Besonders Überlebende ritueller/organisierter Gewalt sind mit dem Gebot des bedingungslosen Gehorsams aufgewachsen und mit dem Gebot des Schweigens. Innerhalb einer solchen Gruppierung wird das Auflehnen oder sich Widersetzen gegen diese Regeln mit schwersten Bestrafungen und Todesdrohungen belegt. Teilweise wird den Betroffenen vorgeführt, was mit „Aussteiger*innen“ passiert, die sich nicht an die Bestimmungen halten.
Das heißt, man erfährt am eigenen Leib durch Folter, wie „absolut“ die Fügsamkeit sein muss und was einen erwartet, wenn man sich widersetzt- und man erlebt als hilflose*r Zeuge/Zeugin die Gewalt gegen andere Menschen, die sich nicht im Sinne der Gruppe verhalten haben.
Insofern ist es für Überlebende ein absoluter Meilenstein, wenn sie sich im Außen zum ersten Mal an helfende Institutionen wenden oder im Kontakt mit der Umwelt mehr von sich und der eigenen Vergangenheit zeigen. Und indem sie das tun, verhalten sie sich selbstbestimmt– besonders auch dann, wenn sie evtl. noch in einem Kontakt mit den Täter*innen stehen und Bewusstseinskontrolle immer wieder greift und Austausch unter den Innenpersonen wenig funktioniert. Trotz aller innerer und äußerer Blockierungen mit Menschen zu sprechen und sich in einer Therapie auf einen Traumaheilungs-, bzw. -bearbeitungsweg zu machen, zeigt persönliche Freiheit, eigene Gedanken und eigenen Willen!
Wir haben immer wieder selbst erlebt und von anderen Betroffenen und Unterstützer*innen gehört und gelesen, wie wichtig die Orientierung und Verankerung im Leben außerhalb der Täter*innengruppierung ist. Neue Erfahrungen zu machen, die die eingetrichterten „Kult-/Gruppenregeln“ als im Hier und Jetzt unzutreffend / unpassend korrigieren, ist ein ganz wichtiger Baustein für die Entwicklung eines eigenen (!) Lebens. Diese neuen Erfahrungen liegen für uns vor allem im Bereich der Beziehungsgestaltung und Bindung an andere Menschen. Vertrauen, Verlässlichkeit, Ehrlichkeit, Grenzen, Streitkultur, Authentizität, Fürsorge und heilsamer Körperkontakt sind für uns die wichtigsten und nötigsten Elemente, die uns in unserem heutigen Leben Fuß fassen lassen. Jede Innenperson hat dabei ein eigenes Tempo- allerdings muss es so etwas wie eine gemeinsame Entscheidung geben, sich auf diesen Weg machen zu wollen, der absolut konträr zum vorgegebenen Weg der Täter*innengruppierung liegt.
Wir wünschen allen Überlebenden Wertschätzung und Anerkennung für diese grundlegende Entscheidung und alle damit verbundenen Schritte.