch die Lippen „getrillert“ (wer mehr wissen, bzw. sehen will, möge googlen).
Für uns war es zunächst schwierig, wahrzunehmen, wo wir eigentlich genau hinatmen müssen und welche Muskelpartien konkret angespannt werden sollen. Wir haben herausgefunden, dass es uns leichter fällt, wenn wir gleichzeitig umhergehen; oder wenn wir unsere Hände an unsere Flanken legen; oder ein Gewicht mit ausgestreckten Armen vor uns halten; oder auf dem Rücken liegen und beide Beine etwas vom Boden abheben, u.a. „Bauch“ und „Bauchmuskeln“ sind ein weites Feld- und wenn der Körper nicht vollständig oder detailliert wahrgenommen werden kann, dann ist eben auch nicht spürbar, ob es um die Mitte oder die Seiten geht, um Bauchnabel- oder Magenhöhe, oder ob es eher in den Rippenbereich und Rücken wandern muss.
Im Gewaltkontext ist „Bauch“ der Inbegriff von „Schmerz, Gefahr, Verletzung“, aber (innersystemisch) evtl. auch von „Verrat, Feindschaft, Minengebiet“. „Bauch“ wird nicht in einzelne Bereiche differenziert, sondern ist im Zweifelsfall einfach nur das „da unten“; etwas, das eigentlich auch gar nicht zu einem gehört, wohingegen der „Kopf“ das ist, wo man existiert, wo sich „das System“ aufhält, wo es ggf. Gestaltungs- und Handlungsmöglichkeiten gibt. Den „Bauch“ schleppt man als Anhängsel mit sich herum; hat den Eindruck, alles Belastende, Schwere, Komplizierte, Gefährliche kommt von dort- bis man irgendwann anfängt, auch das wahrzunehmen, was von dort positiv hervorgebracht wird: Freude, Liebe, kribbelige Aufregung, Neugier, Lust, Genuss, u.a. Den „Bauch“ wieder zurückzuerobern, sich mit ihm zu Hause zu fühlen und ihn genauso als zu sich gehörig zu erleben, wie den „Kopf“, ist Arbeit und gleichzeitig ein „Geschenk“, wenn es gelingt.
Wir üben, unseren Körperbereich „unterhalb des Kopfes“ zu differenzieren: Das Funktionieren des Lippentrillers hängt bei uns maßgeblich damit zusammen, dass wir unsere Bauch-, Brust- und Rückenmuskeln (wo, wo und wo??) aktivieren und unseren Atem in die Breite (!) unseres Brustkorbs fließen lassen (ihn damit also weiten). Wie oft haben wir schon in verschiedenen Kontexten gehört, dass es wichtig wäre „in den Bauch zu atmen“, und zwar möglichst „tief“. Wenn wir das mehrmals hintereinander tun, wird uns schwindelig, unwohl und es triggert Altes- und es hilft uns nicht beim Singen, sondern wir geraten quasi in einen „Schnappatmungszustand“, um wieder in unseren natürlichen Atemfluss zu kommen und Triggerreaktionen zu stoppen.
Über die Atmung kann man direkt auf den „highway to hell“ geraten, also zurück in Traumazusammenhänge, in Gewaltsituationen; aber auch ziemlich gut wieder zurückkommen in die Gegenwart. Atemübungen mit Bewegungen zu kombinieren, wie z.B. auch beim Yoga, macht es unserer Erfahrung nach leichter, gut orientiert zu bleiben und nicht innerlich abzurauschen in ungute Erinnerungen oder emotionale Zustände. Muskuläre Aktivität, teilweise Anspannung und gleichzeitig bewusste Atemsteuerung halten uns präsent und handlungsfähig- und haben einen erdenden Effekt.
Sich weder in die Hyperventilation zu hecheln (flache Brustatmung), noch durch eine tiefe Bauchatmung in Trance zu beamen, sondern achtsam die Atmung zu „gestalten“, um den gewünschten stimmlichen Effekt zu erzielen- das ist eine Herausforderung und Übungssache.
2.) Die Unterkieferöffnung:
Hierbei geht es im Gegensatz zur Lippentriller-Übung nicht um Muskelanspannung, sondern um Entspannung. Damit die Töne und der Klang genügend Raum bekommen können, muss der Mund geöffnet werden, und zwar eher nach unten (wie beim Zahnarzt), statt seitlich (wie beim breiten Lächeln). Ein breiter Mund hilft zwar, einen bestimmten, leicht „metallisch“ klingenden Sound zu erzeugen (Twang)- auch deshalb sieht man so häufig doll lächelnde Chöre 😉 -, aber ein nach unten geöffneter Mund erzeugt mehr innere/hintere Weite und einen „tieferen Kehlkopf“, was den Klang deutlicher, lauter, voluminöser werden lässt (so beschreibe ich das als Laie).
Wir üben also z.B. mit dem Vokal „A“ in Tonfolgen die Unterkieferöffnung (auch vor dem Spiegel)- und nehmen dabei nicht nur wahr, wie weit wir den Mund öffnen müssen (weiter als gedacht), sondern auch, was eigentlich mit der Zunge passieren soll. Es ist gar nicht so einfach, dorthin gezielt zu steuern, die Zunge in eine eher „flachere“ Position zu bringen, damit im Rachen Platz geschaffen wird- auch im Gesicht, im und am Mund sind so viele Muskeln, für die man erst mal eine bewusste Wahrnehmung entwickeln muss, um zu verstehen, wie eine Übung funktioniert und wie man was verändern kann.
