Vorstellungsvermögen

©PaulaRabe

Ihr fällt es schwer, sich vorzustellen, dass Menschen so „bösartig“ sein können, sich zum gemeinsamen „Kindesmissbrauch“ zusammenzuschließen. Sie arbeitet seit 30 Jahren im sozialen Bereich und hatte bisher noch nicht mit organisierter sexualisierter oder ritueller Gewalt zu tun, sagt sie.

„Zumindest haben Sie das Thema bisher noch nicht bewusst in Ihrer Arbeit wahrgenommen“, antworte ich.

Dann sprechen wir noch darüber, was für sie daran so schwer ist, „es sich vorzustellen“. Es geht nicht um die „Glaubensfrage“. Sie zweifelt nicht an der Existenz dieser Gewaltstrukturen, sie stellt die Betroffenen nicht in Frage, sagt sie.

Ich verstehe: Es geht ihr um emotionales Begreifen, nicht um die Kognition.

Sich etwas vorstellen zu können, braucht eine innere Offenheit, etwas für möglich zu halten. Manches ist thematisch sehr weit weg von der eigenen Biographie, dem eigenen Welt- und Menschenbild – dann fällt es vielleicht schwerer, einen Zugang zu finden.

Wenn es darum geht, z.B. Kinder und Jugendliche vor Gewalt zu schützen oder nach Gewalterfahrungen zu versorgen und zu begleiten, dann gehört es zur Profession, sich Dinge „vorstellen“ zu können.

Verschiedene Lebensrealitäten müssen als Fakten anerkannt werden. Sich diese Fakten anzueignen, bedeutet (äußere) Arbeit, braucht Motivation und Ernsthaftigkeit.

Sich emotional einlassen zu können, sich Mitgefühl und Nähe zu erlauben, eine Beziehung zum Gegenüber aufzubauen- das bringt vor allem innere Arbeit mit sich. Für soziale Berufe ist das unserer Ansicht nach aber ganz basal, denn wenn ich mich auf dieser Ebene in einen Kontakt begebe, nehme ich noch mal anders (intensiver) wahr, was mein Gegenüber eigentlich bewegt, was gebraucht und gewollt wird (und was nicht) und kann bestenfalls besser helfen.

Sich etwas vorstellen zu können geht nur dann, wenn man beweglich ist und bleibt.

Wir wünschen uns von Personen im „Hilfesystem“, dass sie daran denken, wie schwer ihnen manche Vorstellungen selbst fallen, wenn sie von Betroffenen erwarten, dass sie „endlich begreifen“, dass jemand gute Absichten hat; dass etwas/jemand „vertrauenswürdig“ ist, usw.

Es geht immer wieder darum, was man wann wie (nicht) sehen kann, darf, will- und warum.

Sie nimmt neue Perspektiven aus unserem Gespräch mit. Wir auch.

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