Jeder Mensch hat das Recht, selbst über sein Leben zu bestimmen, eigene Entscheidungen zu treffen, eigene Wege zu gehen.
Nicht jeder Mensch kann dieses Recht zu jeder Zeit wahrnehmen und umsetzen. Überlebende organisierter, sexualisierter und/oder ritueller Gewalt haben häufig Schwierigkeiten damit, persönliche Rechte überhaupt für sich ernst zu nehmen und zu beanspruchen. Und selbst wenn man kognitiv verstanden hat und weiß, was z.B. Selbstbestimmung eigentlich theoretisch bedeutet, kann man sich noch lange so fühlen, als hätte man diese persönliche Freiheit praktisch gar nicht „verdient“, als könne man sie gar nicht „aushalten“ oder verteidigen.
Selbstbestimmung darf nicht an (Nicht-)Fähigkeiten geknüpft werden. Es handelt sich um ein menschliches Grundrecht. Man muss nicht erst bestimmte Dinge „können“, um dieses Recht für sich zu „erarbeiten“. Es ist einfach da!
Überlebenden organisierter, sexualisierter und/oder ritueller Gewalt begegnet zusätzlich auch noch viel strukturelle Gewalt, z.B. in Form von Diskriminierung, Ableismus, Abhängigkeiten von Sozialleistungsträgern, medizinischer und therapeutischer Unterversorgung, fehlender oder mangelhafter Schutzkonzepte, u.a.
Der eigene Einsatz für ein „gutes* Leben“, in dem die persönlichen Rechte gewahrt werden und Sinnhaftigkeit gespürt werden kann, fühlt sich oftmals wie ein jahrzehntelanger Kampf an- und ist es faktisch wohl häufig auch. Da ist so viel schwer und mühsam, einsam und frustrierend, verletzend und verletzt, zum Teil auch lebensbedrohlich und unaushaltbar. Die Gewalt, bzw. ihre Folgen ziehen sich als roter Faden durch die eigene Existenz.
Und gleichzeitig finden Bewegungen, Entwicklungen, Veränderungen statt. Man erlebt Neues, das sich gut anfühlt; trifft vielleicht zugewandte, freundliche Menschen, die begleiten möchten und können; denkt über Träume, Pläne, Ideen nach; bekommt Zugang und Bewusstsein zum eigenen Innern und den Prozessen darin- und irgendwie entsteht vielleicht mehr Gleichgewicht: Da ist Zerstörtes und Leidvolles und Lebendiges und Gesundes und Hoffnung- und all das ist in mir drin. Alles darf nebeneinander und miteinander „da sein“ und ich lerne immer mehr, liebevoll mit mir zu sein. Weil ich es will und kann.
Der rote Faden ist nicht nur die Gewalt, sondern enthält Beine und Füße, die tragen; ein lebendiges Herz, das konstant schlägt und fühlt; ein Kopf, der verstehen kann und will und (Lösungs-)Strategien entwickelt.
Schwere, langjährige Gewalt zu überleben, hat für uns nichts mit Helden*innentum zu tun. Ein menschlicher Körper ist am Leben geblieben, weil Täter*innen ihn nicht haben sterben lassen und weil individuelle Mechanismen ihn „aufrecht erhalten“ haben.
Wenn ein Kind während massiver Gewalteinwirkung nicht stirbt und die traumatische Zange es nach der Erstarrung in die Fragmentierung treibt- dann ist die Entwicklung einer Dissoziativen Identitätsstruktur eben KEINE Lebensrettung, sondern das Ergebnis von „am Leben bleiben“! „Wir sind Viele geworden, weil wir nicht gestorben sind“ versus „Wären wir nicht Viele geworden, wären wir gestorben!“
Eine Dissoziative Identitätsstörung als Traumafolge ist weder eine zufällige Erkrankung, noch eine selbstgewählte „alternative Lebensform“, sondern eine absolut logische, menschliche Reaktion, die weder selten, noch „bewundernswert“ ist.
Die Vielschichtigkeit, in der das Gehirn diese innere dissoziative Struktur ausgestaltet hat, kann man als „kreativ“ bezeichnen- daneben ist sie aber vor allem eine Anpassungsleistung an ein zerstörerisches Umfeld und lebensbedrohliche Angriffe.
Vom Vorliegen einer DIS darauf zu schließen, dass der betroffene Mensch besondere, möglicherweise „überdurchschnittliche“ Fähigkeiten haben muss, im Leben „zurecht zu kommen“ (wenn man diese Fähigkeiten nur alle entsprechend zu Tage fördern würde), ist keine respektvolle Anerkennung. Im Gegenteil: Der Fokus wird auf das gelegt, was eine Gewalttrauma-assoziierte Behinderung darstellt.
Weshalb sollte ein Mensch, dessen Gehirn über viele Jahre Dissoziation in ausgeprägter Form „etablieren“ musste (und dessen Gehirn sich dadurch auch strukturell veränderte!), stärker, resilienter oder „veränderungsfähiger“ sein als andere Menschen mit nicht-dissoziativer Persönlichkeitsstruktur?
