Strafanzeige und der (zu) hohe Preis

„Würdet Ihr anderen Betroffenen empfehlen, Strafanzeige gegen den/die Täter*innen zu erstatten?“ Diese Frage (und die nach unseren Erfahrungen mit der „Opferentschädigung“) wird uns immer wieder mal unter anderem in der Peer- und Angehörigenberatung gestellt.

Grundsätzlich halte ich es für wichtig und richtig, dass Straftaten angezeigt werden. Ich bin aber emotional näher an den Betroffenen, als an der gesellschaftlichen Forderung, Gewalttäter*innen zu bestrafen und ggf. „wegzusperren“. Der Preis, den Betroffene im Zusammenhang mit einem Ermittlungsverfahren oder Gerichtsprozess zahlen, ist immer noch unverhältnismäßig hoch für das, was an Ergebnis zu erwarten ist.

Über unsere eigenen Erfahrungen und Gedanken zur Anzeigenerstattung hatten wir hier bereits geschrieben.

Gut ein Jahr später schaue ich aktuell auf die Berichte über die Hinweise zu ritueller Gewalt in der katholischen Kirche (Bistum Münster) und wundere mich nicht über den Verlauf in dieser Sache. Eine Zusammenarbeit zwischen Kirche und Polizei ist ohnehin nicht vorhanden; im vorliegenden Fall wurde vom Bistum eine Anwaltskanzlei zur (Auf-)Klärung engagiert (nicht etwa eine sozialwissenschaftliche oder psychologische Institution)- die in einem Bericht die Anschuldigungen der über rituelle Gewalterfahrungen berichtenden Menschen als „nicht plausibel“ (=unglaubwürdig) und von Therapeut*innen/Berater*innen suggeriert darstellte. Zwei Rechtspsychologinnen bestätigten dies in ihren gutachterlichen Ausführungen. Verschiedene Medien berichten darüber, die „Unabhängige Kommission des Bundes zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs“ hat eine Stellungnahme veröffentlicht.

Das Problem, unsere Aussagen über sexualisierte Gewalt in einem organisierten Kontext nicht ausreichend mit gerichtsfesten Beweisen untermauern zu können, hatten wir damals (2003) auch. Das, was uns an Erinnerungsmaterial zu der Zeit zur Verfügung stand, war unsortiert, unvollständig und für uns verbal nicht konstant und deutlich genug kommunizierbar. Die Verantwortung für das Scheitern des Ermittlungsverfahrens trugen aber nicht wir, sondern die Ermittlungsbehörden.

Die Entscheidung, Strafanzeige zu erstatten, kam damals zustande, weil es Fachpersonen in unserem Umfeld gab, die uns dazu ermutigten. Sich vom Täterkreis „befreien“ und sich wehren zu können, mit der Idee, endlich „geschützt zu sein“, war die Vorstellung von Therapeut*innen und anderen Unterstützungspersonen bezüglich einer positiven Entwicklung: Die Anzeige als I-Tüpfelchen unseres Ausstiegsweges. Für uns ging es eher darum, unser Möglichstes dazu beizutragen, dass nicht noch weitere Menschen(kinder) Opfer unserer Täter*innen werden.

Betroffene dazu zu ermutigen, sie zu bestärken oder vielleicht sogar zu pushen, mit ihren Erinnerungen an die Öffentlichkeit zu gehen, weil man selbst als Hilfeperson die Ohnmacht nicht aushalten kann, empfinden wir als grenzüberschreitend und im schlimmsten Fall auch sehr gefährlich. Am Ende müssen die Betroffenen damit leben, dass sie als unglaubwürdig bezeichnet werden- eventuell genauso wie die Akteur*innen des Hilfesystems. Möglicherweise verlieren diese ihr Ansehen, ihre Reputation, ihren Job, ihre Illusionen vom Weltbild und ihre Ideen von „Gerechtigkeit“- aber sie können ja immerhin noch weiter von sich sagen, dass sie die parteischen, solidarischen „Guten“ sind. Für die Betroffenen hängt an der (Un-)Glaubhaftigkeit noch mehr: Es ist nicht nur eine traumatische Wiederholung, sondern auch ein direkter Angriff auf die innere Basis.

