Ich denke, die Gefahr, im Helfen-Wollen hilflos (gemacht) zu werden, ist groß. Es gibt viele Fallstricke in einem unterstützenden Kontakt, und zwar auf beiden Seiten. Für die/den Betroffene(n) liegen die ersten Stolpersteine bereits in der Wahrnehmung der eigenen Bedürftigkeit- allein das erfordert schon eine Menge Reflektionsbereitschaft und innere „Ein-Sicht“. Wenn dann der Weg fortgeführt wird, von der Suche nach einer passenden Hilfsperson (ggf. jahrelang) über ein vorsichtiges Herantasten, zum näheren Kennenlernen, bis zu einem stabilen Arbeitsbündnis, sind so viele innere und äußere Hürden zu überwinden, dass einem schon mal die Puste und die Motivation ausgehen können.
Innerhalb eines therapeutischen oder anderweitig unterstützenden Kontaktes leisten Betroffene immer wieder mindestens Vertrauens-Vorschussarbeit. Wenn es richtig gut läuft, wachsen sie über sich selbst und die eigenen Ängste und Erfahrungen hinaus und gehen eine Verbindung ein, die hält. Sie tragen ihren Teil dazu bei, eine Beziehung zu einem Menschen aufrecht zu erhalten (auch während Kontaktpausen) und zu festigen- und dabei ist es nicht so wichtig, ob es sich um eine professionelle oder eine private Beziehung handelt. Es geht darum, am Ball zu bleiben, in Kommunikation zu sein, präsent und authentisch. Miteinander in Resonanz zu gehen. So etwas funktioniert meiner Ansicht nach nur, wenn die Helfer*innenseite auch bereit ist, diese menschliche Beziehungsebene wahrzunehmen, wertzuschätzen und zuzulassen. Ohne dabei ihre Grenzen zu verlieren. Ein Kunststück ist das, wenn es gelingt. Von beiden Seiten.
Ich denke, die größte Gefahr für Hilflosigkeit innerhalb helfender Kontakte stellen Grenzverluste dar. Wenn ich als Betroffene meine eigenen Grenzen weder kenne, noch spüre, noch erlaube, noch ernstnehme, verliere ich mich auch in einer Beziehung. In meinem eigenen, inneren Zerfasertsein suche ich vielleicht einen Halt in meinem Gegenüber, eine Stabilität, eine Sicherheit. Ich verliere dissoziativ Zeit, Identitätsgefühl, Kraft, Zutrauen (sowohl in mich selbst, als auch in die Welt), Überblick, Hoffnung… Und dann kommt da jemand, der anders ist als das, was ich aus meiner Vergangenheit kenne: Jemand, der mich weder ausbeuten, noch misshandeln möchte. Jemand, der mir signalisiert, dass es (Aus-)Wege geben kann. Dass es sich lohnt, weiterzugehen. Wegzugehen aus einem schädigenden Umfeld. Jemand, der mir die Hand reicht. Oder kleiner noch: Einfach jemand, von dem ich mich gesehen fühle. Vielleicht in einer sich vollkommen aussichtslos anfühlenden Lebenssituation. Selbstverständlich entsteht dann das Bild (die Hoffnung) von einer/einem „Retter*in“. Kann es sein, dass da wirklich jemand ist, der mir dabei helfen möchte, das Chaos (wie auch immer es aussehen mag) zu lichten? Es kann. Großartig und schrecklich zugleich.
Wenn ich als Betroffene „ein Licht am Horizont“ erkenne, kann ich nicht automatisch zugreifen und das Beste daraus machen. Im Idealfall identifiziere ich das Licht als etwas Gutes, Hilfreiches, Nützliches, als etwas, dem ich näherkommen möchte. Im realistischeren Fall sehe ich es zwar, gerate aber erst mal in Angst, weil es mich blendet und sich anfühlt, wie ein Blitz nach jahrelanger Dunkelkammerzeit. Es tut mir weh, weil in meinem Kopf (und meinem Herzen) alle möglichen Aufnahmestellen gereizt werden, die so lange ungenutzt waren. Ich bin nicht sicher, was ich davon halte. Ich weiß nicht, ob es gut oder schlecht ist. Ich spüre vielleicht eine angenehme Wärme- und befürchte sofort, sie unmittelbar wieder zu verlieren. Ich will mich nicht darauf verlassen, ich will nicht hoffen oder eine Sehnsucht entstehen lassen. Weil ich weiß, wie schrecklich es ist, wenn es mir wieder genommen wird. Vielleicht starre ich eine Zeit lang auf das Licht wie das Kaninchen auf die Schlange. Vielleicht mache ich auch sofort kehrt, laufe davon und schaue nie wieder hin.
