Nachdem wir 1999 die Diagnose „Multiple Persönlichkeitsstörung“ (heute „Dissoziative Identitätsstörung“) erhielten, suchten wir nach Büchern, Dokumentationen, Reportagen o.a. zu diesem Thema. Im Internet bewegten wir uns zu dieser Zeit noch gar nicht. Wir fanden irgendwann die Bücher „Multiple Persönlichkeiten“ von Michaela Huber und „Schmetterlingsfrauen“ von Sabine Marya, entdeckten die Selbsthilfe-Zeitungen „Matrioschka“ und anschließend die „DIS-Tanz“, hörten ein Radio Feature, sahen die Reportage „Die Seele brennt“. Direkte Kontakte zu anderen Betroffenen hatten wir nicht, aber wir erlebten eine Art Austausch und Wiedererkennen über die Beiträge in den Selbsthilfe-Zeitungen.
Später entdeckten wir die Möglichkeiten des Internets, nutzten das „Lichtstrahlen-Forum“ und einen Chat. Social Media war damals noch kein Thema. Analoge Selbsthilfegruppen kamen für uns aus Angst und Überforderung nicht in Frage und uns waren auch keine in unserer Umgebung bekannt.
Heute sieht alles ganz anders aus: Es gibt viel mehr verschiedene Literatur, Filme, Dokumentationen, Medienberichte, Selbstvertretung und Accounts von Betroffenen in sozialen Netzwerken, Chats, Gruppen, u.a. Darüber, wie der Austausch im analogen Leben deutschlandweit aussieht, wie viele Selbsthilfegruppen, Vernetzungsinitiativen, Intervisionsgruppen und Arbeitskreise existieren, haben wir keinen Überblick.
Wir bekommen vor allem über unsere Öffentlichkeitsarbeit und die Peer- und Angehörigenberatung etwas von der „Betroffenencommunity“ und der „Helfer*innen-Szene“ mit. Wir sehen Ausschnitte von dem, was an Selbstvertretung und Aktivismus passiert, auf Instagram (andere social media-Kanäle nutzen wir nicht), in Blogs, Podcasts oder anderen Publikationen. Und uns fällt auf, dass wir uns immer weniger, d.h. fast gar nicht mehr „dazugehörig“ oder „gemeint“ fühlen.
Wir haben einerseits den Eindruck, dass Vieles einfach vermischt wird und Unterschiede keine Rolle mehr spielen: Anteile, Ego States, DIS- egal, alles das Gleiche? Ein spannendes Thema, um sich in seiner Individualität und mit unterschiedlichen Seiten zu zeigen- DIS als „Followercatcher“ im Insta-Profil? DIS als Erklärung oder Legitimation für das eigene Sein- fast wie ein Lifestyle: „Du kannst alles/jede*r sein- feel free!“?
Andererseits sehen wir, dass zum Thema DIS viel „exotisiert“ und „spezifiziert“ wird: Reaktiv oder programmiert, polyfragmentiert, hoch funktional, mit oder ohne Innenwelt, usw.- DIS ist nicht gleich DIS, logisch. Die Ausprägungen, Symptome, Strukturen sind verschieden, bunt, individuell. Die Diagnosekriterien sind jedoch klar definiert.
Wie positioniert sich die „Fachwelt“ heute im Vergleich zu „vor 25 Jahren“? Wir haben nicht die Zeit, Kraft und Finanzen, um uns durch diverse Fachbücher zu arbeiten; außerdem fehlt uns der Zugang zu entsprechenden Fortbildungs- und Tagungsangeboten. Das bedeutet, dass wir kein umfassendes, vollständiges Wissen dazu haben, wie heute in der „Traumatherapie-“ oder generell „Helfer*innen-Szene“ über die DIS gedacht, gesprochen, geforscht und mit ihr gearbeitet wird. Ausschnitte sind uns jedoch bekannt.
