„Viele sein“ bedeutet, ein Leben mit mehreren Persönlichkeiten/ Persönlichkeitsanteilen/ Innenpersonen /… zu führen. Wie das konkret aussieht; was es für den Alltag, die Selbst- und Fremdwahrnehmung, soziale Kontakte, usw. bedeutet, ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Auch die Art, wie Beziehungen gestaltet und gelebt werden, welche Schwierigkeiten und Herausforderungen darin liegen, ist natürlich verschieden.
Von uns selbst und von anderen Menschen mit DIS kennen wir diverse Fragen, Probleme und Hindernisse, die im Zusammenhang mit Freundschaft, Partner*innenschaft, generell sozialen Kontakten entstehen können. Auch im Austausch mit An- und Zugehörigen haben wir verschiedene Aspekte dazu näher beleuchtet und besprochen.
Ein Thema, das immer wieder auftaucht, ist: „Wie viel Raum bekommt das Vielesein in unserer Beziehung?“ oder auch: „Wer ist eigentlich inwiefern mit wem wie befreundet / verliebt / verpartnert?“
Partner*in, Freund*in, Herzensmensch, o.a. von einer Viele-Person zu sein, bedeutet, in Kontakt mit einer Gruppe zu sein. Wie wird das gelebt, wer hat wie viel Raum und Anteil, mit wem besteht welche emotionale Verbindung?
Welche Bedeutung hat die Beziehung innerhalb des Viele-Systems? Wer trägt Verantwortung wofür, wer ist zuverlässig ansprechbar, welche Bedürfnisse gibt es im Kontakt mit dem Gegenüber und andersherum?
Wie ist das eigentlich, wenn es „Antipathien“ gibt? Wenn welche aus dem System den/die Freund*in / Partner*in nicht mögen- und/oder umgekehrt? Darf das sein und wie gehen beide/alle damit um?
Wenn ich einen Menschen mit DIS liebe/mag, ist es dann auch okay, wenn ich nicht alle/alles an/in ihm mag, oder ist das dann irgendwie diskriminierend? Und wenn ich merke, dass es Persönlichkeitsanteile gibt, die mich ablehnen- muss ich damit zwangsläufig klar kommen (wie?)? Vielleicht „stört“ das die Beziehung auch so sehr, dass es gar nicht miteinander funktioniert? Oder vielleicht schaffe ich es nicht, (emotional) zu differenzieren, obwohl mir bewusst ist, dass ich mit mehreren zu tun habe?
Es gibt Beziehungen, wo nur einzelne Innenpersonen involviert sind. Es gibt welche, wo Eine*r oder manche eine Liebesbeziehung mit jemandem haben, die anderen aber nicht (sondern „nur“ Freundschaft oder „friedliche Koexistenz“ oder „Duldung“). Es gibt auch Beziehungen, in denen nicht offen ist, dass eine DIS vorliegt- und die trotzdem „nah“ sein können. Ob und wie das Vielesein Raum bekommt, wie (viel) es thematisiert wird und wie einzelne Kontakte mit den verschiedenen Innenpersonen gestaltet werden, kommt eben auf die Menschen an, die sich begegnen und wie sie darüber sprechen (können/wollen).
Für uns ist klar, dass wir keine engeren Beziehungen haben können, in denen unser Vielesein verschwiegen wird / werden muss. Wir können lockere Kontakte haben, in einem Verein sein, o.a., ohne dass die DIS da mitgeteilt werden muss oder will. Aber wenn wir mit jemandem befreundet sind, bzw. sich eine Freundschaft aufbaut, wird es irgendwann ausgesprochen. Das kann dazu führen, dass sich an diesem Punkt der Kontakt wieder trennt (und das haben wir schon als sehr schmerzhaft und verletzend erlebt). Aber für uns gibt es keine Alternative: Persönliche, ehrliche, authentische Beziehungen brauchen diese Klarheit.
Wenn sich eine Freundschaft oder sonstige „Herzensbeziehung“ entwickelt und über Jahre etabliert hat, so wie zum Beispiel unsere Liebe zu unserer Ehefrau, dann ist da auch Übung miteinander entstanden. Es ist mit der Zeit klarer und vertrauter geworden, was wie geht und was nicht, welche Grenzen und Bedürfnisse es gibt, wie Kommunikation gut gelingt- im Idealfall ist man irgendwie „im Fluss“ miteinander. „Es hat sich eingespielt“ (besonders auch, wenn man zusammen wohnt/lebt)- das Risiko darin ist, dass man gegenseitig ein bisschen „betriebsblind“ wird (so wie in allen anderen langjährigen sozialen Beziehungen, egal ob mit oder ohne DIS).