Ich werde nicht müde, darüber zu sprechen/schreiben, wie wichtig es ist, in der therapeutischen und beraterischen Arbeit mit Betroffenen an dem Punkt der „Erinnerungsthemen“ so zurückhaltend wie möglich zu sein. Deutungen, Interpretationen, Assoziationen sind genau die Fallstricke, die Menschen mit dissoziierten, fragmentierten Erinnerungen Kopf und Kragen kosten- und zwar nicht nur in juristischen Zusammenhängen, sondern auch „ganz für sich alleine“. Ein Bild über die eigene Biographie setzt sich bei einer dissoziativen Identitätsstruktur unserer Erfahrung nach nicht in einem geraden, logischen Prozess zusammen, sondern hat Bruchstücke, Unklarheiten, Lücken, falsche Erinnerungen- von denen sich möglicherweise einige nie ganz aufklären lassen. Man macht Schritte vor und zurück, hat Ahnungen, an manchen Punkten auch klares Wissen, muss manches im Laufe der Jahre korrigieren oder revidieren, kann sich vielleicht nie ganz sicher sein… Mal stehen Worte darüber zur Verfügung, mal geht nur schweigen; mal erkennt und versteht man Trigger und kann sie in einen passenden Kontext einsortieren, mal ist alles ein großes Fragezeichen…

All das sind typische Aspekte einer DIS und keine persönlichen Unzulänglichkeiten. Menschen mit ausreichend (Fach-)Wissen zu Psychotrauma ist das (hoffentlich) bewusst, Kriminalbeamt*innen und Jurist*innen häufig nicht. Kippt dann noch ein*e gutachterliche*r Anhänger*in der „False Memory“-Erzählung sein/ihr Güllefass über der Angelegenheit aus, ist endgültig „Ende Gelände“.

Eine Strafanzeige, ein Ermittlungsverfahren, ein Gerichtsprozess sind nicht unbedingt die Hilfsmittel, um eigene innere Zweifel und Unklarheiten auszuräumen. Wenn du selbst nach Beweisen oder Antworten suchst, dann tust du das im besten Fall mit einem Minimum an Selbst-Freundlichkeit. Wenn das die Justiz tut, dann gilt: Im Zweifel für den/die Angeklagte*n (also nicht für dich). Du stehst dabei nicht (mehr) im Fokus, sondern die Täterverfolgung. Wenn du dabei unter die Räder des fahrenden Zuges kommst, bist du der Kollateralschaden- und das, wo du doch ursprünglich eigentlich „nur“ nach der Wahrheit gesucht hast, weil du dir selbst nicht glauben konntest oder wolltest, stimmt´s?

Wenn man nichts weiter in der Hand hat, als die eigenen Aussagen und wenn niemand/nichts im Außen diese verifiziert, dann brauchen diese Aussagen Qualität- wenn man damit juristisch etwas in Gang bringen will. Es gibt Vorgaben dazu, woran diese Qualität bemessen wird und was du in einem Strafverfahren leisten musst- darüber sollte dich dein*e zukünftige*r Anwalt/Anwältin genauestens aufklären, bevor du Anzeige erstattest. Wenn du dabei merkst, dass diese Messlatte nicht zu dem passt, was du mitbringst, heißt das nicht, dass du versagst oder irgendwie unzureichend bist, sondern dass der Weg eventuell eine andere Abzweigung benötigt als gedacht.

Was brauchen Betroffene, um mit ihren (fragmentierten) Erinnerungen leben zu können? Was bewegt sie dazu, Anzeige zu erstatten und welche Hoffnungen knüpfen sie daran? Welcher Zeitpunkt ist für sie der richtige? Wie viele persönliche, energetische Kapazitäten haben sie für einen jahrelangen Prozess? Wie (gut) werden sie unterstützt und begleitet? Was passiert (innen und außen), wenn sie sich für oder gegen eine (öffentliche) Aussage entscheiden? Gibt es Alternativen zur Polizei, z.B. Anhörungskommission und andere öffentliche Stellen, die für die Betroffenen in Frage kommen könnten?