Wir sind sehr froh darüber, dass in den letzten Jahrzehnten viel mehr erkannt, verstanden und verändert wurde: Die DIS wurde sowohl per bildgebenden Verfahren belegt, diagnostisch genauer beleuchtet (siehe ICD-11) und insgesamt nicht mehr als „absolut seltenes Phänomen“, sondern als in sich logische und existente Traumafolgestörung gerahmt. Diese Erkenntnis ist bei manchen Institutionen und erst recht bei Behörden leider noch nicht ganz angekommen und wird auch von Gegenströmungen im Sinne eines „backlashs“ negiert, aber ganz grundsätzlich muss/müsste man heute keine Grundsatzdiskussionen mehr führen.
Traumatherapie ist kein Hexenwerk und keine „Nische“. Es gibt Ausbildungs-, Fortbildungs-, Weiterbildungs-, Supervisions-, Vernetzungsangebote und -möglichkeiten. Wenn man ein*e gute*r Traumatherapeut*in werden möchte, kann man sich mit entsprechenden persönlichen, fachlichen und finanziellen Voraussetzungen vor Ort auf den Weg machen und muss dafür nicht in die USA reisen oder das Rad neu erfinden.
Und obwohl (oder gerade weil?) sich so viele Optionen mit den Jahren entwickelt haben, sich Informationen, Wissen und Kontakt zu/mit DIS zu verschaffen, sind wir mit Vielem, was uns medial begegnet, nicht glücklich. Wir haben den Eindruck, dass es einen „blind spot“ gibt, quasi ein „no-go“ in der Betroffenencommunity: Die Frage danach, wie eigentlich Selbstvertretung stattfindet und wie „wir“ uns öffentlich zeigen und positionieren. Wie prägen „wir“ das „Bild“ über DIS? Welche Behauptungen, Thesen, Haltungen tragen „wir“ in die Welt? Wo und wie tragen wir zu Stigmatisierung, Exklusion und letztlich auch Isolation bei?
Ein Aspekt, der uns beispielsweise beschäftigt, ist die Aufteilung der DIS in eine „reaktive“ oder „programmierte/von Täter*innen gemachte“ Form. Wir wissen nicht, wer diese Unterscheidung eigentlich etabliert hat und wie sie in der „Fachwelt“ diskutiert wird. An einigen Stellen wird sie jedoch immer wieder aufgegriffen und ausgestaltet, im Sinne einer Aufklärung beschrieben und beleuchtet. Unsere Frage dazu ist: Welchen Sinn macht das und wofür ist das gut?
Unsere eigenen Gedanken sind: Warum eine DIS ensteht, ist individuell verschieden. Frühe, langjährige Gewalt spielt immer eine Rolle, „niemand hat geholfen“ ebenfalls. Strukturelle Dissoziation braucht bestimmte Voraussetzungen, um sich entwickeln zu können- und unserem Verständnis nach ist sie immer ein reaktiver Vorgang auf äußere Gegebenheiten. Eine DIS ist eine traumaassoziierte Anpassungsleistung des Gehirns, sie findet also immer „im eigenen Kopf“ statt und nicht außerhalb.
Dass Täter*innen in organisierten Gewaltkontexten den menschlichen Automatismus der Dissoziation nutzen, um ein Kind nach eigenen Vorstellungen zu prägen, trainieren, „gefügig zu machen“, ist unstrittig. Wenn man vorhat, Kinder langfristig in einer Gruppierung auszubeuten, von ihnen zu profitieren und dabei sicher zu sein, dass man damit nicht auffliegt, dann bietet es sich an, Wissen und Fähigkeiten im Bereich von sogenannter „mind control“ zu haben und anzuwenden. Nicht jede Täter*innengruppe, die kommerziell sexualisierte Gewalt ausübt, „trainiert“ ihre Opfer gleich intensiv. Nicht jedes Kind, das in solchen Strukturen aufwächst, wird in Sachen DIS gleich fokussiert „bearbeitet“. Manchmal reicht es Täter*innen einfach auch, wenn Opfer schlicht und unkompliziert situativ angepasst funktionieren: Dazu braucht es unserer Ansicht nach nicht zwingend eine riesige Anzahl hochkomplex durchprogrammierter Innenpersonen.