Und warum sollte er andererseits aufgrund dieser Struktur zwangsläufig eingeschränkt sein in der Wahrnehmung seines Selbstbestimmungsrechtes?
Die besonderen Chancen, die eine DIS mit sich bringen kann, sehen wir zum Beispiel darin, Vielfältigkeit greifbarer werden zu lassen. Verschiedene Persönlichkeitsanteile haben unterschiedlichen Zugang zu Eigenschaften, Interessen, Fähigkeiten, inneren Bildern, Erinnerungsinhalten, Emotionen, u.a. Diese Aspekte für sich (und evtl. andere) sicht- und fühlbar werden lassen zu können, ermöglicht auch kreative, individuelle Wege und Kräfte. Eventuell liegen ein_e hohe_s Durchhaltevermögen/Durchhaltebereitschaft vor.
Gelingt es, mit diesem inneren Material zu arbeiten, sich mit all dem „in sich zu Hause“ und sicher zu fühlen und daraus Energie zu transformieren- dann kann ein Leben in Verbindung zu den persönlichen Rechten möglich werden und sein.
Wenn jemand die Selbstbestimmung eines Anderen einschränkt, weil spezielle Fähigkeiten (noch) nicht vorhanden sind oder man ihm/ihr diese Fähigkeiten nicht zutraut, ist das Gewalt.
Menschen anhand individueller Merkmale in (besonders) „fähig“ oder „unfähig“ zu bewerten und zu be-vorurteilen, ist Gewalt.
Eine Traumafolge wie die Dissoziative Identitätsstörung zu glorifizieren, oder sie als individuelle Entscheidung schön zu reden und daraus eine besondere Überlebensstärke (auch für die Zukunft) abzuleiten -die „es doch ermöglichen müsste, besonders gut zurecht zu kommen“-, ist Gewalt.
… Und zum Schluss, weil es so wichtig ist:
Ich habe das Recht auf körperliche und seelische Unversehrtheit.
Ich habe das Recht auf Abgrenzung, Abwehr, Rückzug und Schutz meiner Privatsphäre.
Ich habe das Recht, Kontakte zu anderen Menschen aufzunehmen, zu halten und zu beenden.
Ich habe das Recht, selbst zu entscheiden, wo und wie ich wohnen möchte. (Fehlende finanzielle Mittel oder fehlender Raum tangieren dieses grundsätzliche Recht nicht.)
Ich habe das Recht auf Hilfe und Unterstützung und ich habe das Recht, deren Wirksamkeit selbst zu definieren und zu bewerten.
Ich habe das Recht, mir Vertrauenspersonen selbst auszusuchen.
Ich habe das Recht der freien Arzt/Ärztinnen- und Therapeuten*innen-Wahl.
Ich habe das Recht, Angebote abzulehnen.
Ich habe das Recht, zu sagen, dass ich die Meinung meines Gegenübers nicht hören möchte.
Ich habe das Recht auf eigene Gedanken, Bewertungen und Meinungen und das Recht, sie zu ändern.
Ich habe das Recht, mein Leben zu beenden, wenn ich das möchte.
Ich habe das Recht, mich zu verändern oder auch nicht.
Ich habe das Recht, Gewalt als solche zu benennen, auch wenn andere Menschen das anders sehen.
Euer Text berührt und gerade sehr. Wir müssen das erst einmal rutschen lassen.
Danke
Viele freundliche Grüße zu Euch.
So wunderbar wertvolle Zeilen und dennoch so unerreichbar wirkend.
Es ist so schwer, sich selbst diese Rechte zuzugestehen, auch wenn man kognitiv bereits in der Lage ist, diese zu begreifen – jedoch noch nicht, sie zu ergreifen.
Sich selbst das Recht herauszunehmen, selbst Entscheidungen zu treffen, wird noch ein langer Weg sein – zu erkennen, dass nicht jede Entscheidung, die getroffen worden ist, die der eigenen Rechte entspricht, gelingt jedoch in Ansätzen.
Es ist ein Schritt, dem weitere folgen könnten, auch wenn es oft noch sehr schwer erscheint oder verunmöglicht ist.
Liebe Grüsse
Ja, es ist schwer. Ja, der Kopf weiß zwar…, aber die Gefühle/der Bauch kommen (noch) nicht hinterher. Geduldig mit sich sein und dranbleiben können – das wünschen wir Euch.
Lieb von euch
Nicken… Wie wir innerlich explodieren, wenn davon gesprochen wird, „ohne die anderen hättet ihr nicht überlebt.“ Wenn das jmd so sieht oder damit (sagen ja auch manche mit DIS selbst!) zurecht kommt…. Wir sehen das wie ihr. Danke!
Wie würdet Ihr es denn selbst formulieren wollen? Was wäre für Euch stimmiger?