In dieser Zeit steht mein Gegenüber da und „ist“ einfach. Ein Mensch, der mich gesehen hat und merkt, dass mich etwas belastet. Eventuell hat er sogar schon mehr davon erkannt, was mit mir und meinem Leben los ist. Und er denkt über Möglichkeiten nach, wie ich unterstützt werden könnte, falls ich das möchte. Der Mensch rotiert vielleicht in seinem Kopf wie ein hochtouriger Motor, weil er mehr Notwendigkeit der Lebens-Veränderung bei mir wahrnimmt, als ich selbst. Und gleichzeitig spürt er, dass er jetzt nicht lossprinten darf. Weil er mich sonst in einem Affenzahn überholt, mitschleppen muss oder ganz verliert. Und weil so etwas grenzüberschreitend wäre. Also bleibt mein Gegenüber stehen und „ist“, während es mich anleuchtet und ich versuche, Klarsicht zu bekommen.
Meine Gegenwehr kann genauso massiv sein, wie mein Gerettet-Werden-Wollen. Die große Angst (vor Nähe, vor Strafe, vor Gewalt, vor Verlust, Abhängigkeit, Leere, Hoffnung, Zerfallen, usw.) kann mich davon abhalten, das Hilfsangebot wirklich anzunehmen und für mich zu nutzen. Die gleichzeitige Sehnsucht nach „Erlösung“ (von der Gewalt, dem Chaos, dem Druck, Leid, Angst, Leere…) bringt mich möglicherweise dazu, mein Gegenüber am liebsten umklammern zu wollen. So viele verschiedene Impulse, Angstausprägungen, Wünsche, Bedürfnisse, Gedanken, Fragen können in mir und meinem viel-fachen Inneren aktiv sein, dass ich in der helfenden Beziehung buchstäblich gar nicht mehr weiß, wo mir der Kopf steht. Und vielleicht geht es der /dem Unterstützer*in ähnlich.
Einerseits der Wunsch (der Schrei) nach Hilfe, nach menschlicher Nähe, Kontakt, Bindung, Gewaltfreiheit, Klarheit, Sortierung- und das trifft auf die Motivation, das Engagement, Mitgefühl und Interesse der Unterstützerin/ des Unterstützers. Großartig, wenn daraus ein gemeinsames Arbeitsbündnis entstehen kann. Tragisch, wenn aber die/der HelferIn immer mehr alleine ins „Ackern“ gerät, während der/dem Betroffenen die Luft (oder Lust?) ausgeht.
Andererseits die Abwehr von Veränderung, Bewegung, Berührung, Innen-Einsicht(en), Selbstwertschätzung, Neuem und Lebensbejahendem. Weil es zu viel ist, zu nah, zu schnell, zu verboten, zu anstrengend, zu ungewohnt, zu beängstigend. Immer wieder wird auf die Bremse getreten, werden Fortschritte rückgängig gemacht oder verweigert, der Kontakt unterbrochen oder angezweifelt. Immer wieder Misstrauen und Zerstörungsversuche an der an sich stabilen Basis. Darf es nicht „einfach“ sein? Oder darf es nicht einfach „sein“? Vielleicht arbeitet sich auch hier die/der Helfer*in kaputt, um zu beweisen, dass es sich lohnt. Dass sie/er vertrauenswürdig ist. Dass die Beziehung hält. Dass es Auswege gibt. Dass es Auswege geben muss. Vielleicht hängt sie/er auch der quälenden Hoffnung nach, irgendetwas „wieder gut machen zu können“. Und die andere Seite schaut stumm, gelähmt, reglos, abwehrend, ignorant und lässt den/die Unterstützer*in „zappeln“. Allzu schnell wird dann vielleicht ausschließlich auf fortbestehenden Täter*innenkontakt geschlossen, der Fortschritte verhindert. Aber kann es vielleicht auch sein, dass es eine kleine sadistische Freude an der nutzlosen Mühe gibt? Lust an der Macht? Etwas, das sich vor allem innerhalb der helfenden Beziehung abspielt und darin eine destruktive (alte) Dynamik offenbart? Eventuell etwas Täter*innen-Induziertes? Macht es Sinn, dass der/die Helfer*in hier weiter auf verlorenem Posten ackert, oder wäre vielleicht mal eine Pause angesagt?
Hilfe funktioniert meiner Ansicht nach nicht oder nur kurzfristig, indem man mir zeigt, wie ich etwas zu tun habe. Und schon mal gar nicht, wie ich zu denken oder zu fühlen habe. Ich muss erleben und selbst entwickeln können. Es geht nicht darum, dass man mir beibringen muss, wie man ein Holzregal zusammenschraubt. Es geht um mein Leben. Um MEIN Leben. Um Lebendigkeit. Die kann niemand anderes in mich „hineinhelfen“. Ich muss die Möglichkeit haben, selbst zu be-greifen, was ich kann und will. Wohin ich will. Ob ich aus einem Täter*innenkreis aussteigen möchte, oder nicht. Wenn jemand anderes für mich denkt und fühlt, dass ein Leben außerhalb der Täter*innen-Gruppierung erstrebenswert oder nötig ist, sind das nicht zeitgleich meine Gedanken oder Gefühle, ganz egal, wie nah, intakt, konstruktiv, professionell oder liebevoll diese Beziehung sein mag. So eine Beziehung kann z.B. eine „Ausstiegsbereitschaft“ fördern und stärken. Aber niemand kann mich als erwachsene Betroffene aus einem destruktiven, gewaltvollen Kontakt heraustragen. Selbst wenn ich noch so oft „Hilfe“ schreie. Und selbst wenn mein Gegenüber es noch so gern tun würde.