Auch diese Technik ist eine Körperarbeit, die im Traumakontext so viel berührt und bewegt:
Nicht reden dürfen oder können. Kontrolle behalten, bloß nichts (Verbotenes) raus lassen. Gezwungen werden, etwas aufzunehmen, das man nicht aufnehmen (verinnerlichen) möchte. Nicht weinen oder schreien dürfen. Die Luft anhalten. Sich hart machen. Immer enger werden. Nicht fühlen. Erstarren. Unsichtbar sein (müssen/wollen). Und so weiter.
Das ist traumabezogen, logisch. Was das mit dem stärksten Muskel des Körpers (dem Kaumuskel) macht, ist klar: Da ist alles auf „Schließung“ ausgerichtet, nicht auf „Öffnung“. Daran zu arbeiten, Schritt für Schritt etwas zu weiten, was eng war und ist, löst viel aus, vor allem emotional. Wir kennen das auch von Dehnungsübungen beim Yoga.
Ich habe mich eine Zeit lang gefragt, warum ich nach Zahnarztbesuchen immer weinen muss. Glücklicherweise haben wir mit unseren Zähnen bisher nie größere Probleme gehabt und die halbjährlichen Kontrollen verlaufen meistens schmerzlos. Trotzdem bin ich danach zu Hause emotional offen, verletzlich, tränennah- fühle mich „irgendwie verletzt“, und zwar auch dann, wenn der Zahnarztbesuch nach drei Minuten gucken schon erledigt war. Inzwischen ist mir bewusst geworden, dass die weite Mundöffnung diese emotionale Reaktion auslöst: Sich ausgeliefert fühlen, etwas aufmachen, was intuitiv lieber geschützt bleiben möchte- das berührt etwas Zartes, Weiches, Kleines.
Und einen ähnlichen, aber weniger brachialen Effekt hat das Üben der Kieferöffnung beim Singen: Es wird wieder Kontakt zu dieser emotionalen Ebene hergestellt. Solange dabei achtsam, langsam und liebevoll vorgegangen wird, wirkt es heilsam: Nicht nur die oben genannten Trigger-Aspekte tauchen auf, sondern nach und nach zeigen sich auch Erleichterung, Befreiung, Loslassen. Wie gut es sich anfühlen kann, aufzumachen! Wie tröstlich, beeindruckend, stärkend, erdend es sein kann, sich körperlich und psychisch Raum und Luft zu verschaffen! Ich/Wir bin/sind da und das ist erlaubt und okay!
Der Gesangsunterricht und auch das Singen zu Hause ist für uns die derzeit wirkungsvollste Achtsamkeitsübung. Intensiver im Hier und Jetzt können wir nicht sein, als in diesen Momenten. 🙂
Außerdem lernen wir etwas intensiv kennen, was uns bisher fremd war: Unsere systemübergreifende Gesangsstimme, die wächst und sich formt. Beim Sprechen gibt es mehr oder weniger deutliche stimmliche Unterschiede je nach Innenperson. Und das trägt beim Singen auch dazu bei, dass jemand etwas höher oder etwas tiefer kommt, als andere, oder anders/individuell betont. Dennoch zeigt sich bisher, dass etwas „Gesamtsystemisches“ beim Singen entsteht- und das ist sehr spannend. Ein integrativer Prozess.
Singen ist Körperarbeit. Sie muss nicht therapeutisch begleitet sein, fördert aber (zumindest bei uns) eine heilsame, traumaintegrative und innersystemisch verbindende Dynamik (selbst dann, wenn nur Einzelne zum Gesangsunterricht gehen und Andere niemals auch nur einen Ton singen wollen!).
Liebe Paula,
wir finden diesen Bericht über eure Erfahrungen mit dem Gesangsunterricht sehr interessant und erhellend.
Wir haben zu der Zeit, in der wir in Rehakliniken unterwegs waren und dort u.a. Atem- oder andere Körperübungen machen sollten nicht verstanden, warum das in uns so einen Widerstand ausgelöst hat. Leider hat uns das damals in diesen Kontexten auch niemand erklärt und uns dabei unterstützt, einen positiven Zugang dazu zu gewinnen. So sind wir lange Zeit einfach in der Vermeidung geblieben.
Hätten wir damals diesen Text gelesen, hätte uns das vielleicht helfen können, unsere spontanen Reaktionen zu verstehen und möglicherweise hätte es uns dabei unterstützt, uns einlassen zu können.
Wir wünschen euch noch viele heilsame Erfahrungen im Gesangsunterricht.
Liebe Grüße von Sanne & den andern
Liebe Sanne und andere, oh ja, das ist schwierig, wenn man die eigenen Widerstände nicht versteht und dadurch dann auch noch mehr unter Druck gerät. Es wäre so gut und wichtig, dann Unterstützung zu bekommen, Erklärungen und Verständnis im Außen, auch als Spiegelung.
Danke für Eure guten Wünsche. Liebe Grüße von uns
Liebe Paula, vielen Dank für diesen Einblick. Ich habe ähnliche Erfahrungen mit dem Singen gemacht, allerdings singe ich eher für mich, ohne Anleitung, wie die Töne im Körper entstehen.
Für mich ist das Singen sehr wichtig geworden, um mich zu beruhigen und zu entspannen. Durch die Schwingungen der Stimmbänder und die bewusstere Atmung komme ich mehr in der Gegenwart an und Verspannungen lösen sich. Außerdem habe ich ein paar Lieblingslieder, die sich auch positiv auf meine Grundstimmung (Schwingung) auswirken.
Das Leben ist mir schöner mit Musik.
Super schön, dass Dir das Singen auch so gut tut. Ich stimme Deinem letzten Satz besonders zu. 🙂