Kontaktpunkte

für sich selbst verantwortlich sein

Ich wünschte, es wäre mehr Menschen klar, was zwischen den Zeilen mitschwingen kann, wenn sie an die „Eigenverantwortung“ appellieren. Ich wünschte, ihnen wäre bewusst, wie viel da dran hängt- und wie wenig und gleichzeitig viel das alles mit Schuld zu tun hat.

Wenn ich mich um mich selbst kümmern kann, bedeutet das, dass ich meine Grenzen spüren, achten und verteidigen kann. Es bedeutet, dass ich eine Wahrnehmung dafür habe, wann mir etwas zu viel wird und was ich dann brauche, um meine Balance und Stabilität nicht zu verlieren, bzw. sie wiederzufinden. Es heißt, dass ich mich selbst (gut genug) kenne; dass ich einen „inneren Werkzeugkasten“ zur Verfügung habe, aus dem ich mich situativ „bedienen“ kann. Wenn ich selbstfürsorglich bin, habe ich zum Einen Zugang zu mir, meinen Emotionen und Bedürfnissen, zum Anderen zu Möglichkeiten, Skills, Handlungsoptionen.

So in Kontakt mit sich leben zu können, wird manchen Menschen wortwörtlich in die Wiege gelegt; d.h. sie bekommen einen Rahmen dafür, ein Ich-Bewusstsein, Urvertrauen und ein „Selbstwert“-Empfinden zu entwickeln, erfahren Spiegelung, sichere Bindung, Halt, usw.

Gewalt ausgesetzt zu sein und dadurch komplextraumatisiert zu werden, bringt das Gegenteil dessen mit sich: Eine stabile Basis fehlt- im Innern wie im Außen. Ohne sie wird es schwer.

Strukturelle Dissoziation als Überlebensmechanismus- oder besser noch: Anpassungsreaktion- beinhaltet eine innere „Entfremdung“. Der Mensch wächst und entwickelt sich auf einem brüchigen, wackeligen, unsicheren Boden- in eine Welt hinein, die einige Erwartungen an ihn hat. „Wer bin ich eigentlich?“ kann eine Frage sein, die einen permanent begleitet- und zwar weniger gedacht, sondern vielmehr empfunden, auf verschiedene Arten und unterschiedlichen Ebenen.

Was erwachsene Menschen voneinander erwarten, woran sie ein „funktionierendes System“ erkennen, ist mehr oder weniger klar: Es gibt formulierte Regeln, Gesetze, Normen- und welche, die irgendwie „unausgesprochen“ gelten, die aber (scheinbar) trotzdem „jede*r kennt“ und „automatisch befolgt“. Wie man miteinander kommuniziert; was „angemessen“ ist und was nicht; was ein*e Erwachsene*r kennen, können, wissen, wollen, schaffen muss, usw.- all das sollte irgendwie selbsterklärend oder logisch sein- für möglichst alle in einer Gesellschaft… Tatsächlich?

Menschen ohne stabile Basis haben häufig damit zu kämpfen, mit genau diesen „gesellschaftlichen Selbstverständlichkeiten“ klarzukommen: Dabei fühlt es sich teilweise so an, als wäre man immer zu langsam oder zu schnell, zu spät oder zu früh, zu laut oder zu leise, zu nah oder zu weit weg… Immer irgendwie falsch, mittendrin verloren und permanent furchtbar angestrengt.

Was willst du nach der Schule machen. Wie soll es weitergehen. Wohin willst du denn. Was ist dir wichtig. Wie meinst du das. Warum kannst du nicht. Weshalb verstehst du nicht. Was soll das denn.

Eigenverantwortung. Erwachsen sein, groß sein, selbstständig sein, sein Leben in die Hand nehmen, eigene Entscheidungen treffen, Pläne haben und umsetzen, soziale Kontakte pflegen, ein Teil der Gesellschaft sein, etwas beitragen und leisten. Teilhabe?

In Gewaltstrukturen „groß zu werden“ bedeutet, schon seit früher Kindheit „alleine klarkommen müssen“ und schon als Kind „erwachsen“ sein zu müssen. Eigene Bedürfnisse werden im Keim erstickt: Sich reduzieren müssen, immer weiter „schrumpfen“, bis nicht mal mehr Hunger, Durst, Müdigkeit gespürt werden; Schlafentzug aushalten, alle spontanen Gefühlsreaktionen unterdrücken; nicht jammern, weinen, schreien, schluchzen, spucken, husten, pinkeln- immer weiter „verschwinden“ und gleichzeitig hoch angepasst und funktional sein in einem zerstörenden Umfeld. Das passiert in (organisierten) Gewaltstrukturen.

Und später dann? Wie leben Menschen mit einer solchen Biographie denn weiter? Bekommen sie Hilfe- ausreichend, bedarfsgerecht, respektvoll, auf Augenhöhe? Oder geht die Gewalt weiter, im medizinischen, psychiatrischen, therapeutischen, behördlichen, etc. Kontext?