Meine Grenzdiffusion, mein Chaos im Inneren und meine Zerfaserung gehören zu mir. Wenn ein Helfer*innen-Mensch dem ratlos und überfordert gegenüber steht, ist meiner Erfahrung nach ein Schritt zurück oft sinnvoller, als einer nach vorn. Ich brauche jemanden, der eine Meta-Ebene einnehmen kann, wenn ich selbst völlig im Gewusel versinke. Jemand, der mit mir gemeinsam herumspringt wie ein Flummi, in der irrigen Annahme, mir dann besonders nah zur Seite stehen zu können, knallt möglicherweise beim nächsten Sprung schmerzhaft vor die Wand, während ich selbst sehr viel geübter im Ausweichen bin. Insofern kann der Kontakt besonders konstruktiv werden, wenn etwas Distanz eingenommen wird und eine „Draufsicht“ erreicht werden kann. Auch hier ist es wieder ein großes Kunststück, währenddessen in Verbindung bleiben zu können. Professionelle Distanz bedeutet nicht menschliche Abwendung! Und auch nicht den Verlust einer Sicherheit. Es geht um eine Handreichung, ohne führen zu wollen. Um eine Begleitung, ohne für jemanden gehen zu müssen. Um Aufrichtigkeit.
Gewalt kann auch in einem helfenden Kontakt stattfinden. Eine solche Beziehung bringt ein Machtgefälle mit sich. Die/der, die/der Unterstützung benötigt, einen Leidensdruck hat, nicht weiter weiß oder in die Psychiatrie-Mühlen gerät, steht automatisch eine Stufe unterhalb der Helfer*innen. Bedürftigkeit und „die Abwesenheit von irgendwas“ machen „kleiner“. Und es kann sich nur verändern, wenn es sich „zurechtwachsen“ darf. „Größer werden lassen“ ist meiner Erfahrung nach keine besonders leichte Übung für Helfer*innen. Besonders dann nicht, wenn sich etwas „über den eigenen Kopf hinweg entwickelt“, unbequem, fordernd, anstrengend, vielleicht auch „unsympathisch“. Wenn es um echte „(Über-)Lebens-Hilfe“ gehen soll, müssen Helfer*innen das aushalten, denke ich. Es geht ja nicht um die eigen-macht-volle Ausgestaltung eines „Rohlings“, oder? Es geht doch nicht um Helfen, weil man sich selbst dabei so großartig findet. Oder etwa doch?
Unterstützung, traumatherapeutische Behandlung, sozialpädagogische Beratung, Hilfe im Alltag- all das ist keine One-Woman/Man-Show! Leiden kann und darf gelindert werden, miteinander und durch einander. Sowohl in Innenverbindungen, als auch in Außenverbindungen. Der/die Betroffene bestimmt das Tempo und den Weg. Und der/die Unterstützer*innen sind dabei keine Müllabladeplätze, Punchingbälle, Superheld*innen oder Gurus. Es ist ein großes Geschenk, auf Menschen zu treffen, die bereit und offen dafür sind, begleitend ein Stück des Weges mitzugehen. Und ein ebenso großes Geschenk ist es von uns, wenn wir ihnen das gestatten. Wir sind stark und lebensfähig genug, um uns nicht herumschleppen lassen zu müssen. Das Potential einer stabilen, vertrauensvollen, kompetenten Beziehung ist riesig, wenn wir darauf achten, welche Fallstricke und Stolpersteine uns begegnen. Dass man sich auf die Nase packt oder in (emotionale) Tretminen tritt, wird man nicht immer vermeiden können- aber ob sich das Ganze zu einem zerstörerischen Hilflosigkeitskreislauf entwickelt, haben wir sehr wohl in der Hand.
Vielen Dank für diesen so facettenreichen und gut beschreibenden Text für all das Fühlen innendrin.
Er bringt Licht ins Durcheinander – für beide Seiten.
Dass da Licht ist freut mich sehr. Danke für die nette Rückmeldung.
Ein wundervoller Text, der so viele Aspekte von „Kontakt“ so wunderbar klar beleuchtet!
Für mich persönlich die Kernaussage jedes ehrlichen Kontaktes: aneinander und miteinander wachsen.
Danke.