Unsere Antwort auf die Frage im ersten Absatz lautet: Nein, wir empfehlen keine Strafanzeige. Es ist nur eine Option von mehreren, die dir zur Verfügung stehen, wenn es darum geht, innere und äußere Distanz herzustellen; wenn es darum geht, gehört werden zu wollen; wenn es darum geht, eine Umgang mit der Wut finden zu wollen; wenn es darum geht, aus dem Opfergefühl herauskommen zu wollen, und so weiter- dann gibt es verschiedene Möglichkeiten, wie das gelingen kann. Eine Verurteilung von Täter*innen aus organisierten Strukturen ist (noch) viel zu selten, als dass du auch nur einen Hauch von Erfolgsquote erwarten könntest. Wenn dir dieser Hauch reicht, oder wenn es dir nicht um einen Erfolg im Sinne einer Verurteilung geht- dann schau, wie viele Ressourcen dir innen und außen langfristig zur Verfügung stehen.

Wir brauchen übrigens keinen wilden Aktionismus! Ein Teil, der zu unseren Erfahrungen gehört, ist Ohnmacht. Die braucht ebenso Anerkennung wie Schuld(gefühle). Es ist nicht die Aufgabe und auch nicht das Recht unseres Gegenübers, irgendwas damit zu tun oder irgendwo etwas auszuradieren- schon mal gar nicht ohne Abstimmung mit uns. Es ist uns bewusst, dass es schwer, zum Teil auch unaushaltbar ist, mit Ohnmacht konfrontiert zu sein: Täter*innen tun, was sie tun, weil sie es können. So einfach ist das. Es gibt nur begrenzt Möglichkeiten, das zu verhindern. Diese Erkenntnis kann für Menschen im Unterstützungssystem so desillusionierend, erschütternd oder lähmend sein, dass sie wirklich alle Hebel in Bewegung setzen wollen gegen die Hilflosigkeit. Es kann passieren, dass dann zu weit und zu schnell vorgeprescht wird, dass (zu viel) gehört wird, was (so) nicht gesagt wurde- und dass eine Dynamik entsteht, die allen Akteur*innen zunehmend entgleitet. Bis sie auf jemanden treffen, der das Ganze mit irgendeinem Furz-Argument der „False Memory“-Bewegung, oder einer simplen Logikfrage, oder einer klugen Überprüfung der Umstände vor die Wand brettern lässt. Und da hätten wir sie dann wieder, die Ohnmacht.

Das, was wir erlebt haben, braucht Raum und Anerkennung. Wir möchten uns darüber mitteilen können, wenn wir das wollen. Wir brauchen dazu Gegenüber, die in der Lage und Willens sind, aufmerksam zuzuhören und mitzufühlen, dabei aber nicht ihre eigene(n) Grenze(n) zu verlieren und dann unsere überschreiten.

Es ist unsere Geschichte, nicht Eure.

4 Kommentare zu „Strafanzeige und der (zu) hohe Preis

  1. Respekt und Dank für diese differenzierte Betrachtung des Themas.

    Auch unsere Antwort auf die eingangs gestellte Frage lautet „nein“ und zwar keineswegs, weil wir uns nicht (angemessene) Bestrafung der Täter wünschen würden…
    Leider ist das unserer Erfahrung nach mit einer Strafanzeige aber kaum zu erreichen. Was hingegen zu erwarten ist, ist ein entwürdigender Umgang mit Opferzeuginnen vor Gericht (zumindest was die Seite der Verteidigung betrifft) und im Ermittlungsverfahren. Auch wenn es in unserem Fall letztlich zu einer Verurteilung gekommen ist, hätten wir uns das ganze Procedere gerne erspart, wenn wir die Wahl gehabt hätten.
    Unser Eindruck ist, dass in keinem anderen Strafverfahren mehr nach dem Grundsatz „im Zweifel für den Angeklagtrn“ gehandelt wird, als bei dieser Deliktkategorie.

    1. Danke für Euren Kommentar. Den entwürdigenden Umgang können wir teilweise bestätigen (es gab Ausnahmen, z.B. die vernehmende Kripobeamtin).
      Wir wünschen Euch, dass Ihr Eure Erfahrungen mit dem Strafverfahren verarbeiten und damit leben könnt – vielleicht wird es leichter ertragbar mit der Zeit? Vielleicht auch nicht.
      Viele liebe Grüße von uns

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