Bindungstrauma innen und außen: „Wenn alle warten, passiert nichts.“

Die Aussage „Meldet Euch, wenn was ist!“ hat mich noch nie dazu gebracht, mich zu melden.

Weil ich erstens nicht genau weiß, was eigentlich sein muss, damit es zur Definition „es ist was“ passt, und weil ich zweitens das Gefühl und die Erfahrung mit mir herumschleppe, zu viel zu sein: Anstrengend, kompliziert, schwer, belastend, inkompetent, nervig. Außerdem steht meine (Un-)Fähigkeit, mich mitzuteilen, in direkter Verbindung zu dem, was konkret ist.

Meldet Euch, wenn was ist!„: Ich weiß, dass Menschen so meistens ausdrücken wollen, dass sie ansprechbar und grundsätzlich hilfsbereit sind. Ich höre/lese dabei aber den Subtext „Meldet Euch nur, wenn es Euch schlecht geht- und ansonsten bitte nicht.

Mir hilft es, wenn miteinander vereinbart wird, wann welche Form von Kontakt für das Gegenüber okay ist: Schriftlich, telefonisch, in einem Treffen- welche Grenzen gelten wo, wann, für wen? Wenn es Bedingungen gibt, zum Beispiel „nur im Notfall nachts“ oder „wenn niemand sonst erreichbar ist“, dann ist es gut, das so genau wie möglich aufzudröseln: Was ist ein „Notfall“? Was ist, wenn andere Menschen zwar erreichbar wären, aber lieber mit genau diesem einen Gegenüber Kontakt hergestellt werden will?

Zum Glück gab und gibt es in unserem Leben Menschen, die bereit sind, die Verbindung zu uns zu halten, auch wenn wir das phasenweise selbst nicht (gut) konnten und können; auch wenn wir uns zeitweise zurückziehen, die Kommunikation erlahmt, kaum Initiative von uns ausgeht, usw. Hätten Menschen (auch professionell Helfende) in der Vergangenheit nicht aktiv daran gearbeitet, den Kontakt zu uns zu halten, während wir dazu nicht (mehr) in der Lage waren, wären wir heute so nicht in unserem Leben, wie wir es sind.

Es gab zum Beispiel Therapeutinnen, die von sich aus eine SMS oder Email schrieben, um nachzufragen, wie es uns geht. Oder um zu signalisieren, dass sie an uns denken. Manche von ihnen gaben uns ungefragt „Übergangsobjekte“ für die Zeit zwischen unseren Treffen mit, die es uns ermöglichten, eine Bindung zu sehen, zu riechen, zu merken, auch wenn man nicht zusammen war. Manche sagten uns, dass wir ihnen wichtig sind. Manche umarmten und hielten uns. Manche gaben uns einfach einen Zusatztermin zwischen den regulären Stunden. Alles ohne vorheriges Bitten von uns, sondern aus eigenen Impulsen heraus.

Wir haben so heilsame, wichtige, lebensverändernde Bindungserfahrungen AUCH mit professionellen Helferinnen (ja, ausschließlich Frauen) gemacht, auch (!) weil sie alle immer wieder nicht (!) darauf gewartet haben, dass eine Initiative/Aktion von uns kommt. Wer meint, Bindungstrauma löst sich mit der Zeit quasi von alleine auf, wenn man den Menschen „einfach machen lässt“ („Zeit heilt alle Wunden“), der geht vielleicht auch davon aus, dass jemand vor einem reich gedeckten Tisch nicht verhungern kann.

Meldet Euch, wenn was ist!“ oder auch „…wenn Ihr was braucht!“ erfordert viele Selbstwahrnehmungsfähigkeiten und Vertrauen (z.B. in die Tragfähigkeit der Beziehung). Vertrauen entwickle ich auch dann, wenn ein „Augenhöhengefühl“ vorhanden ist. So ein Gefühl ist in einer therapeutischen oder „professionell helfenden“ Beziehung nicht automatisch gegeben. Und manchmal kann´s auch gar nicht entstehen, weil die Umstände gar nicht dazu passen. Oft gehören Abhängigkeit und auch ein Machtgefälle logischerweise dazu- klar, Unterstützungskonstellationen eben. Hauptsache, man hat ein Bewusstsein dafür, reflektiert und bespricht das miteinander. Dazu muss aber auf beiden Seiten ein ehrliches, aufrichtiges, herzliches Interesse an der Beziehung zueinander gegeben sein.