Wie ist das, wenn Betroffene mit einem Fuß im Gestern und mit dem anderen im Heute stehen? Wie kann es möglich sein oder werden, etwas im Innern zu verändern, wenn die Basis nicht (mehr) veränderbar ist und es im aktuellen „Außen“ auch mehr oder weniger heftig „hakt“?

Traumafolgestörungen können so vielfältig aussehen und so verschiedene Symptome mit sich bringen- so wie eben auch die Menschen und ihre Biographien unterschiedlich sind. Nicht alles ist sofort klar erkennbar; nicht jede Einschränkung, Behinderung oder Erkrankung, die traumaassoziiert ist, ist auch als solche (sofort) identifizierbar.

Wenn Menschen selbstzerstörerisch agieren und der Eindruck entsteht, dass sie offensichtlich „nicht gut auf sich aufpassen können“; wenn sie Probleme mit der Impulskontrolle haben oder sich in Abhängigkeiten begeben; wenn sie immer wieder „auffallen“, weil sie ein „unangepasstes Verhalten“ zeigen; wenn sie in toxischen und/oder gewaltvollen Beziehungen verharren, usw.- dann können das Symptome von Komplextrauma sein.

Wenn Eigenverantwortung so definiert wird, dass es eine Leistung ist, die ein Individuum alleine schaffen muss, damit sich sonst niemand um es kümmern muss- und so eine Gesellschaftsverantwortung einfach ausradiert oder negiert wird, dann ist „Eigenverantwortung“ ein menschenunwürdiges Konzept.

Menschen dazu zu befähigen, sich im Leben tragen und halten zu können, Entscheidungen für sich treffen und darin Freiheit spüren zu können- das ist eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung und kein Privatvergnügen.

Wenn du nicht mitmachst, können wir dir nicht helfen. Wenn du dies und jenes bis dahin nicht kannst, fällst du durch. Wenn du wirklich wollen würdest, könntest du auch.

Alles Hilfreiche ist in dir selbst- du musst es nur nutzen.

Ich glaube, es ist gar nicht so selten, dass Gewaltüberlebende solche oder so ähnliche Sätze hören oder fühlen. In verschiedenen „Hilfekontexten“ können sie konfrontiert sein mit einer gewissen Härte und einem Autoritätsgebaren- vor allem dann, wenn „Heilungswege“ (zu) lange dauern, (zu) viele Rückschläge erfolgen, „es stagniert“, Symptomatiken aufflammen oder sich (zu) hartnäckig halten.

Ich unterstelle jenen, die diese Aussagen vermitteln, noch nicht mal immer Herzlosigkeit, Unprofessionalität, Arroganz oder Machtprobleme- vielleicht liegt auch manchmal einfach eine Mitgefühlsermüdigung vor, oder Verzweiflung aufgrund mangelnder Distanz, oder eine Fehleinschätzung dessen, was das Gegenüber als „Ermutigung“ empfinden könnte, o.a.

Vielleicht will manchmal eigentlich ausgedrückt werden, dass man an die Stärke/Kraft im Innern des/der Überlebenden glaubt- und daran, dass sie/er in der Lage ist (oder sein könnte), eigenes Wissen und eigene Ressourcen für sich zu nutzen.

Leider kommen aber meiner Erfahrung nach eher Ohrfeigen an, statt Schulterklopfen- in Kombination mit dem Eigenverantwortungsarschtritt.

Eine Ahnung, ein Gefühl oder sogar ein Wissen dazu zu haben, dass Antworten in einem selbst liegen, dass es eine „innere Weisheit“ gibt- das kann energetisieren, motivieren, stärken, erleichtern. Betroffene können Selbstwirksamkeit erleben. Wenn Bezugspersonen klar in ihren Grenzen sind, mit Respekt und Wohlwollen im Kontakt sind und bleiben, können sich auch aus einer instabilen Basis viel Gutes und viel Autonomie entwickeln.

Der Knackpunkt ist, dass Betroffene eben nicht immer auf das zugreifen können, was hilft. Wenn ihnen bewusst ist, dass „die Lösung in ihnen liegt“, und wenn ihnen das von außen auch noch immer wieder auf´s Brot geschmiert wird- dann fühlt es sich furchtbar und beschämend und absolut lähmend an. Dann können da noch so viele Ressourcen, Skills und „Weisheitspunkte“ im System vorhanden sein- wie schrecklich ist es, zu spüren, dass man sie nicht erreichen, nicht verwenden kann?! Wie erniedrigend ist es, wenn andere das aber erwarten und voraussetzen?

Und ja, natürlich gibt es sie, die manipulativen Aktionen, die Drama-Inszenierungen, die mehr oder weniger lauten Hilfe-Rufe, die (Gegen-)Übertragungskatastrophen und das „im-Sumpf-versacken“. Und ja, es gibt auch die Momente, wo der Eindruck entsteht, jemand hätte sich in seinem Leid häuslich eingerichtet und WILL gar nicht raus.

Geht es da tatsächlich um das Wollen oder eher um das Können? Was hilft den Betroffenen an diesem Punkt wirklich?

