Schon seit längerer Zeit denke ich über den Zusammenhang zwischen „Zuckersucht“ und Psychotraumafolgen nach.
Sowohl bei uns selbst, als auch bei einigen anderen (Gewalt-) Betroffenen erlebe ich eine Funktionalisierung des Zuckers, im Sinne einer psychogenen Essstörung.
Mir ist immer wieder aufgefallen, dass ein hoher Zuckerkonsum unabhängig von einer generellen Esssucht (wo nicht nur nach besonders Zuckerhaltigem gegriffen wird) oder Bulimie (mit Erbrechen) vorliegen kann: Es wird zum Einen wie bei einer typischen „Binge Eating“-Attacke eine große Menge hoch zucker-(kohlenhydrate-)haltiger Lebensmittel innerhalb kurzer Zeit vertilgt, oder zum Anderen nicht anfallsartig über einen längeren Zeitraum (aber eben auch in zu hoher, bzw. ungesunden Konzentration).
Meine Theorie dazu beinhaltet unter anderem, dass die zunächst beruhigende Wirkung und die Aktivierung des „Belohnungssystems“ im Gehirn vor allem eine Entspannung des bei Traumatisierten typischen hohen Erregungsniveaus einleitet. Serotonin- und Dopaminspiegel werden erhöht, Adrenalin- und Cortisolspiegel gesenkt, d.h. der innere Stress vermindert sich. Ruhe, Zufriedenheit, Trost, Sicherheit- all die angenehmen Zustände und Gefühle, die sonst oft hart erarbeitet oder auch kaum wahrgenommen werden, können durch den Konsum hoch zuckerhaltiger Lebensmittel (v.a. Süßigkeiten) erleichternd und spontan erreicht werden.
Es passiert also etwas, das sich zunächst hilfreich anfühlt. Man manipuliert so aber nicht nur die subjektive Gefühlslage, sondern auch den Körper, bzw. Stoffwechsel- und trägt möglicherweise langfristig zur Aufrechterhaltung von Traumafolgen bei.
Wenn rasch zu viel Zucker konsumiert wird (nicht nur dann, aber darauf richtet sich mein Fokus gerade), schüttet die Bauchspeicheldrüse „vor Schreck“ zu viel Insulin aus. Große Insulinmengen führen dazu, dass viel zu viel Glucose aus dem Blut in die Zellen befördert wird. Der Blutzuckerspiegel sinkt jetzt zu tief, so dass es innerhalb kurzer Zeit zu einer Unterzuckerung kommt. Diese kann innere Unruhe, Nervosität, Gereiztheit, Stimmungsschwankungen, Zittern, Schwäche, Herzrasen, Schweißausbrüche u.a. zur Folge haben- Symptome, die man auch bei Angst kennt (welche nicht selten dissoziative Phänomene als „Bewältigungsmaßnahmen“ nach sich zieht).
Und hier erkenne ich einen sehr schädigenden Kreislauf: Von der psychotraumatisch bedingten Übererregung (hohes Stressniveau) oder Untererregung (Depression, Lähmungsgefühle, Erstarren, u.a.) führt eine Überzuckerung kurzzeitig in eine Erleichterung (Serotonin als Beruhigung, Dopamin als „Stimmungsaufheller“). Zwangsläufig muss der Körper aber Abbaumaßnahmen ergreifen, bzw. irgendwie verarbeiten und es kommt schließlich zur Unterzuckerung, welche nicht nur dieselben oder ähnlichen Symptome wie bei einer Übererregung produziert, sondern auch Heißhunger auslöst. Auf Zucker/Kohlenhydrate…
Ein (zu) hoher Zuckerkonsum verfestigt nicht nur die körperlichen und psychischen Trauma-Spiralen, sondern ist auch Teil von traumatischen Reinszenierungen und Bewusstseinskontrolle. Man triggert sich selbst.
Die Verbindung von süßem (schokoladigem) Geschmack ist einerseits tröstend und wirkt beinahe wie ein freundliches Schlaflied. Bleibt es nicht bei einem kleinen Bissen, sondern verselbständigt es sich z.B. in den Verzehr einer ganzen (oder mehrerer) Tafel(n) Schokolade, hat diese Handlung den belohnenden oder genussvollen Charakter verloren und wirkt sowohl selbst-schädigend als auch sedierend.
Im Grunde „macht man sich weg“:
Bildlich formuliert versenkt man Unverarbeitetes, Belastendes, Angstmachendes, Überreiztes, Gefühlsintensives in einem klebrigen Zuckerglas.
