Über Gewaltschutz, kollektive Dissoziation und Bullerbü

„Gewaltschutz“ ist ja so eine Sache. Was bedeutet denn Schutz? Dass dafür gesorgt wird, dass man nicht (mehr) von (bestimmten) Menschen misshandelt, ausgebeutet, vernachlässigt, verfolgt etc. wird- und dann ist gut? Wer ist dafür an welchen Punkten und wie lange zuständig? Was gehört zu einem „geschützten“ oder „sicheren“ Leben?

Sicherheit ist relativ. Uns hat es nicht gut getan, dass manche professionelle und private Helfer*innen uns vermittelten, dass alles besser werden würde, sobald wir die Verbindungen zum Täter*innenkontext vollständig gekappt hätten. Ihrer Ansicht nach war das oberste Ziel das Ende der Gewaltausübungen durch diese Gruppierung gegen uns. Was danach kam oder kommen sollte, wurde mit den Glitzerworten „Freiheit“, „Selbstbestimmung“, „Autonomie“, „ein gutes Leben“ usw. angepriesen. Wir hatten Zweifel.

Heute, locker 25 Jahre später, können wir sagen: Es stimmt, „es“ ist besser geworden. Ja, wir haben Zugang zu diesen Glitzerworten gefunden und spüren sie immer wieder auch in unserem Leben. Das wäre so nicht passiert, wenn wir im Täter*innenkontext geblieben und weiterhin dieser Gewalt ausgesetzt gewesen wären.

Äußerlich geschützt zu sein ist aber nur ein Basiselement von vielen. Und es beinhaltet mehrere Aspekte, nicht nur jenen, nicht mehr akut misshandelt zu werden: Zum Beispiel Zugang zu Informationen und Hilfsmöglichkeiten, finanzielle Absicherung, medizinische, therapeutische, soziale Versorgung, juristische Begleitung, sicheren Wohnraum, tragfähige, vertrauensvolle private Beziehungen, usw.

Um das Basiselement auch selbst aufrecht erhalten zu können, ist so viel innere Arbeit nötig. Bei dissoziativer Identitätsstruktur reist der Täter*innenkontext häufig ja noch im Innern mit, obwohl im Außen schon länger Distanz hergestellt wurde. Die Gefahr, wiederholt auch anderswo Gewalt zu erleben, außer in der bekannten Gruppierung, ist groß. Und zwar nicht nur, weil die komplexen Traumatisierungen dazu beitragen, dass man z.B. immer wieder in Abhängigkeitsverhältnisse gerät oder Selbstschutzstrategien (noch) gar nicht etabliert werden konnten, sondern auch, weil Gewalt ein ganz „normaler“, üblicher Teil menschlichen Zusammenlebens ist. Die Wahrscheinlichkeit, Gewalt zu erfahren, ist für bestimmte Menschen (vulnerable Gruppen) besonders groß- aber grundsätzlich würden wir sagen: Niemand ist sicher. Sicherheit ist relativ.

Personen in einem „äußeren Ausstieg“ aus organisierten Strukturen zu vermitteln, dass auf sie am anderen Ende des Weges Bullerbü höchstpersönlich wartet, ist keine gute Idee. Gleichzeitig verstehen wir den Impuls bei Helfenden, all dem Schweren, Belastenden, Zerstörenden, Zermürbenden etwas entgegensetzen zu wollen: Hoffnung vor allem. Und es gibt ja auch Grund dazu! Aber zwischen „Gruppierungshölle“ und „Bullerbü“ liegt eine weite Spanne an Lebensrealitäten, für die es sich lohnt, los- und weiterzugehen.

Mut machen. Ermutigen. Begleiten. Jemanden unterstützen, wenn der Weg schwer und mühsam ist, wird oder bleibt. Im Dunkeln das Licht anknipsen. Orientierung bieten. Verbindung zulassen. Ein sicherer Hafen sein. Wenn man sich entscheidet, dies zu tun; so ein Mensch für jemand anderen, der in existenzieller Not ist, sein zu wollen, dann braucht man auch eine eigene, stabile Basis. Eigene Skills. Eigene Sicherheit(en).

Angst ist aber inzwischen für die meisten Menschen deutlich gewachsen. Viele haben ein Sicherheitsempfinden verloren, dass sie vielleicht vor 10 oder 20 Jahren noch hatten. Politische, gesellschaftliche, klimatische Entwicklungen der letzten Zeit führen logischerweise dazu, dass Ängste konkreter und begründeter geworden und nun schwerer zu händeln sind. Es steht so Vieles auf so wackeligen Füßen- und dabei geraten die Helfenden möglicherweise selbst an ihre Grenzen: Niemand kann Sicherheit vermitteln oder schaffen, der sich selbst unsicher fühlt. Niemand kann Hoffnungsglitzer verstreuen, der vielleicht nur noch wenige Krümelchen davon zur Verfügung stehen hat.

