Dissoziation hat viele Gesichter und Ausprägungen:
Amnesien und „Vergesslichkeiten“, Körperwahrnehmungsstörungen, Lähmungserscheinungen ohne körperliche Ursache, innere Abwesenheit, „Black-outs“, nicht mehr ansprechbar sein, nicht hören/sehen/sprechen können, Persönlichkeitswechsel, u.a.
Im Kontakt mit anderen Menschen können diese Phänomene zu Irritationen und Konflikten führen. Nicht immer erfahren Betroffene dann Verständnis, Geduld und Rücksichtnahme. Manchmal reagiert das Gegenüber auch “genervt“, eventuell (unterschwellig) aggressiv-überfordert.
Kurz vor der Abfahrt in den Urlaub, auf dem Weg zum Bahnhof, auf dem Standesamt, bei der Führerscheinprüfung, an der vollen Supermarktkasse, beim Babysitten, auf einer Party, beim Geburtstagskaffee mit Gästen, während des Sex, zwischen engen Terminen, etc.:
Es gibt einfach Situationen, in denen dissoziative Zustände ganz besonders ungünstig schwierig zu händeln sind und wo Begleiter*innen vielleicht denken: „Oh nein, bitte nicht ausgerechnet jetzt!“ Wir können Gefühle wie Hilflosigkeit, Ungeduld, Stress und Schreck in dem Zusammenhang gut verstehen und auch nachvollziehen, dass daraus manchmal Aggression erwachsen kann.
Beruflich Helfende sollten besonders gut reflektieren und achtgeben, wie sich ihre eigenen inneren und äußeren Reaktionen darstellen. Sie haben noch mal eine andere Verantwortung und andere Aufgaben, als Freund*innen, Partner*innen, u.a.
Wir (und viele andere Betroffene) kennen es, von Erzieher*innen, Sozialpädagogen*innen, Therapeuten*innen, Ärzt*innen und anderen Akteur*innen des “Hilfesystems“ für dissoziative Symptomatiken sanktioniert zu werden; wir kennen wütende, lautstarke Aufforderungen zum „Wechseln zu Person XY“, körperliche (teils rabiate) Einwirkungen, um uns „wieder im Hier und Jetzt zu orientieren“, u.a. So etwas ist in unseren Augen unprofessionell und gewaltvoll.
Wir möchten ein paar Worte an An-/Zugehörige und private Begleiter*innen richten:
Wenn du merkst, dass du wütend wirst, weil es dir gerade überhaupt nicht passt, dass dein Gegenüber nicht mehr sprechen, gehen oder reagieren kann, nimm bitte zumindest einen Moment Abstand von ihm/ihr.
Sorge dafür, dass du dich beruhigen kannst, bevor du wieder in Kontakt gehst. Deine Wut kann irgendwo innen im Gegenüber ankommen, auch wenn sie/er noch so weit weg erscheint. Und das kann es schwerer machen, wieder aus der Dissoziation herauszufinden.
Es hilft nicht, wenn du ruppig wirst. Lautes Ansprechen, schütteln, anschubsen, fingerschnippen, klatschen, rufen, o.a. sind häufig keine nützlichen Außenreize zur Reorientierung. Besonders leise, beinahe einschläfernd murmeln oder flüstern, flatterzart streicheln, singen oder summen meist ebensowenig.
Wenn dir der Gedanke kommt, dein Gegenüber würde dissoziative Zustände absichtlich herbeiführen oder manipulativ einsetzen, reflektiere bitte deine Haltung. Dissoziation geht mit Kontrollverlust einher – wirkt ein Verhalten jedoch “gesteuert“, gibt es gute Gründe für Zweifel. Aber es sind zunächst mal deine (!) Zweifel, die du in Ruhe für dich näher beleuchten und später ggf. kommunizieren kannst. In der aktuellen Situation geht’s erst mal um einen Menschen in einem für ihn offensichtlich belastenden Zustand.
Du siehst einen Menschen, der vielleicht mit leerem Gesichtsausdruck ins Nichts starrt, vielleicht nicht mehr schlucken kann oder unkontrolliert zittert, zu Boden fällt, sich einnässt- das sind beschämende Momente und Betroffene brauchen ein Gegenüber, dem das bewusst ist.
Wenn du kannst, beschütze sie/ihn vor neugierigen Blicken Außenstehender, schirme sie/ihn ab, sorge für Ruhe. Falls ihr euch so vertraut seid, dass du gut merken kannst, wann eine vorsichtige Kontaktaufnahme gehen kann und wann du eher Abstand halten solltest, bist du eine wertvolle Unterstützung für sie/ihn.
Dissoziation kann plötzlich und dramatisch beginnen und verlaufen, oder auch ganz still und äußerlich unbemerkt. Für Betroffene ist das alles irgendwie „ganz normal“; wir leben mit diesem „On/Off-Wahnsinn“, es ist eben Teil unseres Lebens und unseres Seins, dass von einer Sekunde auf die andere etwas „abbrechen“ kann. Wir dissoziieren weitaus häufiger, als du es mitbekommst. Und die meiste Zeit des Tages regulieren wir uns immer wieder selbst, ohne dein Eingreifen.
Oft ist weniger mehr. Wilder Aktionismus ist selten hilfreich. Wenn dein Gegenüber beim Einkauf Lähmungserscheinungen in den Beinen bekommt, braucht sie/er nicht sofort einen Rollstuhl. Wenn ein Wegdriften/ ins Nichts starren besonders lange andauert und der Schluckreflex zum Erliegen gekommen ist, muss nicht automatisch der Rettungsdienst gerufen werden. Und wenn ein Innenkind singend neben dir im Auto sitzt, während ihr in eine Polizeikontrolle gewunken werdet, darfst du einfach NICHTS tun, statt fieberhaft nach einer erwachsenen Innenperson zu rufen. 😉
Abwarten, auf die systeminternen Selbstheilungs- und Selbstregulationskräfte vertrauen, durchatmen, einfach „da bleiben“- das ist so viel, so simpel und so hilfreich.
Dankeschön fürs teilen und aufschreiben 🐘