Kontaktpunkte

Innenkinder und Spiel-Raum

Wir haben immer wieder erlebt, dass heilsame Erfahrungen bei den Innenkindern eine große, positive und umfassende Wirkung auf das gesamte Persönlichkeitssystem haben.

„Heilsam“ muss nicht zwangsläufig „glücklich“ bedeuten. Manche Innenkinder sind schwer zu erreichen, schwer zu beruhigen oder zu versorgen und die größtmögliche Lebensqualitätsverbesserung kann für sie heißen: Weniger Schmerz, weniger Angst, mehr Verbindung im Innen (und evtl. im Außen).

Unserer Erfahrung nach ist es sinnvoll, in einen persönlichen, einladenden Kontakt zu gehen und auf Bedürfnisse zu achten. Manchmal können Wünsche ausgedrückt werden- aber was ist, wenn weder eine Wunschliste für einen Einkauf bei „Toys r Us“ und Co vorgelegt, noch freudestrahlend eine Beziehung zum Vorlese-Ritual aufgebaut wird? Vieles kann erst mal im Sande verlaufen und sich so anfühlen, als agiere man in einen leeren Raum hinein.

Es fällt nicht immer leicht, am Ball zu bleiben. Der Kontakt zu Innenkindern kann auch potentiell triggernd sein, denn sie können zum Einen ein Spiegelbild der Kindheit, zum Anderen die Personifizierung des „Unerlaubten“ darstellen.

Kindliche Verhaltensweisen wie laut sein, Quatsch machen, herumalbern, experimentieren wollen, sich selbst entdecken, u.a. werden in einer gewaltvollen Kindheit oft missbilligt, unterbunden und bestraft. Kinder werden zur „Vernunft“ und zur Gefügigkeit erzogen- und dies zeigt sich häufig auch heute noch bei Innenkindern. Wenn man sich damit auseinandersetzen möchte, wie man ihnen im heutigen Leben helfen könnte, sich weiterzuentwickeln, muss man sich zwangsläufig auch mit „Täter*innen-Introjekten“ befassen.

Was wäre, wenn es gelingen könnte, dass Innenkinder Aspekte von guter Kindheit im Heute nach-erleben dürften? Was wäre, wenn sie Spiel-Raum hätten? Was wäre, wenn sie sich entfalten dürften? Was würde aus ihnen werden, wenn sie sich und ihre damalige Entstehung und das gemeinsame heutige Sein begreifen und einsortieren könnten?

Wohin mit der großen Angst, die diese Entwicklung im Innern auslösen könnte?

Wir haben das Gefühl, dass es sehr heilsam sein kann, manche Innenkinder in ihrem eigenen Tempo ein paar Schritte zurück und somit vorwärts gehen zu lassen. Das „Zurück“ bezieht sich auf eine Annäherung an etwas Alterstypisches. Zum Beispiel kann es sein, dass Innenkinder keinen natürlichen, spontanen Zugang zum Spielen haben. Sie zeigen sich teilweise überfordert von der Möglichkeit der (Frei-)Zeitgestaltung. Selbst wenn ein Innenkind in seiner Aufmerksamkeit zum Beispiel fasziniert auf den Anblick eines „Rennwagens“ auf einem Bild reagiert, kann eine aufgebaute „Carrera-Bahn“ tagelang unberührt herumstehen oder sogar Angst auslösen. Weil die spontane Spiellust innen verkrampft und unterdrückt ist und sich (noch) nicht einfach nach außen zeigen kann. Das braucht Zeit. Zudem ist der Aspekt des „eigenen Besitzes“ möglicherweise ebenfalls angstbesetzt: Wenn man etwas gern hat, konnte das gefährlich sein. Etwas Liebgewonnenes wurde weggenommen, um für irgendetwas zu bestrafen oder unter Druck zu setzen. Insofern fühlt es sich wohl zeitweise sicherer an, besser überhaupt nichts zu „besitzen“, damit man erst gar nicht in die Gefahr kommt, es wieder zu verlieren.

Es hilft in dem Zusammenhang nicht zwangsläufig weiter, diesen Kindern einfach nur mitzuteilen: „Heute darfst du Kind sein und spielen!“ und ihnen kindgerechte Dinge zur Verfügung zu stellen. Sie können gar nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen, weil sie in ihrem bisherigen Leben wortwörtlich „niemals Spiel-Raum“ hatten. Sie kennen „Beschneidung“, Gefängnis, Gewalt und Verhaltenskontrolle.

Es braucht Geduld, Ruhe und Zeit, bis wahrgenommen werden kann: Heute sind kleine, ungewohnte, freie Schritte machbar- eben so, dass sie kognitiv und emotional zu begreifen sind.