Ihr könnt Euch ja melden.“ Wirklich?

Eigenverantwortung ist ein Schlag-Wort. Professionelle Distanz ebenfalls. Beides ist mehr oder weniger Auslegungssache, wobei es in therapeutischen Beziehungen selbstverständlich Leitlinien gibt, die ihre Berechtigung und Wichtigkeit haben. Sich emotional einzulassen, mitzuschwingen, mitzufühlen, sich für eine Bindung zu entscheiden; aktiv etwas dafür zu tun, dass ein Mensch Halt erfährt, ohne ihm die Selbstbestimmung zu nehmen; mit eigenen Gefühlen sichtbar/spürbar zu werden, ohne die Orientierung zu verlieren- all das muss unserer Erfahrung nach keinesfalls dem „Kodex“ der „professionellen Distanz“ widersprechen.

Jemandem die Entscheidung, sich zu melden, selbst zu überlassen, in einer Situation, in der sie/er kommunikativ eingeschränkt ist, trägt nicht wirklich dazu bei, ein Gefühl von Eigenverantwortung zu etablieren. Das, was dadurch wohl eher gefördert und unterstützt wird, ist die Erfahrung von Isolation und Handlungsunfähigkeit. Der Weg, zum Handy, Stift oder zur Tastatur zu greifen, besteht nicht nur aus einer Handbewegung. Es geht nicht nur darum, es zu schaffen, den Mund zu öffnen und Worte zu sprechen. Weit davor muss es erst mal möglich werden, im Innern etwas wahrzunehmen. Zu spüren, dass da „was ist„. Zu merken: Es gibt einen Leidensdruck oder ein Bedürfnis. Zu realisieren: Es könnte gut sein, irgendwo anzudocken. Aus der Unverbundenheit herauszufinden. Um das wahrnehmen zu können, muss ich aber schon mal den Unterschied erlebt haben zwischen Bindung und Unverbundenheit/Bindungslosigkeit!

Wenn ich weder Zugang zu eigenen Bedürfnissen, noch zu einer Idee von Veränderungsmöglichkeit habe, dann kann ich auch mit dem Konzept „Eigenverantwortung“ nichts anfangen. Und zwar nicht, weil ich mich furchtbar gerne bequem zurücklehne und andere machen lassen will, weil ich nicht motiviert genug wäre oder weil ich mich grundsätzlich lieber in Abhängigkeiten begeben würde, sondern weil ich schlicht und ergreifend keine inneren Basics zur Verfügung stehen habe.

Ich muss am Gegenüber lernen können. Ich muss Spiegelung erleben. Ich muss gute Vorbilder haben. Ich muss früher und heute vergleichen können. Ich muss Raum und Zeit haben, Neues wahrzunehmen, zu sortieren, zu begreifen, zu integrieren, zu etablieren. Das geht nicht aus dem Nichts heraus! Ich kann doch nur mit dem arbeiten, was da ist. Wenn ich keine stabilen, positiven Bindungsbasics einbringen kann, dann brauche ich zwingend hilfreiche Bindungsangebote im Außen, um wirklich begreifen zu können, was gemeint ist. Ich brauche Arbeitsmaterial!

Es geht um äußere und innere Bindungen. Innenkontakt gestaltet sich unserer Erfahrung nach auch deshalb oftmals so hartnäckig schwierig, weil „Verbindung herstellen“ Gefühl(e) braucht. Wenn ich keinen Impuls dazu habe, wohin ich meine (welche?) Antennen ausstrecken soll; wenn ich Angst davor habe, berührt zu werden; wenn ich erstarrt bin; wenn ich auf Kognition geprägt bin; wenn das (lebensbedrohliche) Risiko eines Kontrollverlustes droht; wenn ich gar keine Idee dazu habe, was „Kontakt“ eigentlich sein könnte- wie soll dann Andocken gelingen?

