Ich denke wieder darüber nach, wie wichtig es ist, dass Menschen, die mit einem Viele-System enger in Verbindung stehen, wirklich begreifen, dass ein Innenkind bei DIS nicht dasselbe ist wie ein sogenanntes „inneres Kind“.
Wie tiefgreifend verletzend und erschütternd sind die Momente, in denen diese Innenkinder damit konfrontiert werden, dass ihr Gegenüber sie als „Erwachsene, die denken, sie seien Kinder“ (oder schlimmer noch: „Erwachsene, die sich wie Kinder verhalten“) einsortiert und entsprechend behandelt.
Diese Persönlichkeiten sind und reagieren an verschiedenen Stellen anders, als „Außenkinder“, sie haben einen anderen Erlebens- und Entwicklungshintergrund, schöpfen auch aus einem gesamtsystemischen „Wissens- und Erfahrungspool“. Oftmals wirken sie erwachsener als biologische Fünf-, Sechs-, Siebenjährige, sind reflektierter, tragen/übernehmen mehr Verantwortung im Leben, als es Außenkinder tun.
Trotzdem darf nicht vergessen werden, dass sie sowohl emotional, als auch kognitiv grundsätzlich ja altersgemäß strukturiert sind- und dass es für das Gesamtsystem sehr heilsam sein kann, wenn dies auch zugelassen und ernstgenommen werden darf. Innenkinder, die lernen zu spielen, Quatsch zu machen, albern und laut zu sein, Wünsche zu äußern, unvernünftig zu sein, Beziehungen mit liebevollen Außenpersonen zu entwickeln, u.a. können einen unbeschreiblich wertvollen Schatz darstellen, den man auf dem Trauma“heilungs“weg finden kann.
Die Theorie, dass jeder Mensch ein sogenanntes „inneres Kind“ hat, trifft meiner Ansicht nach auch auf Menschen mit dissoziativer Identität zu: Die Persönlichkeiten können mehr oder weniger Zugang haben zu ihren jeweils eigenen kindlichen Wünschen, Ängsten, Bedürfnissen, Gefühlen. Und sie erleben dies als zu sich selbst gehörig, sozusagen „myself in mini“. Innenkinder hingegen werden als eigenständige Persönlichkeiten wahrgenommen, als eigene Charaktere, unabhängig von der „großen Person XY“. Und es kann weitaus massivere Blockaden bei der Kontaktaufnahme, Fürsorge, Verbindung geben, als wenn man sich seinen eigenen kindlichen Bedürfnissen zuwenden würde.
Damit Innenkinder nachreifen, wachsen, altern oder vor allem Traumata verarbeiten können, brauchen sie nach unserer Erfahrung vor allem positive Bindungserfahrungen. Natürlich ist es langfristig wichtig, dass diese im Innern hergestellt und gehalten werden können (die Erwachsenen kümmern sich zuverlässig um die Kinder). So etwas kann aber nicht spontan aus dem Ärmel geschüttelt werden, denn auch die „Großen“ im System müssen noch „nachlernen“. Woher sollen sie wissen, wie solche Bindungen gehen, wenn sie ziemlich haltlos in einer gewaltvollen Umgebung aufgewachsen sind? Deshalb sind Kontakte lebensnotwendig, in denen gespiegelt werden kann: Wie sieht Fürsorge aus? Wie ist das, wenn jemand zuverlässig und ehrlich an unserer Seite ist und bleibt? Wie hört man aufmerksam zu? Wie zeigt man Herzlichkeit? Wie geht Kommunikation mit einem Kind? etc.
Wenn es ein Gegenüber gibt, das bereit ist, eine Beziehung zu einem Innenkind aufzubauen und dieses als solches auch bedingungslos ernst und wichtig zu nehmen, können auch erwachsene Innenpersonen von diesem Positivbeispiel sehr profitieren. Manches kann nicht ohne Außenunterstützung entwickelt werden.