Zu Beginn einer Beziehung kann das Vielesein „aufregend und neu“ sein, es gibt viel zu entdecken, zu besprechen, miteinander (erstmalig) zu erleben; das Kennenlernen findet ggf. immer wieder neu statt (mit den verschiedenen Innenpersonen), man wird vertrauter, aber es ist einfach spannend und „lebendig“.
Im weiteren Verlauf kehrt evtl. dann mehr Ruhe ein, mehr Sicherheit im Umgang, man hat mehr Überblick über die jeweilige innere Struktur (egal ob mit oder ohne DIS), das Tempo wird vielleicht etwas langsamer. „Wie schön, wir sind beieinander angekommen!“ ist die eine Seite. Die andere Seite könnte sein: „Und jetzt? Irgendwie ist mir langweilig geworden.“
Eine DIS kann in einer langjährigen Beziehung nach und nach „unbemerkter“ werden (bewusst/gewollt oder auch nicht). Sie kann „so nebenbei“ mitlaufen, aber mit weniger Aufmerksamkeit und Fokus, weniger Aufregung, weniger Druck und Anspannung. So, wie das auch Betroffene selbst möglicherweise für sich im Laufe der inneren Auseinandersetzung erleben: Vom Drama rund um die Diagnose und erster bewusster Wahrnehmung, dem ersten inneren Kennenlernen und spürbarem Chaos, dem Schock, Stress, der intensiven Traumafolgesymptomatik- hin zu „ruhigeren Fahrwassern“, in denen zwar natürlich nicht alles easy läuft (wie auch?!), aber trotzdem mehr Stabilität vorhanden ist.
Jahrelange innere Arbeit kann eben genau das bewirken: Mehr Bodenhaftung, sich selbst besser kennen und händeln können, Reduktion des Stresspegels, inneres und äußeres Auspendeln. Mehr durchatmen und lockerlassen. Nicht im Sinne von „Juchhu, ich bin geheilt!“, sondern von „Okay, so kann ich / können wir gut leben.“
Die „ruhigeren Fahrwasser“ zeigen sich nicht nur in inneren, sondern auch in äußeren Beziehungen/Kontakten. Was für eine Erleichterung kann das sein, was für ein herzerwärmendes Gefühl von „Zuhausesein“ kann das mit sich bringen! Wir sind zutiefst dankbar, dass wir das so auch in unserer Ehe erleben dürfen.
Und gleichzeitig sagen wir: Obacht!
Die Gefahr, dass welche innen in Vergessenheit geraten, dass sich eine vertraute, (bequeme?), automatisierte Verdrängung einschleicht, dass schwierige Themen zugunsten einer vermeintlichen „Entspanntheit“ ausgeblendet werden, kann groß sein. Eine (oder mehrere) Beziehung(en) und ein Alltag, wo nur Einzelne aus dem System angesprochen, gefordert, eingebunden sind, tragen dazu bei, dass sich genau diese „Exklusivität“ verfestigt. Nicht umsonst kämpfen viele Betroffene mit einem sogenannten „Funktionsmodus“, der einerseits lebensrettend und (über-)lebenswichtig sein kann (und zudem sozial „belohnt“ wird), andererseits aber auch wie ein Korsett einschnürt, Bewegungsfreiheit nimmt, furchtbar anstrengt- und innen einige(s) „hinten wegfallen“ lassen kann, was sich nur sehr mühsam wieder in einen Fokus holen lässt.
„Was ist eigentlich mit L.? Ich habe sie schon lange nicht mehr gesehen.“
„Wie geht es eigentlich M.? Ich vermisse ihn.“
„Habt Ihr im Moment innen Kontakt zu P.? Falls ja, könntet Ihr ihr liebe Grüße von mir ausrichten?“
„Ich würde den Kindern gerne ein Geschenk machen. Einfach so, weil ich an sie denke. Hast du / habt Ihr eine Idee, worüber sie, bzw. manche von ihnen, sich gerade freuen würden?“
„Ich habe mich gestern mit T. gestritten. Ich weiß, du hast damit nichts zu tun. Aber mir hängt das noch nach und ich bin noch sauer / verletzt / irritiert / nachdenklich. Ich würde mich gerne mit T. aussprechen, sobald das möglich ist.“
… solche und ähnliche Sätze sind für uns zum Beispiel sehr hilfreich und wichtig, wenn wir sie von einer Beziehungsperson hören/lesen. Sie zeigen uns, dass wir ihr wichtig sind (und zwar gesamtsystemisch) und unterstützen uns dabei, selbst nicht nachlässig zu werden in der Arbeit am inneren Kontakt.