Muss eigentlich immer „was sein„, damit Bindung hergestellt/gespürt werden darf? Braucht es Krisen, Katastrophen, Abstürze, Adrenalin, um sich einer Beziehung versichern zu können (dürfen)? Ist eine Haltlosigkeit Voraussetzung, damit man gehalten wird? Schwierig, wenn ein Kontakt an Leid, Ohnmacht, Hilflosigkeit geknüpft ist- und automatisch endet, wenn es einem „gut genug“ geht, wenn das Leben stabil geworden ist, wenn man nichts/niemanden mehr braucht, weil ja „nichts mehr ist„.

Professionelle Hilfe endet, wenn keine Hilfe mehr gebraucht oder gewollt ist (oder wenn sie nicht mehr finanziert wird). Wenn dabei eine emotionalen Beziehung entstanden ist, kann es passieren, dass der Hilfebedarf aufrecht erhalten werden will. Denn es droht ja ein echter Verlust, der sich mehr aufs Herz bezieht als auf Therapie-, Beratungs- oder Assistenzleistungen. Daraus kann eine ziemlich (selbst-)zerstörerische Dynamik an immer größeren, heftigeren Krisen entstehen- die letztlich nur verhindern sollen, dass ein Abschied furchtbar (existenziell) weh tut. Auch in dem Zusammenhang ist es total wichtig, die Auswirkungen von Bindungstraumatisierungen auf dem Schirm zu haben, um die Betroffenen unterstützen zu können, statt ihnen das nächste Schlag-Wort der „Reinszenierung“ vorwurfsvoll entgegenzuschmettern.

Und wie wäre es, wenn Kontakte z.B. nach langjährigen Therapien nicht mit einem dicken Tabu belegt wären? Wenn es möglich wäre, auch nach Ende einer therapeutischen oder beraterischen Begleitung in Verbindung zu bleiben (z.B. sich mal eine Nachricht schreiben, mal einen Tee zusammen trinken, was auch immer), wenn beide Seiten das wollen und gut besprechen? „Darf man nicht, steht in den Richtlinien, ist Ethik, sehr riskant, geht immer schief, ist professionell distanzlos“? Wir behaupten: Kann in manchen Fällen menschlich, ethisch UND fachlich absolut Sinn machen!

Menschliche Verbindungen können so verschieden aussehen. Es gibt Freundschaften, Bekanntschaften, Partner*innenschaften, Kollegien, Vereine, Nachbarschaften, Kollektive, Gemeinschaften, Affären, Teams, usw. Es gibt unterschiedliche Regeln für die verschiedenen Formen; unterschiedliche Vorgaben, was wo wie „angemessen“, erlaubt, erwünscht ist. Es gibt Hierarchien und Machtverhältnisse, manches ist starr, anderes beweglich. Ein Faktor darin ist unkalkulierbar: Bei wem sich das Herz öffnet. Wenn das passiert, ist daran nichts falsch!

Das Bindungstrauma sitzt im System. Das, was außen passiert (ist), zeigt sich auch im Innern – und (oft auch) umgekehrt. Das, was im Kleinen passiert, wirkt sich auf das Große aus. Und umgekehrt.

Hilfreich kann sein, wenn sich Mehrere daran beteiligen, sich vorsichtig aufeinander zuzubewegen.

Wenn alle gleichzeitig losstürmen, entstehen Kollisionen und Chaos.

Wenn alle warten, passiert nichts.

Es ist okay, wenn du mir schreibst. Ich freue mich, von dir zu hören.

Ich würde gerne mit dir eine Stunde spazieren gehen. Hast du Lust?

Ich melde mich zwischendurch mal bei dir.

Hast du heute was Schönes vor?

Wie war dein Tag?

Ich bin hier und denke an dich.

Hallo, guten Morgen!

Ich habe lange nichts mehr von dir gehört und würde mich freuen, wenn du dich mal meldest, wenn du möchtest.