Vielleicht werden nach und nach dann doch auch einige Hilfsmittel gefunden, die manchen Innenkindern gut tun. Für uns gilt das Motto „Spiel-Raum statt Spiel-Zeug“. Das bedeutet, dass wir Innenkindern und gleichzeitig uns allen einen erweiterten und sicheren Rahmen schaffen wollen, in dem Bewegung, Entwicklung und Selbst-Bewusstwerden stattfinden darf:

Sie dürfen heute wünschen und trotzen und laut weinen und jammern und Quatsch machen. Sie dürfen sagen „Ich versteh das nicht!“. Sie dürfen alle Fragen stellen, die ihnen einfallen. Und genauso dürfen sie klug und clever sein, wortkarg oder anhänglich, Spezialist*innen in eigener Sache, Besserwisser und Schlauberger. Wir Erwachsenen haben hier zu lernen, dass die diesbezüglichen Ängste, Bequemlichkeiten und Verdrängungsmechanismen in unserer (!) Verantwortung liegen, und nicht in der der Innenkinder.

Der wichtigste Teil unserer „materiellen Schätze“ sind Bücher. Wenn Innenkinder betrachten, was Lotta aus der Krachmacherstraße alles kann und darf, wie eine Kuh ein Baumhaus baut, ein kleiner Kater eine Geburtstagstorte bekommt oder wie die Eier verschiedener Vogelarten aussehen, sind das Friedensmomente. Sie schauen und lernen- nicht nur, wie man komplizierte Worte korrekt schreibt oder wann eine Amsel brütet, sondern auch, dass ihr eigener Kopf ihr eigener Kopf ist und sein und bleiben darf. Sie finden heraus, was sie interessiert und was nicht, was für sie lustig und spannend ist und was nicht, was schön aussieht und was nicht.

Es kann ein bahnbrechender, gesamtsystemischer Prozess sein, wenn Innenkinder endlich ihrem Alter entsprechend in einem gesicherten Heute „sein“ dürfen, während sie gleichzeitig realisieren können, dass es etwas Großes, Erwachsenes im Innenleben gibt, das zu ihnen gehört und für sie Verantwortung übernimmt. Sie meistern einen Spagat zwischen kindlicher Selbstwahrnehmung und erwachsenem Außenleben, eventuell auf dem Weg des Größerwerdens.

Für uns ist verstehbar geworden, warum „gut versorgte Innenkinder“ so systemübergreifend wirken: Wir arbeiten dabei an unserer Basis. Wir konfrontieren uns mit den Ursprüngen unserer Spaltungen.

Und dabei geht es nicht nur um eine hübsch eingerichtete Kinderecke in der Wohnung oder die neueste Ausgabe des Medizini-Heftchens…

8 Kommentare

  1. Ein Beitrag der etwas Verdauungszeit braucht und zum nachdenken und -spüren anregt, wie so viele Eurer Texte.
    Ihr schreibt: „ Was wäre, wenn es gelingen könnte, dass Innenkinder Aspekte von guter Kindheit im Heute nach-erleben dürften? Was wäre, wenn sie Spiel-Raum hätten? Was wäre, wenn sie sich entfalten dürften? Was würde aus ihnen werden, wenn sie sich und ihre damalige Entstehung und das gemeinsame heutige Sein begreifen und einsortieren könnten?“
    Ja, was wäre dann? Wir wissen es nicht und würden es doch so gerne erleben. Leider sind solche Entfaltungsmöglichkeiten in unserem grad eher stressigen von beruflichen Verpflichtungen geprägten Alltag eher selten.
    Wir wünschen uns dennoch Spielräume und bemühen uns darum und seien esauch nur kurze Momente – in der Natur, im Kontakt zu einem Tier, in einem Moment der Verbundenheit zu einem nahen Menschen.
    Wir möchten lernen Spielraum zu schaffen. Schritt für Schritt.

  2. Liebe Paula, vielen Dank für diesen Text!
    Bei mir ist beim Lesen auch ein wichtiger Groschen gefallen…zum einen hatte ich vor kurzem einen wunderbar langen Moment des „so sein dürfens“ zusammen mit einer lieben Freundin, den ich im Lichte dieses Textes gleich nochmal genießen kann.
    Zum anderen ist mir klargeworden, daß mein „Ausgebremst sein und überfordert-sein“ in Zeiten der so dringend nötigen Erholung im Erwachsenenalltag (kann mit angebotenen Pause-Zeiten kaum etwas anfangen) vielleicht auch mit der Haltlosigkeit der Spiel-Räume in der Kindheit zu tun hat.
    Ein spannender Gedanke, der sich wie eine Antwort anfühlt im Inneren.

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