Klar ist, dass es in Hilfekontexten Grenzen braucht- und vielleicht sehen die manchmal auch so aus, dass ein Arbeitsbündnis oder „Hilfevertrag“ beendet wird. Manchmal geht nur noch „Loslassen“, wenn eine Dynamik zu zerstörerisch, „vertrackt“ oder explosiv geworden ist.

Was aber ist mit dem „Davor“? Wie viele Schritte gab es bis zu dem „nichts geht mehr“-Zeitpunkt? Wie sah der Prozess dieser Spirale aus, die dazu führt, dass sich nichts (und niemand) mehr (weiter-)bewegen kann?

Wie wird „Eigenverantwortung“ eigentlich definiert? Welche Haltung steht dahinter? Was sage oder höre ich zwischen den Zeilen? Wer nimmt welche Fähigkeiten als gegeben an- und wurde das überhaupt mal verifiziert? Gibt es einen gemeinsamen Fokus, gemeinsame Ziele, einen roten Faden?

Die Entscheidung treffen zu können, mit sich selbst achtsam und liebevoll umzugehen und das mit aller Konsequenz- diese Entscheidung wird nicht erleichtert durch (angedrohte) Sanktionen oder rabiate Beziehungsabbrüche. Diese führen höchstens zu einer erneuten, gewünschten Anpassungsleistung. Und dann? Dann steckt unter dem Mantel der vermeintlich erlernten „Eigenverantwortungsübernahme“ einfach nur eine simple „Traumaantwort“.

Schuldzuweisungen und -verschiebungen sind ein Teil von Gewalttraumatisierungen. Als Kind erleben viele Betroffene, dass ihnen Schuld zugewiesen wird: Für das, was passiert oder nicht passiert, oder dafür, wer sich wann wie warum verhält, u.a. Wer trägt wofür „Verantwortung“?

„Das Verb verantworten entstammt dem mittelhochdeutschen verantwürten mit der ursprünglichen Bedeutung sich als Angeklagter vor Gericht verteidigen.“ (Quelle: Wikipedia)

Die Grenze zwischen „Verantwortung“ und „Schuld“ kann hauchdünn sein. Deshalb ist es so wichtig, heute genau darauf zu achten, diese beiden Begriffe zu entkoppeln.

Es ist nicht die Schuld der Betroffenen, dass ihr „Schuld-Ohr“ so aufmerksam zuhört und ihr traumatisiertes Gehirn entsprechend „trauma-logisch“ verwertet und reagiert. Wenn sie Unterstützung dabei bekommen, diese inneren Vorgänge verstehen, reflektieren und selbst Einfluss darauf nehmen zu können, erst DANN kann man das Ganze als „ihre Verantwortung“ bezeichnen.

Und es ist nicht die Schuld der Helfer*innen, wenn ihre Worte oder Aktionen traumaassoziierte Vorgänge in den Betroffenen aktivieren. Aber es liegt in ihrer Verantwortung, sich Wissen darüber anzueignen, ihre Arbeit zu reflektieren und ihre eigene(n) Haltung(en) zu überprüfen.

Ich probiere es/mich aus. Es gibt verschiedene Möglichkeiten. Ich darf Fehler machen. Ich darf mir Zeit lassen. Jede Antwort ist okay. Gestern war es so, heute ist es anders, morgen vielleicht auch. Nichts ist in Stein gemeißelt. Es geht um mich.

Das ist Freiheit.

Die Basis, die wir brauchen.

3 Kommentare

  1. Hallo Paula,
    vielen Dank für deinen spannenden Text. In mir kommen dazu ein paar Gedanken auf. Oft erlebe ich, dass auf die selbstverantwortung die jede/r für sich übernehmen können sollte verwiesen wird , wenn Menschen vielleicht nicht mehr weiter wissen, in Gefühlen von Hilflosigkeit stecken. Wenn es eine Möglichkeit gäbe, aus dieser oft mit Rückzug und Distanzierung verbundenen Phase, heraus zu treten und darüber sprechen zu können würde es vielleicht etwas verändern können. Dafür braucht es viel Kraft denke ich, um Sprachlosigkeit und Schrecken einen Raum zu geben ..
    Es macht einen Unterschied wenn ich jemanden ermutigen kann an seine Stärken und seine Fähigkeiten zu glauben, da zu bleiben auch wenn es ungemütlich wird. Das würde ich z.B. eher als einen Glauben an die selbstbefähigung / selbstermächtigung bezeichnen. Wenn ich an jemanden glaube , bin ich so denke ich mehr in Verbindung. Sucht man nach dem was verbindet oder nach dem was trennt ? Und warum tue ich das ?
    Viele liebe Grüße 🌞

    1. Hallo shy,
      das ist eine sehr interessante Sichtweise.
      Meinst du das mit dem dableiben, wenn es ungemütlich wird, auf beide Seiten bezogen, oder denkst du da eher an die Helferseite?

      Viele Grüße
      Sanne

      1. Hallo Sanne,
        ich denke da an beide und vielleicht wäre es gut wenn die Helfer*innen ein bisschen mehr übernehmen können. Die Impulse flüchten zu wollen, nicht sprechen zu können, sind z.B. bei mir sehr stark..
        Liebe Grüße 🌞

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