Es lohnt sich, sich für neue, gute Verbindungen im Innern und im Außen einzusetzen. Häufig haben Innenkinder sehr wertvolle Ideen, Anregungen, Fragen dazu, wie das gelingen kann- und ein bemerkenswertes Bauchgefühl dazu, wer vertrauenswürdig ist und wer nicht.
Innenkinder sind und fühlen verschieden. Sowohl innerhalb eines Vielesystems, als auch ganz generell im Konzept der Dissoziativen Identitätsstruktur. Es ist wichtig, individuell zu schauen, wer wie “ist“ und wer was braucht, statt von einem auf’s andere zu schließen. Manche Innenkinder wollen oder dürfen aus guten Gründen nicht in direkten Kontakt mit Außenmenschen gehen – das muss nicht immer etwas Gewaltvolles, Verbietendes sein, sondern kann auch Ausdruck einer Selbstfürsorge und einer Sicherung im Innen sein. In diesem Fall wäre es nicht hilfreich, wenn Außenpersonen immer wieder versuchen würden, diese Grenze zu überschreiten, in der Annahme, sie täten jenen Innenkindern und dem Gesamtsystem etwas Gutes.
Im Kontakt mit einem Viele-Menschen selbst eine gute, eigenverantwortliche Beziehung zum eigenen “inneren Kind“ zu haben, ist wichtig und unterstützend. Leicht kann eine destruktive Dynamik entstehen, bei der z.B. kindliche (oder auch ältere) Persönlichkeiten des DIS-Systems auf (unterdrückte, negierte) kindliche Bedürfnisse eines “Unos“ (Mensch ohne DIS) reagieren und in einen “Versorgungsautomatismus“ geraten. Hieraus können Verantwortungsverschiebungen entstehen, die beiden Seiten nicht gut tun. Und auch hier ist es wieder (besonders) wichtig, ein Bewusstsein dafür zu haben, dass wir eben nicht alle ein bisschen “Viele“ sind, sondern die Dissoziative Identitätsstruktur sich klar von einem “Anteilekonzept“ bei nicht traumatisierten Menschen unterscheidet.
Dankeschön fürs aufgeschrieben haben und teilen …mit blauen🐘Grüßen
Jetzt bin ich neugierig, was dieser Versorgungsautomatismus ist, den ihr im letzten Absatz anreißt…das haben wir nämlich noch nicht verstanden. Vielleicht Stoff für einen weiteren Post? Wäre spannend!
Mögt Ihr konkret fragen? Was habt Ihr nicht verstanden?
Hmm. Wer versorgt wen? Was ist daran schädlich? Wie sollte es eigentlich laufen? Ich glaube, ein konkretes Beispiel wäre auch hilfreich.
Wenn ein Gegenüber seine eigenen kindlichen Seiten leugnet oder verdrängt, die darin enthaltenen Bedürfnisse aber ausagiert und sich darin nicht reflektiert – das können schwierige Beziehungskonstellationen werden, meinen wir. Es kann dazu führen, dass z.B. bei Innenkindern (aber auch älteren Innenpersonen) in einem DIS-System ankommt, sich kümmern zu müssen, besonders unkompliziert und lieb sein zu müssen, dem Gegenüber Dinge (und Verantwortung) abnehmen zu müssen, etc. Vor allem dann, wenn sie früher auch schon Versorgungsaufgaben hatten. Und wir sehen auch die Gefahr von “toxischen Beziehungen“. Überall dort, wo Eigenes unbewusst und/oder unreflektiert stattfindet, gibt’s ein Risiko von destruktiven Dynamiken – und manchmal können die auch gewollt und inszeniert sein, z.B. um sich nicht selbst um sich kümmern zu müssen.
Ist das für Euch verständlicher?
Ja, ich glaube schon! Das ist viel konkreter, danke. Wir müssen es uns noch eine Weile durch den Kopf gehen lassen, irgendwie dauert das gerade, aber ich glaube, mit der Beschreibung können wir bei Verständnis ankommen.
Prima.