Du bist mir wichtig.

Ich hab dich gern.

Ich mache dir ein Angebot… / Ich lade dich ein…

11 Kommentare zu „Bindungstrauma innen und außen: „Wenn alle warten, passiert nichts.“

  1. „Ein Faktor darin ist unkalkulierbar: Bei wem sich das Herz öffnet. Wenn das passiert, ist daran nichts falsch!“… Groooooßartige Sätze… Ja, weil wir auch immer wieder mal überrascht sind, bei wem im Unterstützungs-Netzwerk welche Art von Innigkeit und Nähe da ist … Es ist soo unterschiedlich, obwohl im außen ja alle -vermeintlich- gleiches tun: Unterstützen.
    Und: Steht in den Therapie-Richtlinien oder irgendwo offiziell wirklich drin, dass nach einer Therapie kein Kontakt mehr sein darf?? … Ich finde, es spricht nichts gegen mal ne Nachricht😃😃😃

    1. Es gibt das „Abstinenzgebot“ für Psychotherapeut*innen, das besagt, dass ein privater Kontakt nach Ende der Therapie unzulässig ist, bzw. erst dann angebahnt werden darf, wenn der/die Klient*in sich vollständig aus dem therapeutischen Verhältnis gelöst hat (frühestens nach einem Jahr).

  2. Wir erkennen uns sehr wieder in eurem Text. Gerade die Frage, wann man denn um Hilfe bitten darf, kann echt schwierig sein. Ein Problem fuer uns ist auch, dass wir es nicht immer hilfreich finden, wenn Menschen uns helfen, indem man Dinge gemeinsam erledigt. Der Umgang mit Menschen kostet so viel Energie, da können wir es genauso gut alleine machen…
    Es kann auch manchmal schwierig sein, Hilfe zu organisieren. Auch wenn man weiss, dass man eine bestimmte Hilfe an einem bestimmten Tag braucht, muss man ja Kontakt aufnehmen und fragen und und und. Glaub, dass das fuer Aussenstehende schwer nachzuvollziehen ist, wir wissen ja selber nicht, was daran so schwer ist / das Problem ist…
    Wir finden es hilfreich, wenn man konkrete Angebote bekommt. Z.Bsp.: „Ich könnt die Woche fuer dich Einkaufen gehen, welcher Tag wuerde denn passen?“
    Das Angebot von emotionaler Unterstuetzung können wir zur Zeit nur sehr begrenzt ueberhaupt annehmen… Es gibt sehr sehr begrenzte Zeitfenster, wo das möglich ist und die sind nicht steuerbar. Da muss einer im richtigen Moment um die Ecke kommen, was so gut wie nie passiert…
    Danke fuer den Text. Werden versuchen, dass mal mit Menschen in unserem Umfeld zu Thematisieren, damit sie wissen wie sie am besten helfen können.

  3. Danke für euren Text, der mich sehr beschäftigt und auch berührt hat .. so wie ihr Menschen in helfenden Kontexten erlebt habt, die Nähe zu Euch gelebt haben, mit viel Wärme und Offenheit, einer Bereitschaft, die Regel der „professionellen Distanz“ vielleicht auch in Frage zu stellen und für sich einen ganz eigenen Weg zu finden Kontakte zu halten, wenn Halt finden so schwer ist.. Ich habe ganz ähnliche Erfahrungen gemacht.. Ich bin sehr dankbar für diese Menschen, die in mein Leben gekommen sind (und auch, wenn vielleicht Kontakt sich verändern, diese immernoch einen Platz in meinem Herzen haben und ich an sie denke)!

  4. Da möchten wir uns anschließen, Paula und Herbstkind.
    Auch in unserem Leben gibt es eine solche Person, die einen Platz in unserem Herzen hat und wir auch in ihrem. Die tatsächlichen Kontakte sind mit den Jahren immer seltener (nötig für uns) geworden. Aber die Herzensverbindung dafür umso intensiver. Es ist eine verlässliche Bindung, die uns früher das Leben gerettet hat und uns heute noch durchs Leben trägt.

    Sanne

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