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Über Rettung und Dich

„Es kommt niemand, um Dich zu retten.“

Das zu fühlen und zu wissen, ist eine der schmerzhaftesten Erkenntnisse, die man so haben kann.

Als Kind erlebst Du genau das: Du bist der Gewalt schutzlos ausgeliefert. In Deinem Umfeld gibt es auch Erwachsene, die Dich zwar nicht misshandeln, aber gleichzeitig auch nicht dafür sorgen, dass die Gewalt aufhört. Dir begegnen vielleicht Menschen, die freundlich zu Dir sind. Die „anders“ sind als prügelnd, strafend, bedrohend, o.a.. Bei denen Du Dich wohl oder zumindest nicht panisch fühlst. Kleine Auszeitinseln.

Vielleicht ist Dir als Kind gar nicht bewusst, dass es Alternativen zur Gewalt geben kann. Dass andere Kinder anders aufwachsen. Dass das, was Du erlebst, Gewalt ist- und Du ein Recht darauf hast, dass Dir das nicht angetan wird. Dass es richtig und wichtig ist, ein Kind liebevoll und zuverlässig zu versorgen, zu pflegen, zu fördern, zu begleiten- und dass das keine Dinge sind, die Du Dir erst erarbeiten oder verdienen musst.

Vielleicht hast Du als Kind permanent das Gefühl, falsch zu sein. Zu viel, zu anstrengend, zu dumm, zu fordernd, zu unverschämt, zu seltsam, zu nervig. Du denkst, Du bist Schuld daran und es liegt an Dir, dass Erwachsene „so“ mit Dir umgehen- denn wenn es anders wäre, müsste doch jemand kommen und Dir helfen?

Die Jahre vergehen und die Rettung im Außen bleibt aus.

Das, was Du selbst tust -was Dein psychisches und physisches System automatisch tut, weil es um Anpassung und Überleben geht, ist strukturelle Dissoziation. Rettung im Innern.

Wenn ein Mensch in einer organisierten Gruppierung oder einem in sich geschlossenen familiären Gewaltkontext aufwächst, gelingt eine Befreiung im Erwachsenenalter meistens nicht „von ganz allein“. Sich zu entscheiden, etwas anderes (er-)leben zu wollen, als das, was bisher zur Biographie gehörte- das braucht „gute Gründe“. Es braucht neue Erfahrungen und Begegnungen, Ideen und Anregungen, Spiegelung, Beziehungen innen und außen. Wenn man kein Bild dazu hat, wie es „anders“ sein könnte, wie es aussehen und sich anfühlen könnte- wieso sollte man sich dann für einen neuen Weg entscheiden? Wieso sollte man alte Verbindungen kappen, wenn man dann Schritte ins Bodenlose macht? Wie soll man dafür Mut, Motivation, Kraft, Willen, Energie aufbringen können- wenn da erst mal nur Angst ist?

Unsere Entscheidung, uns räumlich weit weg zu bewegen aus dem Täter*innen-Dunstkreis, ist einer Entscheidung von Außenpersonen gefolgt, die uns gesichert untergebracht haben. Wir haben Menschen gebraucht, die in Bewegung gekommen sind, während wir erstarrt waren. Uns hat das bis in die Haarspitzen überrascht. Wir hätten es auch als furchtbare Grenzüberschreitung empfinden können. Stattdessen waren wir „nur“ überfordert und irritiert und standen mit einem großen Fragezeichen im Kopf da: „Warum machen die so einen Aufriss? Es ist doch (eigentlich) egal? Es ist doch alles wie immer?“

Wir waren zu dem Zeitpunkt Anfang 20. Wir hatten ein Studium begonnen und bereits Therapieerfahrung, lebten in einer eigenen Wohnung, konnten unsere Erlebnisse als Gewalterfahrungen und die Diagnose „DIS“ an sich einsortieren- und waren weiterhin Übergriffen ausgesetzt, für die wir teilweise amnestisch waren. Das war unser „Normal“. Dass wir auf Menschen trafen, die das so nicht hinnehmen wollten, half uns dabei, unser eigenes Bild, unsere Haltung, unsere Vorstellungen u.a. Schritt für Schritt zu reflektieren und zu verändern.

Den Rahmen boten zeitweise Außenpersonen- was wir damit und darin taten, lag in unserer Verantwortung. Es hat uns niemand aus der Gewalt herausgetragen. Als Kind nicht und als Erwachsene auch nicht.

Den Wunsch, es möge jemand oder etwas kommen und einen einfach mitnehmen, weg aus dem Furchtbaren (das Furchtbare beenden)- den kennen wir gut. Er begleitet uns heute noch. Immer wieder zu realisieren, dass da niemand war und auch jetzt und in Zukunft niemals jemand sein wird, der sich so schützend und befreiend vor/neben uns stellt- das ist mit einem großen Schmerz verbunden. Damals rettete uns niemand- das ist nicht mehr änderbar. Und jetzt und in Zukunft liegt die „Rettung“ allein bei uns selbst- das ist der Punkt des Erwachsen(geworden)seins. Schrecklich und gut zugleich.