Taucht später an einer anderen Stelle im Innern aber irgendein andere Aspekt der gleichen Sache wieder auf, bei dem es nötig ist, etwas „zusammenzusetzen“, hat man große Mühe, die versenkten Teile wieder aus dem „Zuckerglas“ herauszufischen. Dann liegen sie verklebt, verschwommen und bewegungsunfähig vor einem und man ist zu betäubt, um sie wieder „klar zu kriegen“.
Weniger metaphorisch formuliert: „Zuckersucht“ macht teilzeitblind.
Zudem können Erinnerungen an Hungern, Isolation/Deprivation, Drogeneinsatz durch Täter*innen und Todesangst angetriggert werden.
Viele Betroffene kennen „Entgleisungen“ des Blutzuckerspiegels und des gesamten Stoffwechsels schon ihr ganzes Leben lang. „Mittelmaß“ oder „Gleichmäßigkeit“ ist nichts, was naturgemäß gegeben wäre. Von einer Gewalterfahrung in die nächste, von einem Horrortrip in den nächsten, zwischendurch „elendes, gelähmtes oder auch dissoziatives Warten auf das nächste Mal“; hungern in isolierten Räumen und später dann „angefüttert/überfüttert werden“ mit hochkalorischen Lebensmitteln; Zucker als Tägermittel für sedierende/betäubende Drogen; körperlicher „Zuckerschock“ als Ausgangspunkt für bestimmte Programmierungen,…
Irgendwo innen werden diese Erinnerungen jedes Mal wieder wach, wenn man meint, sich das Leben wortwörtlich besonders „versüßen“ zu können.
Ausgeglichenheit ist wichtig. Sowohl psychisch als auch physisch. Auf der körperlichen Ebene können folgende Aspekte unseren Erfahrungen nach hilfreich sein:
- Regelmäßig und vollwertig essen: Ein Frühstück wird bei uns leider oft „vergessen“ oder zeitlich verzögert, was uns insgesamt in ein Ungleichgewicht bringt. Wir haben festgestellt, dass ein warmes Frühstück (z.B. Porridge) besonders wohltuend auf uns wirkt.
- Genügend trinken: Tee, Wasser, manchmal Hafermilch mit Kakao
- Gesunder Schlafrhythmus: Möglichst vor Mitternacht ins Bett gehen, dann ist bei uns die Gefahr von Albträumen und Schmerzzuständen geringer, zudem sind wir morgens früher „tagesfit“
- Ausreichend Wärme zuführen: Wenn wir zu sehr frieren, hält uns das in Anspannung, löst Schmerzen (auch rheumatisch) aus und triggert Erinnerungen an frühere Kälte an; diesbezüglich ist die Gefahr von „Zuckergier“ (als Wärmezufuhr) besonders hoch. Das heißt: Die Wohnung heizen, temperaturangemessen kleiden, Kuscheldecken benutzen, warme Fußbäder machen, Körnerkissen/Wärmflasche, Tee trinken, Suppen essen, der hartnäckigen „inneren Kälte“, welche sich nicht oder kaum durch äußere Maßnahmen „erreichen lässt“, mit Reorientierungsmaßnahmen und menschlicher Zuwendung begegnen…
- Ausreichend Bewegung: „Couch-Potato-Sein“ ist nicht immer gleichbedeutend mit Erholung! Wir brauchen Bewegung, um unseren Körper zu entspannen und „übersäuerte Muskeln“ zu befreien, z.B. in Form von Rad fahren, Walking, schwimmen, tanzen, Yoga, Hula Hoop, jonglieren, u.a. Marathon-Training ist nicht nötig für uns (und auch nicht machbar 😉 ), aber regelmäßiges „In- Bewegung-Kommen“ hilft uns zum Einen, nicht dissoziativ zu versacken, zum Anderen auch Spannungszustände abzubauen. Außerdem werden wir auch psychisch und gedanklich „mobiler“.
- Schmerzzustände behandeln: Wir dürfen schmerzfrei sein! Wir bekommen keine Tapferkeitsmedaille für zusammengebissene Zähne (und Zucker als „Belohnung“ ist da Selbstbetrug), also dürfen wir alles Mögliche alternativ versuchen, Schmerzen loszuwerden. Auch medikamentös und naturheilkundlich.
Oh…klingt sehr stimmig und so zusammengefasst in der Wirkung haben wir das noch nie gehört! Finden uns sehr darin wieder…Auch in den Beschreibungen dessen, was dabei potentiell angetickt wird in uns. Danke für den Beitrag!
