Kontaktpunkte

Viel zu einfach

Wir stehen im Discounter im Kassenbereich, als wir hinter uns ein leises, weinerliches „Mama?“ hören.

Wir drehen uns um und sehen neben einem vollgepackten Einkaufswagen ein ca. 4jähriges Mädchen stehen, das sich ängstlich umschaut.

„Oh, suchst Du Deine Mama?“, fragen wir und sie nickt.

Einen kurzen Moment später nehmen wir das Kind an die Hand, laufen durch die Gänge, schauen, wo die Mutter ist und finden sie schließlich. Sie hatte einen Artikel vergessen und ihre Tochter deshalb am Einkaufswagen stehengelassen, um ihn schnell zu holen.

Danach verlassen wir den Discounter und bemerken, dass unsere Hände zittern.

„Wir hätten sie einfach mitnehmen können.“, denkt es innen. „Es ist viel zu leicht, ein Kind zu entführen.“

Wir schlucken Tränen herunter und gehen nach Hause.

Wir haben einen weiblichen Körper, sind außen im Kontakt höflich und hilfsbereit, sprechen ruhig und freundlich – meistens jedenfalls, und all das lässt uns vertrauenswürdig wirken.

Wir stellen keine Gefahr für andere Menschen dar. Wir sind keine Gewalttäter*innen.

Wir wirken nicht nur vertrauenswürdig, wir sind es auch.

Aber es könnte auch ganz anders sein.

Wir könnten „Attribute“ haben, die andere Menschen eher mit „Gefahr“ oder potenzieller Täterschaft assoziieren- was dazu führen könnte, dass man aufmerksamer für das wäre, was wir wie tun.

Und wir könnten aufgrund unserer Gewaltbiographie zudem tatsächlich „Gefährder*innen“ sein.

Das Kind im Discounter hätte auch auf einen anderen Menschen treffen können, statt auf uns im Hier und Heute, zu dieser Zeit. Und dieser Mensch hätte es viel zu leicht gehabt, das Kind zu entführen. Auch deshalb, weil die Bilder über Täterschaft und Opferschaft in den Köpfen vieler Menschen eben (noch) so sind, wie sie sind.

Es wird denen, die Gewalt ausüben möchten, viel zu leicht gemacht. Den Frauen und Männern, (Groß-) Eltern, Verwandten, Lehrer*innen, Trainer*innen, Erzieher*innen, Nachbar*innen, Freund*innen, … Denen, die so vertrauenswürdig wirken, wie wir.

4 Kommentare

  1. ja, sorry, sowas kennen wir leider auch ohne Ende, einmal aus unserer Zeit als Mutter von zwei Kleinen und jetzt als Oma von zwei Kleinen. Und wir haben für uns entschieden, dass wir IMMER auf die Situation und mögliche Gefahr aufmerksam machen, auch wenn es schwer fällt und auch für uns gelernte Tabubrüche bedeutet. Wir machen das mit all der Freundlichkeit und Empathie, die wir gelernt haben. Es ist so wichtig, Menschen darauf aufmerksam zu machen, die das vielleicht gar nicht auf dem Schirm haben oder einfach ausblenden. Also, in dem geschilderten Fall freundliche Kontaktaufnahme zur Mutter, positive nicht gelogene Sachen sagen und dann als Ich-Botschaft in ganz einfachen Worten auf die Gefahr hinweisen ohne genauere Schilderungen. Ein Satz und vielleicht auch eine Frage, die sie mitnehmen kann. Das ist leider jedes Mal sehr schwer und die Widerstände sind groß, aber es ist so wichtig.

  2. Vielen Dank für den Beitrag.
    Ich glaube, es ist auch positiv, dass es in unserer Gesellschaft ein Gefühl der Sicherheit und des Vertrauens gegenüber den anderen gibt. Und auch, dass dieses Gefühl im öffentlichen Raum entsteht.
    Das heißt, dass wir als Menschen und als Gesellschaft miteinander leben und anderen mit Respekt und Wohlwollen begegnen. Ich finde das sehr erfreulich.
    So wie ihr euch verantwortungsvoll um das Kind gekümmert habt, so gibt es auch Menschen, die sich kümmern, die aufmerksam sind oder die sich einfach ihrem eigenen Leben widmen ohne zum Schaden anderer zu wirken.
    Ich persönlich bin dankbar dafür, dass ich mich im öffentlichen Raum sicher fühle und ihn mit anderen teilen und gestalten kann.
    Das ist ein Zeichen für eine gesunde Gesellschaft, in der wir alle zusammenleben.
    Es ist gut, wenn Menschen potentielle Risiken wahrnehmen und entsprechend handeln.
    Ich finde es allerdings auch gut, mehrheitlich mit Vertrauen durchs Leben zu gehen.
    Vertrauen reduziert Komplexität und in vielen Situationen hatte ich bisher den Eindruck, dass andere Personen bemüht sind zum Guten zu handeln.

    1. Ich freue mich für Dich/mit Dir, dass Du dieses Sicherheitsgefühl und Vertrauen im öffentlichen Raum hast!
      Ich würde mir das für alle Menschen wünschen.
      Die Gratwanderung zwischen Vertrauen und Vorsicht ist manchmal sehr schwierig, finde ich. Da spielen so viele Aspekte und Ebenen eine Rolle. Ein großes, komplexes Thema.

  3. es ist wirklich so erschreckend…klar, wir möchten alle in einer Welt leben, wo man ein Kind einen Moment aus den Augen lassen kann… Fakt ist aber, Zivilcourage ist auch bei Menschen, die keine Täter_innen sind, einfach zu gering um sich in eine Situation einzugklingen. ihr wurdest ja auch von niemandem angesprochen, oder das Mädchen, ob sie dich kennt… es macht mich traurig und betroffen… danke, dass ihr geholfen habt.

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