Der Schmerz der Hilflosigkeit, des Alleingelassenseins, ist für uns nicht (nur) irgendwo im Kindlichen verortet. Es ist nicht (nur) das kleine Kind, das in der emotionalen Erinnerung an diese furchtbare Hoffnungslosigkeit und die daraus entstehende „Ergebung“ (Unterwerfung) feststeckt; es sind keine ausschließlich jungen Bindungsschreie, die einem in der Auseinandersetzung begegnen:

Die (erfolglose) Suche nach Rettung im Außen kann auch auf der erwachsenen Ebene gefühlt und ausagiert werden.

Es gibt keine Therapieplätze. Es gibt keine Schutzeinrichtungen. Niemand hilft. Niemand ist in der Lage, gut zu helfen. Es gibt keine Auswege. Alle machen es falsch. Ich bin und bleibe alleine. Niemand nimmt mich ernst. Keiner glaubt mir. Alle ignorieren mich. Ich bin es nicht wert, dass man mir hilft. Ich habe keine Chance.

Stimmt das alles (so)?

Kontakt zu Menschen im Hilfesystem zu haben, bedeutet nicht zwangsläufig, die Hilfe zu bekommen, die man will oder die man braucht. Und es bedeutet auch nicht, gerettet zu werden.

Kontakt zu Menschen im Hilfesystem zu haben, stellt Chancen dar. Ein Mensch im Hilfesystem zu sein, bringt Möglichkeiten mit sich: Einen Rahmen anzubieten, eine Begleitung, Unterstützung, ein anderes „Normal“. Nicht mehr und nicht weniger.

Da, wo nie gerettet worden ist, als es an der Zeit war, zu retten, ist Schmerz übriggeblieben, der fast wortlos ist. Der kaum Sprache findet, wohl aber Ausdruck. Schutzlosigkeit kann man bei einem Menschen auch nach zwanzig, dreißig, vierzig Jahren noch sehen, wahrnehmen, spüren, mitfühlen- wenn man sich darauf einlässt.

Ich kann nichts tun. Es gibt keine Hilfe. Ich reiche nicht aus. Es ist ein lebenslanges Leid. Betroffene haben keine Chance. Sie tun mir so leid. Täter*innen sind immer stärker. Ich muss mehr tun. Mein Angebot ist ungenügend.

Stimmt das (so)?

Damit in einem Hilfekontakt nicht beide-alle Personen unter dieser Last zerbrechen und eine Dynamik der beidseitigen Erstarrung entsteht, braucht es offene Kommunikation: „Ich wünschte, es hätte mich-uns damals jemand geschützt. Ich bin so sehr traurig, verletzt, erschüttert, dass das nie so war. Mir fällt es heute manchmal schwer, mich selbst gut zu versorgen.“ trifft auf „Ich wünschte, es hätte Dich-Euch damals jemand geschützt. Ich fühle die Traurigkeit mit. Ich wünschte, es wäre anders gewesen. Ich möchte Dich-Euch gerne unterstützen, dass Ihr Euch gut versorgen könnt.“ Oder so ähnlich. Zwei oder mehr Menschen, die miteinander in Bewegung bleiben, um Wege finden und gehen zu können.

Ein Kind, das geschützt wird. Ein Kind, das aus der gewaltvollen Situation herausgeholt wird. Ein Kind, das im Arm gehalten, getragen, getröstet, versorgt, gefüttert, geliebt wird. Ein Kind in Sicherheit.

Das sind innere Bilder, die wir uns zum Einen erst erlauben, zum Anderen auch erst mit Hilfe von außen entwickeln lernen mussten: Wie kann das aussehen, wenn die Gewalt aufhört? Was kann eine „Rettung“ sein? Was braucht dieses Kind? Was brauchen wir?

Hilfe von außen kann dabei sein, gespiegelt zu bekommen, was „Trost“ oder „Beruhigung“ eigentlich ist oder sein kann. Zu erleben, wie sich das anfühlen kann oder wo auch eine „Untröstlichkeit“ anerkannt werden will. Auch das kann in professionellen Unterstützungskontexten stattfinden, wenn sich beide-alle darauf einlassen wollen und genügend Vertrauen und Klarheit zu Grenzen vorhanden sind.

Es ist nicht Deine Schuld, dass Dich niemand geschützt hat. Es ist nicht Dein Fehler, dass Du heute noch den Wunsch fühlst, es möge jemand tun. Es ist nicht Dein Versagen, wenn Du merkst, dass Du immer wieder auf der Suche danach bist.

Es ist Dein Schmerz, der Dich begleitet.

In all dem bist Du Deine Rettung.

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