Wir haben uns mal für den Aufenthalt in einer Klinik interessiert, und als wir erfahren haben, dass die in den ersten 14 Tagen ein Suchtmittelfasten verlangen, zu dem auch Zucker gehört, haben wir uns das nicht mehr zugetraut. Wir haben es häufig ganz gut im Griff. Aber haben auch Regeln, zum Beispiel, dass wir nach der Therapie NICHT sofort in den Supermarkt gehen.
Danke, dass Ihr hier etwas von Euch erzählt habt! Das ist also immer wieder auch ganz schön schwierig für Euch, dieses Ding mit dem Zucker. Und Ihr habt es häufig gut im Griff – das ist toll! Wir wünschen Euch sehr, dass es sich immer wieder genau so anfühlen kann: “Es im Griff haben“ statt andersrum.
Immer wieder wird bei den Anamnesengesprächen nach Süchten gefragt… Drogen, Alkohol, Rauchen. Alles kann ich jeweils mit Nein beantworten. Aber schon so oft lag mir auf der Zunge, dass ich Fastfood und Süsses als Kompensation esse – was somit zu einer Sucht gehört. Zu gross ist jedoch die Unsicherheit, dies jeweils auch zu benennen.
Wissen tun wir es schon lange, ich habe die Ausbildung zur Ernährungstherapeutin – doch Wissen alleine reicht oft nicht aus.
Danke für deine Worte. 🙏
Danke fürs Lesen und Kommentieren. Wir haben das auch schon so erlebt wie Ihr, dass die “Zuckersucht“ bei Anamnesen nicht “abgefragt“ wird, bzw. auch manchmal bei bekannten Essstörungen hinten wegfällt. Vielleicht können Eure Erfahrungen ja auch in Deine Arbeit als Ernährungstherapeutin positiv einfließen.
Danke, dass ihr diesen Text mal wieder veröffentlicht habt! Wir haben ihn uns vor ein paar Jahren schon mal abgespeichert und lesen ihn immer wieder. Denn das ist voll unser Thema und es ist für verschiedene Innies gut, das immer wieder mal zu lesen.
Danke für die Rückmeldung! Wir dachten auch, dass es gut ist, diesen Text vom alten, geleerten Blog hier hin “mitzunehmen“. 🙂
Hallo Paula,
da sind so viele Texte von euch, die es wert wären „mitgenommen“ zu werden
Liebe Grüße
Sanne
Wir sind gerade sehr dankbar für diesen Text, da das (nicht das erste mal) bei uns aktuell Thema ist. Wir fasten seit Anfang des Jahres Zucker…bei uns gibt es irgendwie nur ganz oder gar nicht. Seit 2 Wochen gönnen wir uns die ein oder andere Ausnahme und merken, wie es gerade wieder erst am kippen ist…
Wir kamen noch nie auf Ideen warum das so gravierend ist, warum wir es nicht einfach einschränken können und wie „normale“ Menschen bei einen Stück oder Riegel Schokolade lassen können…spannende Gedanken. Danke euch
Das “ganz oder gar nicht“ beim Essen kennen wir auch gut. Irgendwie passt das für uns zu diesen generellen Up’s und Down’s im Kontext von “Traumafolgeerleben“ (Hochspannung vs. “Erschlaffen“). Und wir finden es sehr interessant, wie viele Betroffene diese Zuckerproblematik kennen und wie viele wir schon sagen hörten “Ohne Schokolade kann ich nicht leben.“… Das ist vielleicht auch ein Satz, den manche Nicht-Betroffene auch so formulieren würden – aber im Zusammenhang mit Komplextrauma finden wir das einfach sehr auffällig…
Hm, Zucker..
zum Teil kenne ich das auch, jedoch versuche ich das in sehr geringen Dosen zu konsumieren und z.B. im Capu usw. wegzulassen. Mal klappt das, mal nicht.
Allerdings komplett auf Schoki zu verzichten.. ich glaube, dann holt man es sich irgendwann ein dreifacher Menge oder so zurück. Vielleicht ist so die Mitte zu halten ein Versuch wert ..
Kennt ihr eine Koffein-sucht ..? 😅
Die Mitte halten- das ist wirklich wünschenswert und ideal, wenn das klappt. Koffeinsucht kennen wir persönlich nicht, wir trinken gar keinen Kaffee und reagieren generell sehr sensibel auf Koffein.