„Viele sein“ bedeutet, ein Leben mit mehreren Persönlichkeiten/ Persönlichkeitsanteilen/ Innenpersonen /… zu führen. Es bedeutet nicht, dass es 24/7 in Gesprächen und Kontakten genau darum gehen muss und nichts anderes daneben Platz haben kann. Beziehung mit einem Viele-Menschen braucht aber ein Bewusstsein dazu, dass die DIS 24/7 Einfluss darauf hat/haben kann, wie Dinge wahrgenommen, gespeichert, erinnert, gefühlt, kommuniziert werden- und wie Bindung gespürt und gehalten werden kann.
Ohne Geduld, Arbeit, Durchhaltevermögen und die Bereitschaft, in Bewegung zu bleiben, gerät all das vielleicht innen und außen in Vergessenheit.
Im besten Fall passiert es aber nicht. 🙂
Danke fürs Teilen!
Wir haben leider schon die Erfahrung gemacht, dass Bekannte/ Freunde den Kontakt zu uns beendet haben, nachdem wir ihnen von der DIS erzählt haben. Wir haben das als sehr schmerzhaft, kränkend und verletzend wahrgenommen.
Wenn ihr eure Erfahrungen und Meinungen teilen möchtet: Wie seid ihr bzgl. der DIS im Bereich Ausbildung, Studium, Beruf etc. umgegangen bzw. wie geht ihr damit um? Falls ihr eine Ausbildung macht/ gemacht habt, studiert/ studiert habt oder arbeitet, habt ihr die DIS in diesen Bereichen offen gemacht (z.B. gegenüber Arbeitgeber*in, Kolleg*innen)? Wie haben die Personen die DIS aufgenommen? Oder wenn ihr nicht über die DIS erzählt habt, was sprach aus eurer Sicht dagegen?
Jetzt sind es sehr viele Fragen geworden… Wir beschäftigen uns mit dem Thema schon länger. Daher wenn ihr Lust habt darüber zu schreiben und eure Meinungen und Erfahrungen zu teilen, freuen wir es zu lesen. 🙂
Hallo 🙂 danke für Eure Rückmeldung. Traurig, dass Ihr auch schon solche Verletzungen erlebt habt im Kontakt mit anderen Menschen. Wir finden es bei einem Kontaktende nach Offenlegung der DIS wichtig und hilfreich, die Gründe zu erfahren und zu verstehen. Also ein Warum zu beleuchten. Aber das geht natürlich nicht immer und braucht Bereitschaft und Ehrlichkeit vom Gegenüber. Für uns ist es gut, wenn wir hören oder merken können, dass die Gründe für das Kontaktende nicht „wir“ sind und letztlich auch nicht die DIS an sich, sondern vor allem Ängste, Befürchtungen, Vorurteile o.a. beim Gegenüber. Macht den Schmerz nicht weg, kann aber etwas relativieren.
Zu Euren Fragen schreiben wir gerne einen Blogtext. 😉
Vielleicht mögen ja auch andere Leser*innen hier etwas zu ihren Erfahrungen in Arbeit/Ausbildung/Beruf schreiben. Fänden wir auch spannend zu lesen.
„Bitte fragt nach Mir, wenn du mich vermisst.“, spricht K. Seine Stimme schwingt dumpf.
M schüttelt den Kopf: „Sie vermisst dich nicht.“ Mir schaut auf.
„Du bist es nicht!“, weiß sie im gleichen Augenblick, doch wer da schreibt, das sieht sie nicht. 🙃
Vielen Dank für euren Beitrag.
Vertrauen entwickeln und können, in das anfänglich Unvertraute, das bedeutet sehr viel Mut für alle Beteiligten. Als Alternative für Mut reicht ein Menschenbild, das die Würde des Gegenübers schätzt (wertschätzt), wie die eigene. Dann stimmt die zwischenmenschliche Beziehung aufgrund der Haltung der Personen.
Jede Begegnung und damit jedes zwischenmenschliche Miteinander ist meines Erachtens eine Form von Beziehung, in der man sich begegnen (und öffnen) kann, könnte, möchte, oder eben nicht.
Ich entscheide auf der Arbeit, so wie im privaten Bereich „individuell“ wem ich mein Vertrauen schenke und hoffe, dass die Personen es mir dann auch entgegen bringen. 🙂
Dabei orientierte ich mich sehr an der Haltung, die diese Personen, sich selbst und anderen Menschen gegenüber einnehmen. Wie sie mit anderen umgehen, vor allem dann, wenn es leicht wäre über einen anderen Menschen zu urteilen? Wie sie sich in gruppendynamischen Momenten verhalten? Oft gibt es dann Personen, die mich auf Grund ihrer Haltung, Transparenz und Authentizität entlang ihrer Werte davon überzeugen ihnen zu vertrauen. Und ich bin sehr dankbar für solche Momente und solche Menschen in meinem Leben. 🙂