Unsere Erfahrung ist: Traumatisierende Umstände überlebt man dadurch, dass man „Portionen“ bildet. Der Schrecken wird innerlich aufgeteilt und an verschiedenen Stellen „verstaut“, weil „Eine*r allein“ es nicht (er-)tragen kann. Aber auch die Wahrnehmung dessen, was „positiv im Leben hält“, kann man in zeitliche und inhaltliche Häppchen portionieren: Ein Moment der Ruhe, ein neuer Flummi, eine freundliche Tier- oder Menschenbegegnung, eine endlich verstandene Matheaufgabe, ein Wolkenspiel, warme Füße, ein Überraschungsei, Musik, ein lustiger Witz, Schmerzreduktion, eine Lösung für etwas, bunte Malstifte, Meeresrauschen- …

Wie wäre es, all das in imaginären Tupperdosen (oder sonstwie) zu sammeln, um es haltbar zu machen? Um die damit verbundenen Erinnerungen und Empfindungen möglichst lebendig und zugänglich bleiben zu lassen- auch und gerade weil Sicherheit eben relativ ist?!

Wir kennen es, dass wir uns alltäglich in Lebensgefahr fühlten. Dass wir nicht einschätzen konnten, wann uns das nächste Mal etwas Schlimmes passieren wird. Dass wir wussten, dass man sich nie zu früh freuen darf und dass man sich niemals an etwas Schönes, Liebes binden sollte. Wir rechneten mit „dem Schlimmsten“, wünschten uns oft, es möge endlich alles vorbei (=tot) sein. Und gleichzeitig konnten wir uns auch freuen, mochten bestimmte Menschen, lachten, spürten manchmal Entspannung und Erleichterung, hatten Momente und Zeiten, die sich „unbelastet“ anfühlten. Ja, auch als Kind in organisierten Gewaltstrukturen!

Das ist der „Zauber“ der Dissoziation, den Menschen auch im Hinblick auf Angst vor Klimakatastrophen, Kriegen, Existenznot, Krankheiten, u.a. kennen. Würden wir nicht alle dissoziieren, würde wohl niemand mehr die Kreuzfahrt für die Rentenzeit planen, Kinder in die Welt setzen, die AfD supporten oder Überflutungen im eigenen Keller ausschließen. Es ist wichtig, manches ausblenden zu können, weil man sonst vielleicht gar nicht mehr (über)lebensfähig ist. Die Frage ist nur: Welche Konsequenzen riskieren wir mit (zu viel) Ausblendung an manchen Punkten?

Das Licht am Ende des Tunnels wird nicht Bullerbü sein. Für niemanden. Deshalb zu erstarren, nicht mehr weiter- oder sogar zurückzugehen, nicht mehr zu helfen, nicht mehr an eine „Verbesserung“ zu glauben (einfach alles stehen und liegen zu lassen, wo es gerade hinfällt) würde das Ende des Konzeptes „Gewaltschutz“ und das Ende der Hoffnung bedeuten.

Kapitulation vor der Erstarkung der Rechten. Kapitulation vor der Macht der Natur. Kapitulation vor Ungerechtigkeiten, Diskriminierungen, Verarmung, Zerstörung, Hass… Das ist ein anderer Umgang, als der neurobiologische Automatismus der (zeitweisen) Dissoziation. Kapitulation ist eine Entscheidung!

Wir glauben an die Macht der vielen kleinen Schritte. An die Heilsamkeit der kleinen Portionen „Glück“. An den Einfluss der Herzverbindungen untereinander. An die Wirkung der alltäglichen Besonderheiten. All jene „Gegenpole“, die dieses „anders als früher“ ausmachen und die dafür sorgen, dass wir weiter dableiben wollen, in dieser Welt, hier und jetzt. Auch und gerade weil Bullerbü eine Fiktion ist.

Welche Wahl haben wir?

2 Kommentare zu „Über Gewaltschutz, kollektive Dissoziation und Bullerbü

  1. Liebe Paula,

    ein schöner, Hoffnung und Mut machender Text.
    Auch wir glauben daran, dass viele kleine Schritte zu einem Weg werden, den zu gehen sich immer wieder lohnt.

    Liebe Grüße von uns zu euch

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