Es ist okay und gut, Dinge zu hinterfragen. Auch innerhalb eines Viele-Systems kann jede*r an allem möglichen zweifeln, jedes Erinnerungsfragment für sich selbst genau überprüfen. Das muss nicht immer bedeuten, dass man sich gegenseitig das Wahrgenommene abspricht und es beinhaltet auch nicht automatisch ein blinkendes Warnlicht, auf dem das Wort „Lüge!“ eingeblendet wird.
Manchmal höre und lese ich von der Überzeug von Helfer*innen und Betroffenen, dass ein*e dauerzweifelnde “Host“/“Gastgeber*in“ zum typischen Symptombild einer DIS gehören soll. Die personifizierte Leugnung sozusagen. Und dass der beste Umgang damit wäre, den Mechanismus des Hinterfragens als reinen Selbstschutz (gegen eine Trauma-Überwältigung) zu bewerten und daran zu arbeiten, alles als biographisch und faktisch „wahr“ einzuordnen, was sich im Innern auftut. Ebenfalls wirkt es auf mich manchmal so, als dürfe die Skepsis an einer DIS-Diagnose gar nicht sein.
Wenn der/die Betroffene selbst immer wieder neu überlegt, ob diese Diagnose wirklich für sie/ihn zutrifft, ist es meiner Meinung nach für z.B. Therapeut*innen wichtig, dies ernst zu nehmen und gemeinsam genau zu überprüfen, was dafür und was dagegen spricht, wann und in welchem Rahmen die DIS erstmals thematisiert wurde, etc. Die Zweifel einfach „auszureden“ oder gar mit dem Argument der „Leugnungsprogrammierung“ aufzufahren (obwohl weder „mind control“, noch ritualisierte/rituelle/organisierte Gewalt als Background geklärt sind), halte ich für einen sehr schädlichen “Behandlungsfehler“.
Was ist schlimm an Zweifeln und Zweifler*innen? Warum darf/soll z.B. eine noch unklare Erinnerung an sexualisierte Gewalt von den Betroffenen nicht hinterfragt werden? Achtsamkeit ist auch hier das Stichwort- in alle Richtungen. Es hängt mehr dran, als nur die Glaubensfrage.
Warum wird bei der Ursachenforschung für eine dissoziative Symptomatik manchmal so schnell das Möglichkeitenfenster geschlossen? Ich finde es kontraproduktiv, wenn DIS zwangsläufig mit ritueller/organisierter Gewalt als Ursache verknüpft wird. Die traumatisierenden Hintergründe können so vielfältig sein wie die Ausprägung der dissoziativen Folgesymptomatik!
Dissoziation hat viele Gesichter. Eine Dissoziative Identitätsstruktur ebenfalls, gleichzeitig gibt es aber auch klare Diagnosekriterien. Wenn es in diesem Zusammenhang Unsicherheiten gibt; wenn die wahrgenommene Symptomatik nicht (ganz) zur Diagnose passt, oder sich Betroffene z.B. im Gespräch über Erinnerungsfragmente vom Gegenüber überfahren fühlen, sind Vorsicht und Skepsis doch völlig angemessen.
Wer, wenn nicht der/die Betroffene selbst hat denn das Recht, das eigene Sein, Erleben und Erinnern immer wieder neu zu beleuchten?
Wieso „darf“ es bei (manchen) Betroffenen auch Jahrzehnte nach der Diagnosestellung, nach den ersten deutlichen Erinnerungen an Gewalttraumatisierungen, keine Zweifel- und Leugnungsphasen mehr geben- und warum werden die von Therapeut*innen manchmal so rigoros vom Tisch gewischt?
Gerade bei dissoziativen Störungen ist es meiner Ansicht nach doch völlig „normal“ und vor allem heilsam (!), die innere Puzzlearbeit immer wieder neu anzuschauen und ggf. zu korrigieren. Ja, das sind schwierige und anstrengende Prozesse, auch für Begleiter*innen – aber so ist das eben: “Heilung“ (bzw. Verarbeitung) verläuft nicht linear.
Wenn man so ein großes Puzzle zusammenlegen möchte, dessen „Gesamtbild“ einem noch gar nicht bekannt ist, muss man doch in regelmäßigen Abständen etwas Distanz einnehmen, vielleicht von oben/außen draufschauen und möglicherweise einzelne Teilchen umlegen- oder sogar neu gestalten, wenn man merkt, dass sie so gar nicht zum Rest zu passen scheinen.
All das hat rein gar nichts mit der Anhängerschaft einer „False Memory Syndrom Foundation“ zu tun und auch nichts mit der generellen Leugung der Dissoziative Identitätsstruktur.
Ebensowenig bedeutet ein Zweifeln sofort: „Du glaubst mir nicht!“.
Es bedeutet im Idealfall: „Du bist mir so wichtig, dass ich mit dir zusammen immer wieder das entstehende Puzzlebild reflektiere, damit es irgendwann wirklich DEINS ist!“
Es ist ja auch völlig verständlich, dass man immer mal wieder zweifelt – gerade als eher alltagsnahe Person im System, die wirklich einfach keinen Bezug zu Trauma hat (weil: Dissoziation!). Wir wurden neulich krankgeschrieben, und die Person von uns, die für uns zum Arzt gegangen ist, hat sehr damit gehadert – weil es ihr nicht schlecht geht. Anderen aber schon. Wenn man mit solchen Widersprüchen konfrontiert ist, ist es verständlich, dass man darüber stolpert und das Ganze dann noch mal hinterfragt. Da hat es uns sehr geholfen, Dissoziation zu verstehen und wie jede:r von uns seine:ihre eigene Perspektive hat, und damit eine eigene Wahrheit.
Grundsätzlich finden wir es wichtig, dass man alle Ideen, Glaubenssätze und Theorien überprüfen darf – ohne dass die andere Person (innen oder außen) daneben steht und sagt „ich weiß jetzt schon, dass du Unrecht hast, aber gut, wir gucken uns das an, damit du das auch merkst“. Manchmal hat die Person, die mit ihrer Meinung allein da steht, nämlich Recht!
Besser finden wir ein Mindset wie „Ich habe meine eigene Meinung, für mich ist es anders, aber wir schauen uns das gemeinsam an und ich bin auch bereit, meine Meinung zu ändern, wenn die Evidenz das hergibt“. Und das gilt genauso für den Umgang mit Kindern, die Angst im Dunkeln haben, als auch mit Alltagspersonen, die skeptisch gegenüber dem Traumakram stehen.
Ja. 🙂