Eine Situation erfordert eine Orientierung und Anpassung. Eine Aufgabe erfordert eine Lösung. Ein Trauma erfordert einen Überlebensmechanismus („Fight-Flight-Freeze-Fawn-Fragment“). Alles, was dazu in einem Menschen stattfindet, ist reaktiv. Jede Spaltung, jede neue Innenperson- auch jene, die von Täter*innen bewusst forciert, gewollt, gestaltet, per „mind control“ initiiert ist- ist ein reaktiver Vorgang. Auch jede etablierte Konditionierung und Programmierung ist ein reaktiver, d.h. angepasster Effekt im Gehirn der/des Betroffene*n und somit letztlich „selbst gemacht“.
Uns ist klar, dass diese Sichtweise die Gemüter vor allem auf Betroffenenseite erhitzen kann. Wir möchten betonen: „Selbst gemacht“ meint nicht „selbst Schuld“! Und „selbst gemacht“ bedeutet auch nicht „Dann löse es doch einfach wieder auf!“ Diese langjährige, traumatische und somit auch neuronale Prägung hinterlässt schwerwiegende Folgen auf allen Ebenen- wir wissen, wovon wir sprechen und wie hart die Arbeit an Veränderung ist. Wir wissen zudem aus eigener Erfahrung, dass sich manches nicht verändern und erst recht nicht heilen lässt.
Die Unterscheidung in „reaktive“ und „gemachte/programmierte“ Systeme trägt unserer Ansicht nach nicht dazu bei, dass alle irgendwie besser verstanden, anerkannt, gesehen, bedacht oder unterstützt werden. Wir erleben es so, dass dadurch zum Einen eine „Hierarchie des Schreckens“ gefördert wird und zum Anderen vermittelt wird, dass „gemachte/programmierte“ Systeme eine besondere, andere, umfangreichere, herausfordernde, „spezielle“ Psychotherapie benötigen- die quasi im Grunde niemand zu leisten vermag, weil sich ja niemand mit dieser „hohen Komplexität“ auskennt oder fachlich wirklich geeignet ist. Es kann also nur schiefgehen. Die täter*innensuggerierte Ausweglosigkeit wird weiter gefüttert, es bleibt bei einer kollektiven Erstarrung und Lähmung, sowohl im inneren als auch im äußeren System und alle Beteiligten fühlen sich handlungsunfähig. Die Einzigen, die davon unbeeindruckt weiter aktiv sind, sind die Täter*innen.
Langjährig verschiedenen Methoden von „mind control“ ausgesetzt zu sein, bedeutet, massiv körperlich und psychisch Gewalt zu erleben. Ein Kind, das in seiner direkten Umgebung so gefoltert wird, hat keine Chance auf eine gesunde Identitätsentwicklung und eine innere Abspaltung findet zwangsläufig statt- und das tut sie auch, wenn „mind control“ keine Rolle spielt. Frühe, massive Gewalt- eine Grundvoraussetzung zur Ausbildung einer strukturellen Dissoziation im kindlichen System und Teil ganz logischer, posttraumatischer Symptomatik.
Wir denken, dass es bei der Behandlung und Begleitung komplextraumatisierter Menschen darauf ankommt, dass Helfer*innen Fachwissen und menschliche Eignung mitbringen. Zu Fachwissen gehört für uns maßgeblich auch das Wissen um/über verschiedene Formen von Gewalt. Wozu Menschen fähig sind, im Innern und im Außen- sich damit zu befassen erfordert eine Fähigkeit, sich Dinge vorstellen und für möglich halten zu können. Die Bereitschaft, das eigene Weltbild zu hinterfragen und sich zu reflektieren. Wenn ich nicht weiß oder wissen will, welche Ursachen einer DIS zugrunde liegen können, kann ich nicht (professionell) unterstützen.
Auch das Wissen über „mind control“-Methoden gehört für uns zur fachlichen Qualifizierung dazu. Ich muss mir nicht bildlich ausmalen, welche Qualen konkret ausgeführt werden- aber ich muss verstanden haben, welchen Effekt diese Gewalt auf das Kind/den Menschen hatte und heute noch hat. Was ist von Täter*innen getan worden um was zu erreichen (Reiz-Reaktion)- und was bedeutet das heute für den/die Überlebende*n? Diese Frage wirklich in die therapeutische Arbeit mit einzubeziehen, empfinden wir als wesentlich wichtig, wenn es nicht nur um „Dauerstabilisierung an der Oberfläche“ gehen soll, sondern um gesamtsystemische, traumaintegrative Prozesse mit langfristigen, lebensverbessernden/-erleichternden Veränderungen.
