Sie stehen zusammen im Schnee und irgendwo zünden die ersten Raketen. Es ist das diffuse Rauschen in ihren Ohren, das sie zuerst bemerkt, nicht der süßliche Alkoholgeruch in seinem Atem. Er hält sie fest im Arm und sagt mit leicht verwaschener Stimme: „Du musst mir nur sagen, wenn ich was falsch gemacht haben. Du weißt doch, mit mir kann man immer reden. Ich muss das nur wissen- ich kann das ja nicht riechen, wenn da was schief gelaufen ist.“ Dann streichelt er ihr über den Rücken und drückt ihr ein Küsschen auf die Wange. Sie lächelt ihn an und sagt: „Ja, klar.“ Das Rauschen lässt dichte Wolken in ihrem Kopf entstehen, während die kleine Schwester sich zwischen sie und den gefühlsduseligen Vater drängt und „Frohes neues Jahr!“ trällert. „Es ist alles gut!“, denkt sie, schluckt seltsamen Tränen hinunter, knuddelt die kleine Schwester und freut sich, wieder zu Hause zu sein.
Ein Jahr zuvor hatte sie Silvester noch mit ihren Mitbewohner*innen aus der Heimgruppe gefeiert. Es war wild, laut, chaotisch und ziemlich schön, das weiß sie noch. Was sie genau gemacht hatten, erinnert sie inzwischen nicht mehr. Und warum sie überhaupt dort war, verschwindet im wiederkehrenden Kopfrauschen. Es war ein Fehler, in diesem Heim überhaupt gelandet zu sein, denkt sie. Ihr Fehler. Sie hätte die Klappe halten sollen, damals in der Erziehungsberatungsstelle und beim Jugendamt. Sie hätte niemals weggehen und die kleine Schwester zu Hause lassen dürfen. Niemand hatte sich darum gekümmert, die Kleine auch irgendwo anders unterzubringen. Und dann gab es irgendwann eine Wiederannäherung, eine Kontaktanbahnung, Wochenendurlaube in der Familie und die Entscheidung, doch wieder nach Hause zurückzukehren. Vom Jugendamt abgesegnet, weil sie gesagt hatte, dass sie ihre Geschichten nur übertrieben habe, um Aufmerksamkeit zu bekommen und es in Wahrheit gar nicht so schlimm gewesen sei.
Wofür es sich lohnt, für eine Lügnerin gehalten zu werden, die Behauptungen über familiäre Schrecklichkeiten aufgestellt und dann wieder zurückgenommen hatte, spürt sie, als ein Schneeball ihren Nacken trifft. Der Kältereiz vertreibt das Kopfrauschen und sie schnappt nach Luft. Dann dreht sie sich um, sieht ihre lachende kleine Schwester und ruft „Na warte!“. Es entsteht eine Bewegung, eine Toberei, ein Raufen und Kichern und das, was war, ist egaler, als sie es sich je hätte vorstellen können. Sie ist froh, dass sie hier sein darf. Dass sie dabei sein darf.
Am Rand stehen die Eltern. Die Mutter hält ein Glas Sekt in der Hand und schaut irgendwohin, milde lächelnd und still. Dass es in ihrem Kopf rauscht, als die Hand ihres Ehemannes ihren Nacken umfasst, weiß niemand. Dass sie ihn gar nicht mehr hört, als er ihr zuflüstert, dass sie ihm nur sagen muss, wenn er etwas falsch macht, denn dann würde er sich ja auch entschuldigen, merkt er nicht. Sie ist woanders.
Als er seine Tochter nach einem Jahr aus der Heimgruppe abholte und ihre wenigen Umzugskartons ins Auto packte, war er mit sich im Reinen. Er trug ihr dieses Jahr voller Stress und Krisen nicht nach, denn sie hatte ihm mehrfach mitgeteilt, dass es ihr leid tue, was sie über ihn erzählt hatte. Er war bereit, ihr zu vergeben und er wusste, dass all dieses Chaos ein Teil einer pubertären Entwicklungsstörung gewesen war. Auch er hatte natürlich seine Macken- das ist ja menschlich. Er war bereit, sich Vorwürfe anzuhören und darüber nachzudenken- es war sogar okay für ihn, um Entschuldigung zu bitten, wenn das dazu beitragen konnte, in seiner Familie wieder Ordnung herzustellen. Aber alles hatte seine Grenzen: „Zu Kreuze kriechen“ würde er niemals, das hatte er auch beim Jugendamt betont, als diese unsäglichen Behauptungen über ihn noch im Raum standen. Und dann hatte die Tochter ja auch das einzig Richtige getan: Sie hatte gestanden, gelogen zu haben. Sie stellte seinen Ruf wieder her. Damit sie wieder mit offenen Armen in der Familie empfangen werden konnte.
„Ich bin ein guter Mensch“, denkt er, während er „seine Mädchen“ beobachtet. Die Kleine sitzt im Schnee, die Große hockt davor und die Andere hält er mit einem Arm fest umschlungen, damit sie nicht umkippt. „Das wird ein gutes, neues Jahr“, sagt er zu sich selbst. „Alle wieder vereint.“
Im Hintergrund bewegen sich Augen aufmerksam über die Szenerie. Jemand erkennt die Gefahr, die über allem schwebt und ahnt, was der Vater denkt und will. Jemand bemerkt die typische, innere Abwesenheit der Mutter und den Verdrängungsmechanismus in der vermeintlichen Unbeschwertheit der Schwester. Als eine Rakete eine blaue Sternenexplosion erzeugt, erhebt sich jemand aus der Hocke nach oben, richtet seinen Blick auf den Vater und fixiert ihn. Einen Moment lang hält sich dieser Augenkontakt, dann löst der Vater plötzlich seine Hand aus dem Nacken seiner Ehefrau und schiebt sie in seine eigene Jackentasche. Seine Füße machen zwei kleine Schrittbewegungen, seine Schultern ziehen sich leicht nach oben. Sein Adamsapfel hebt sich, als er schluckt. Jemand bleibt ruhig stehen und der Vater entdeckt die Mikroexpression um seinen Mund herum, die man „smirking“ nennt, nicht. Ihm ist nicht klar, von wem er gerade beobachtet wird.
„Das wird ein besonderes neues Jahr“, denkt jemand und lässt zu, dass sich der Blick wieder vom Vater abwenden kann.
Sie sind nicht nur wegen der Schwester wieder nach Hause zurückgekehrt.