Zurück zum Ausgangsthema: Mit all diesen Gedanken und Erfahrungen fühlen wir uns allein, obwohl es eine große „Betroffenencommunity“ im Internet gibt, die nur einen Klick entfernt ist. Eine Community, die sich für uns so fremd geworden anfühlt- und einer „Helfer*innenszene“, bei der wir auch als Peer- und Angehörigenberater*innen außen vor bleiben. Bei den Einen kommen wir uns zu wenig oder zu anders betroffen vor, um Teil von ihnen zu sein, bei den Anderen zu viel. Das macht uns auch traurig- gleichzeitig sind wir aber auch wütend: Wir wollen gar nicht dazugehören, wenn das Bild einer DIS auf social media „so“ aussieht, oder wenn Fachleute „solche“ Ideen dazu haben, oder wenn Medienberichte „so“ formuliert werden, usw.
Die Frage ist, wo „wir“ hinwollen.
Gute und vor allen Dingen Gedanken die mir auch immer wieder durch den Kopf gehen.
Im Kollegenkreis und im Betroffenenbereich erlebe ich fast immer, dass es nicht gut, nicht angepasst, ausgrenzend, ankommt, wenn Dinge, Handlungen so benannt werden wie sie stattgefunden haben. Ich erlebe z.B immer wieder das auch Menschen die in extremen dissozialen Familien großgeworden sind, sich zusammentun in Selbsthilfegruppen um dann möglichst schonend, möglichst nicht klar benennend „Heilung“ zu erreichen. Selbstverständlich ist es auch nicht hilfreich immer wieder Erlebnisse duchzukauen und dadurch findet auch keine Verarbeitung statt. Aber einen Mut, eine Bereitschaft zum Anschauen sollte bei Helfer und dann auch bei Betroffenen vorhanden sein. Aber wie kann denn der/die Betroffenen offen dafür sein, wenn das schon für die Helfer zu unangenehm, zu belastend ist.
Danke für die Rückmeldung, Udo.
Liebe Paula,
wir teilen so manche eurer hier geschilderten Gedanken und Erfahrungen.
Wir finden uns in vielen in den Medien und auf online Kanälen dargestellten „Ausprägungen“ einer DIS nicht wieder. Bei uns war vieles einfach immer schon anders.
Anders sein, sich nicht zugehörig fühlen, ist bzw. war für uns ein Thema, das uns begleitet, solange wir denken können.
Das ist/war manchmal schwer, manchmal traurig, manchmal aber auch „gut so“.
Es gehört zu uns und das ist (meistens) okay.
Liebe Grüße
Sanne
Danke, dass Ihr von Euch schreibt. Sich „anders“ zu fühlen hat viele Seiten – gut, dass Ihr damit (meistens) okay seid. Liebe Grüße von uns
Hallo Paula, ich wollte nur sagen, mir geht es ähnlich. Ich bewege mich aber auch kaum in diesen Räumen, bin nicht vernetzt, manchmal stolpere ich aber über Youtube o.ä. und staune. Mir tut es dann oft nicht gut, weil ich mich anders fühle und auch anders lebe. Aber mit dem Wissen, dass das mein eigener Weg ist, dem ich auch niemanden überstülpen möchte. Ich möchte nicht bewerten und sehe auch keinen Umgang als richtig oder falsch. Ich glaube am Ende ist sowieso jeder für sich selber verantwortlich und muss seinen ganz eigenen Weg finden, ich kann nur meinen eigenen suchen. Es gibt keine Patentlösung. Egal wie die Diagnose am Ende heißt.
Am Ende sind wir alle Menschen.
Euer Blog ist der Einzige, in den ich ab und zu reinschaue. Danke, dass ihr das so formuliert habt.